Donnerstag, 10. Dezember 2015

Lebensendgespräche


Gespräche mit Schriftstellern, die Bilanz ziehen: Bald ist ihr Leben zu Ende - was zählt jetzt noch? Was war wichtig, was nicht? Iris Radisch hat mit ihrem Interesse für den Menschen in den Interviews einen Raum geschaffen, der Offenheit möglich macht. Und so streiten Martin Walser und Günter Grass mit ihr; gesteht Ilse Aichinger, dass der Krieg ihre schönste Zeit war, weil man damals noch wusste, wer Freund und wer Feind ist, und für Patrick Modiano, Amoz Oz und George Steiner sind die längst gestorbenen Eltern noch immer auf geradezu erschütternde Weise wichtig.


Ein schönes und wichtiges Buch. Hier der Link zu meiner Rezension in SWR 2.

Montag, 16. November 2015

Thich Nhât Hanh: Promise me. Versprich mir.


Promise me, promise me this day,
promise me now, while the sun is overhead
exactly at the zenith,
promise me.

Even as they strike you down
with a mountain of hatred and violence;
even as they step on you and crush you like a worm,
even as they dismember and disembowel you,
remember, brother,
remember:
man is not our enemy.

The only thing worthy of you is compassion -
invincible, limitless, unconditional.
Hatred will never let you face
the beast in man.

One day, when you face this beast alone,
with your courage intact, your eyes kind, untroubled
(even as no one sees them),
out of your smile 
will bloom a flower.
 And those who love you
will behold you
across ten thousand worlds of birth and dying.

Alone again,
I will go on with bent head,
knowing that love has become eternal.
On the long, rough road,
the sun and the moon
will continue to shine.

Thich Nhât Hanh

(Written in 1965 in Vietnam for the young members of the School of Social Service who risked their lives in the war every day) 

****

Versprich mir, versprich mir heute,
versprich mir jetzt, während die Sonne über dir steht,
genau im Zenith,
versprich mir:

Selbst wenn sie dich niederschmettern
mit einem Berg von Hass und Gewalt,
selbst wenn sie dich zertreten wie einen Wurm,
selbst wenn sie dich zerstümmeln und ausweiden,
vergiss nicht, Bruder, vergiss nicht:
Der Mensch ist nicht unser Feind.

Einzig das Mitgefühl ist deiner würdig -
unbesiegbares, grenzenloses, unbedingtes Mitgefühl.
Hass wird dir niemals helfen, 
der Bestie im Menschen gegenüberzutreten.

Eines Tages, wenn du der Bestie begegnest, allein,
mit all deinem Mut, deinen freundlichen, ungetrübten Augen 
(selbst wenn niemand sie sieht),
wird aus deinem Lächeln eine Blume erblühen.
Und jene, die dich lieben, werden auf dich blicken,
über zehntausend Welten von Geburt und Tod hinweg.

Ich werde weitergehen mit gesenktem Kopf, wieder allein,
und wissen, die Liebe ist unsterblich geworden.
Auf dem langen, steinigen Weg
werden Sonne und Mond immer scheinen.

Thich Nhât Hanh

 

Sonntag, 8. November 2015

Das Herz gegen die Feder der Wahrheit aufwiegen


"Im Ägyptischen Totenbuch heißt es, dass nach dem Tod das Herz gegen die Feder der Wahrheit aufgewogen wird. Und nur ein Herz, das ebenso federleicht ist, zeigt an, dass der Tote ein rechtes Leben geführt hat. Was aber ist ein 'rechtes Leben'?

Vor vielen Jahren kaufte ich in der Gärtnerei eine Hortensie. Ich wollte gern eine blaue haben, aber man sagte mir, es gebe in der Natur keine blauen Hortensien; die blaue Farbe entstünde durch Zugabe eines Aluminiumdüngers. Ich kaufte eine rote Hortensie und den Aluminiumdünger und habe jedes Jahr blaue Hortensien. Im Herbst aber, wenn die Blüten absterben, verwandeln sie sich zurück in ihr ursprüngliches Rot.

Ein Freund fragte mich einmal, wie ich gerne sterben würde. Ich sagte: Ich möchte sterben als die, die ich wirklich bin. Ich wünsche mir, dass sich in den letzten Monaten, Wochen oder Stunden alles Künstliche, Aufgesetzte, Falsche, das ich noch mit mir herumtrage, einfach auflöst. Jede Schwermut, aber auch jede Hoffnung; jeder Wunsch danach, beliebter oder schöner oder erfolgreicher zu sein, jedes Bedauern über Versäumtes, jede Sehnsucht, jede Angst. Dann, stelle ich mir vor, wäre mein Herz schwerelos und federleicht.

Vielleicht ist die Angst vor dem Tod im Grunde die Angst davor, sterben zu müssen, ohne unsere ganz eigene Farbe gefunden zu haben."

(Aus: Margrit Irgang "Die Kostbarkeit des Augenblicks. Was der Tod für das Leben lehrt", Kreuz Verlag, ISBN 9783-451613036)

Freitag, 23. Oktober 2015

Morgen ist "Tag der Bibliotheken"


Das Kind, das ich war, lebte in Büchern. Seine Romanfreunde erlebten aufregende Abenteuer, besaßen sprechende Papageien und kluge Hunde, konnten mit einer Hand ein Pferd in die Luft stemmen und hatten für die Welt der Erwachsenen nicht mehr übrig als milde Nachsicht. Das Kind konnte da nur zustimmen: Verglichen mit der Welt der Bücher war alles, was es täglich so erlebte, langweilig. Also musste ständig neuer Nachschub an Büchern herangeschafft werden, und die einzig vernünftige Möglichkeit, den Lesehunger zu stillen, war die örtliche Stadtbücherei.

Nun kostete leider das Ausleihen 10 Pfennig pro Buch, und das war viel Geld. Nach langem Betteln wurden dem Kind 20 Pfennig pro Woche gewährt, das waren gerade mal zwei Bücher. Das Kind brauchte aber PRO TAG EIN BUCH! Es begann, die Bücher von ihrem Umfang her zu beurteilen. Dünne kamen nicht mehr in Frage, ausgeliehen wurde erst ab 3 cm Rückenbreite. Ein weiteres Problem war der Leiter der Stadtbücherei, der, da bin ich mir ganz sicher, einen grauen Kittel trug. Ärmelschoner? Kann schon sein. Grau war er jedenfalls, und unerbittlich. Jedes Buch wurde vor dem Ausleihen streng auf Tauglichkeit für die Leserin geprüft. "Nein, das ist nichts für dich", beschied er immer öfter und stellte das ausgewählte Buch eigenhändig zurück.

Schwierig wurde es ab vierzehn. Die Kinderbücher wurden mir langweilig (und waren im Prinzip auch alle schon von mir gelesen), die Erwachsenenbücher waren vom Grauen verboten. Ich befand mich als Leserin in jeder Hinsicht in einer Grauzone. Bücherlos. Erlebnislos. Als ich etwa sechzehn war, wurden mir von meinem inzwischen zum Feind mutierten Stadtbüchereileiter ein paar milde, gemäßigte, also pottlangweilige Erwachsenenbücher gewährt. Lese-Schonkost sozusagen. Es war Zeit, mit Nachhilfestunden Geld zu verdienen. Ich tat es und wurde Kundin in der einzigen Buchhandlung der Stadt, in der ich mit klopfendem Herzen und sehr schlechtem Gewissen Bücher von Camus, Nabokov und Hemingway kaufte, die verbotene Lektüre.

Als Erwachsene habe ich in jeder Stadt, in die ich zog, sofort die Büchereien erkundet. Noch heute besitze ich mehrere Bibliotheksausweise, obwohl ich Rezensionen schreibe und mit Neuerscheinungen gut versorgt bin. Ich liebe die Stille in den Bibliotheken, die gedämpften Gespräche, das Geraschel umgeblätterter Seiten und die überwältigende Auswahl, aus der ich mich jetzt ungeniert bediene. Niemand kann mir mehr das Lesen eines Buches verbieten! Und ich brauche keinen Cent dafür zu zahlen.

Ich liebe Bibliotheken. Möge es sie noch lange, lange geben.

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Rumi: The Guest House. Das Gästehaus.


This being human is a guest house.
Every morning a new arrival.
A joy, a depression, a meanness,
some momentary awareness comes
as an unexpected visitor.

Welcome and entertain them all!
Even if they're a crowd of sorrows,
who violently sweep your house
empty of its furniture,
still treat each guest honorably.
He may be clearing you out
for some new delight.

The dark thought, the shame, the malice,
meet them at the door laughing,
and invite them in.

Be grateful for whoever comes,
because each has been sent
as a guide from beyond.

(Translation: Coleman Barks) 

***
Der Mensch ist ein Gästehaus.
Jeden Morgen eine neue Ankunft.
Eine Freude, eine Depression, eine Gemeinheit,
ein Moment der Bewusstheit: Sie 
kommen als unerwartete Besucher.

Heiße sie alle willkommen und bewirte sie.
Selbst wenn sie eine Bande Kummer sind,
die durch dein Haus fegt und die Möbel hinauswirft:
Erweise jedem Gast die Ehre.
Vielleicht räumt er dich leer
für neue Freuden.

Der düstere Gedanke, die Scham, die Bosheit:
Begrüße sie lachend an der Tür
und bitte sie herein.

Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn jeder ist dir geschickt als ein Führer
von der anderen Welt.

(Übersetzung: Margrit Irgang)

Freitag, 9. Oktober 2015

Leben als Gleitschirmflug

Quelle: en.wikipedia.org

"Hier haben wir Drei gestanden und ins Tal geblickt. Zwei Amerikaner auf Hochzeitsreise und die Schwester, die sich nach zwölf Jahren in München und Rom in die Berge zurückgezogen hatte. Hier hat Catherine ausgerufen, dies sei das Schönste, was sie je gesehen habe, definitely the highlight of our trip.

Es ist einer dieser klaren Frühlingstage in den Bergen, an denen die Schweizer Gipfel mit ihren Schneemützen ganz nahe heranrücken und die Illusion vermitteln, sie würden sich quasi um die Ecke befinden, nur eine Fünfminutenfahrt mit dem Wagen entfernt. Ich sitze auf demselben Stein, auf dem ich damals saß, als das auf ein volles langes Leben angelegte Glück dieser beiden Menschen zum Greifen nahe war, so trügerisch nahe wie die Schweizer Berge, und doch war es ein Glück, das man sehen und fühlen konnte. Nur Packen und Festhalten konnte man es eben nicht. Bis dass der Tod euch scheidet, hatte der Priester in der Trauzeremonie gesagt, aber wer denkt an den Tod, wenn er vor dem Altar steht, sie im weißen Kleid mit Schleppe, er im Smoking mit weißer Fliege.

Noch ist die Wiese winterfahl, die Kühe sind noch nicht auf der Alm, aber der Tag ist warm und leuchtet. Ich packe mein Picknick aus. Vom Nachbargipfel löst sich ein Gleitschirmflieger und surft auf einer Welle aus Luft, die ich nicht wahrnehme, die er aber finden muss, um nicht abzustürzen. Schwerelos schwebt er über dem Tal, er wird von dort oben einen herrlichen Rundblick haben, bis in die Schluchten zwischen die Schweizer Schneegipfel hinein. Welch Triumph über die Schwerkraft und welche Anmut, denke ich, und beides ist so gefährdet, denn der da oben reitet praktisch auf dem Nichts, dem großen unsichtbaren ungreifbaren Nichts.

Noch sind wir Drei nicht abgestürzt, Ted, Catherine und ich. Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, auf der Luft zu reiten, und Ted und Catherine sind gerade dabei, es zu lernen: Leben als Gleitschirmflug. Sie kennen schon das atemnehmende Glück, das der Flug schenkt, wenn er gelingt. Allmählich wird ihnen klar, wie gefährdet dieser Flug schon immer war. Vielleicht wird es eine sanfte Landung für sie geben, vielleicht auch nicht.

Ich weiß, warum ich an diesen Platz zurückgekehrt bin.

Hier waren drei Menschen glücklich, und Glück vergeht nicht. Es ist aufgehoben in unserer Erinnerung. Da es, wie das Zen sagt, nur diesen Augenblick gibt, geschieht auch das Erinnern in diesem Augenblick. Und das, woran wir uns erinnern, ist hier und jetzt anwesend: Als Wirklichkeit, die etwas bewirkt.

Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack. Ich werde Fotos machen von diesem Stein, der Weide und den Schweizer Bergen. Wenn ich sie nach Georgia maile, werde ich schreiben: Erinnerst du dich, Ted, dies ist der Platz, an dem du glücklich warst. Der Platz ist immer noch da. Schließ die Augen, dann findest du ihn.

Es hat diesen leuchtenden Nachmittag gegeben, und Ted war hier, ihn zu erleben. Wir müssen uns Erinnerungen schaffen, die Funken sprühen, sagte der Schriftsteller Kurt Tucholsky. Damit wir, sage ich, wenn wir eines fernen Tages zwischen weißen Laken liegen ohne die Möglichkeit, uns daraus wieder zu erheben, den Funken in uns wiederfinden."

(Aus: Margrit Irgang "Die Kostbarkeit des Augenblicks. Was der Tod für das Leben lehrt". Kreuz Verlag. ISBN 978-3-451-61303-4)
 

Montag, 28. September 2015

Sommers Ende

 

Sommers Ende

Und wieder den Sommer nicht bestanden.
Schneller als wir wuchs das Korn.
Zur Feier des Juli starb das Gras
den Himmel lobte die Lerche.
Die Nacht schlug uns mit Duft und Sternen.
Wir schliefen nie. Wir schliefen immer.

Es war die Rose die sich entfaltete
es war die Kapsel des Mohns die brach.
Wieder vor der Wärme geflohen
Schatten aufgestellt
und in der hohen Stille des Mittags
die Ewigkeit unverändert überlebt.

(Margrit Irgang. Aus: "Leuchtende Stille", Verlag Herder)

***

Zomereinde

En weer de zomer niet goed doorgekomen.
Sneller dan wij groeide het graan.
Ter ere van juli stierf het gras.
De leeuwerik loofde de hemel.
De nacht sloeg ons met geur en sterren.
We sliepen nimmer. We sliepen immer.

Het was de roos die zich ontvouwde,
het was de kap van de klaproos die openbrak.
Weer voor de warmte gevlucht,
voor schaduw gezorgd.
En in de hoge stille middag
de eeuwigheid onveranderd overleefd.

(Aus: "Stralende stilte", Asoka, Vertaling: Piet Hermans)
 

Samstag, 19. September 2015

Nun weht er wieder, der Wind (JOIK)


Nun bläst er wieder, der Herbstwind. Was wird er mit sich bringen, oder trägt er etwas davon? Etwas, das wir ihm gern überlassen, lange schon loswerden wollten, oder etwas, das wir so gerne festhalten würden, aber der Wind, der immer schneller und wilder ist, hat es sich schon geholt ...?

Der JOIK ist der traditionelle Gesang der Samen, bei dem sich die Natur äußert in Form der menschlichen Stimme. Der Joik ist immer schon da, er lebt sozusagen in der Natur und äußert sich durch den Sänger, wenn dieser sich ihm öffnet. Deshalb wurde der Joik früher nicht nur von Laien, sondern vor allem von Schamanen gesungen, begleitet von einer Rahmentrommel. Bis ins 20. Jahrhundert war das Joiken als Ausdruck der samischen Religion verboten.

Der schwedische Komponist Jan Sandström, der in Lappland geboren wurde, hat diesen schönen, archaisch und gleichzeitig melodisch klingenden Joik komponiert: Biegga luothe. Beim Joik sind die Worte nicht wichtig, dennoch gibt es in dieser Komposition welche, so seien sie erwähnt:

"Nun bläst der Wind.
Lo, lo, lo, lo ....
Er kommt mit dem heiligen Geist,
ein Gruß Gottes
an das Volk Lapplands
mit seinem Segen. 
 

Samstag, 12. September 2015

Soeben erschienen: "Die Kostbarkeit des Augenblicks"


Ich sehe in der Gesellschaft viel Angst vor dem Tod; ich dagegen habe den Tod schon lange als meinen Meister akzeptiert. Wer einen nahen Menschen oder auch ein Tier verliert oder zu verlieren droht, weiß auf einmal, was wirklich wichtig ist: Dieser Augenblick mit all seiner Schönheit und seinem Schmerz, denn er feiert das Leben, das noch nicht vorbei ist.

Das Buch besteht aus Tagebucheintragungen über das Sterben meines Bruders und aus Reflektionen über die Vergänglichkeit alles Seienden: der Abschied von der Kindheit und von der Jugend, Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung und der Heimat, Trennungen, die Pensionierung. Neugierig habe ich mich in diversen Wissensgebieten getummelt und zum Thema die Religionen ebenso befragt wie die Psychologie, die Mystiker, die Schamanen und die Dichter. Auch Menschen, die mir begegnet sind, haben viel beizutragen, denn Verluste sind universell.

Gerade eben erschienen also:

Die Kostbarkeit des Augenblicks
Was der Tod für das Leben lehrt

Kreuz Verlag, ISBN 978-3-451-61303-6

Natürlich ist es wieder kein "Fachbuch", es ist auch kein "Sachbuch", sondern das Buch einer Dichterin, die ihrer Wahrnehmung und Sprache vertraut.

Samstag, 29. August 2015

Bergstille


Man muss früh auf dem Berg sein, dann ist man allein mit den Schmetterlingen und dem Wind. Allein mit der Stille. Von weither die Glocken der Kühe, sie stören die Stille nicht, im Gegenteil: Sie vertiefen sie. Im Dunst weit hinten Eiger, Mönch und Jungfrau. Nur der Montblanc, den man an klaren Tagen angeblich sehen kann, hat sich eine Nebelkapuze übergezogen.

Ich sitze auf der einzigen Bank. Hinter mir Schritte, ein Mann. Er setzt sich neben mich, es gibt ja nur eine Bank. Zerfurchtes sonnengeledertes Gesicht, Socken, die nur noch Fersen, keine Zehen mehr haben. Ein unendlich schmutziger Rucksack. Nun ist für eine, die eine Eremitenseele hat, ein Mann in der Bergstille eine Prüfung. Männer (auch Frauen) beginnen in solchen Momenten gern ein Gespräch. Man hat ja gelernt, da unten in der Zivilisation der Städte, dass man sich nicht einfach stumm neben jemanden auf eine Bank setzen kann. Da muss man ein wenig plaudern, ein kleines Band aus Worten knüpfen, und das mit allerlei Absichten. (Man will höflich/freundlich/interessiert erscheinen, ist neugierig, wünscht sich was, denkt sich was aus.)

Der Mann mit den zehenlosen Socken sitzt neben mir und schweigt. Es ist ein völlig ruhiges Schweigen von einem, der das kann. Ein Schweigen wie dieses muss man lange geübt haben. Es bleibt ganz bei sich, greift nicht unsichtbar mit energetischen Haken nach der anderen da auf der Bank. Es schickt auch keine Gedankenwellen aus. Der Mann schweigt, wie Wildtiere schweigen, die noch mit dem Urgrund der Stille verbunden sind.

Der Wind weht, die Kuhglocken läuten, die Sonne steigt und ist heiß. Irgendwann steht der Mann auf, ergreift seinen Rucksack und geht. Grußlos. Still.

Samstag, 8. August 2015

Weißt du, was du bist? Do you know what you are?



Do you know what you are?
You are a manuscript of a divine letter.
You are a mirror reflecting a noble face.
This universe is not outside of you.
Look inside yourself;
everything that you want,
you are already that.

Rumi

Weißt du, was du bist?
Du bist das Manuskript eines göttlichen Briefes.
Du bist ein Spiegel, der ein edles Gesicht spiegelt.
Dieses Universum ist nicht außerhalb von dir.
Schau in dich hinein:
All das, was du willst,
bist du bereits.

Rumi

Mit dieser Frage verabschiede ich mich für ein paar Tage und ziehe mich in die Stille zurück. Bis bald!

Mittwoch, 5. August 2015

Der achtzehnte Elefant

Foto: Alexander Klink via Wikipedia

"Eines Tages starb ein reicher indischer Kaufmann und hinterließ seinen drei Söhnen siebzehn Elefanten. In seinem Testament bestimmte er, dass der älteste Sohn die Hälfte, der Zweitgeborene ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel davon bekommen sollte. Die Söhne rechneten nächtelang und kamen zu keinem Ergebnis. Da kam ein Minister des Königs, der auf einem Elefanten unterwegs war, durch das Dorf, hörte von dem Problem der Brüder und bot seine Hilfe an 'Nehmt meinen Elefanten dazu', sagte er. 'Und dann teilt die achtzehn Elefanten auf, wie Euch aufgetragen wurde.'

Die Brüder wunderten sich über die Großzügigkeit des Fremden, nahmen das Angebot an und machten sich an die Aufteilung. Der Älteste bekam die Hälfte, also neun. Der Zweitälteste bekam ein Drittel, also sechs, und der Jüngste sein Neuntel, also zwei. Insgesamt waren das siebzehn Elefanten. Die Brüder dankten dem Minister für seine Hilfe, der Minister schwang sich auf seinen Elefanten und ritt davon."

(Aus: Margrit Irgang "Geh, wo kein Pfad ist, und hinterlasse eine Spur. Ermutigung zum Eigensinn". Herder Verlag ISBN 978-3-451-06111-0)

Freitag, 24. Juli 2015

Was tust du, wenn du nicht weißt, was du tun sollst?


"You know what I do when I don't know? I know one thing: I know it's simply not the time to know. So I relax. I don't even try to know. And what you find is you know exactly when you need to know and not one second sooner. That's how it is. And it's not just for me. It's for everybody. The only question is, how much struggling do you do in-between. So sometimes it's just not the moment to know. And that opens you up to a real sensitivity. It's easier for life to get through to you. Because you're listening instead of desperately trying to know."

Adyashanti

"Weißt du, was ich tue, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll? Ich weiß nur eins: Ich weiß, dass es einfach nicht die richtige Zeit ist, um zu wissen. Also entspanne ich mich. Ich versuche nicht einmal, zu wissen. Und dann stellt sich heraus, dass du es in genau dem Moment weißt, in dem du es wissen musst, und nicht eine Sekunde früher. Genau so ist es. Und nicht nur für mich, sondern für jeden. Die Frage ist nur: Wie sehr kämpfst du in der Zeit dazwischen? Also, manchmal ist es einfach nicht an der Zeit, zu wissen. Und das öffnet dich in eine wahre Sensibilität. Es ist leichter für das Leben, zu dir durchzudringen, weil du jetzt lauschst und nicht mehr verzweifelt versuchst, zu wissen."

Adyashanti

Dienstag, 14. Juli 2015

SWR 2: Muße


Heute schon in der Hängematte gelegen? Mit einem Kind Seifenblasen gepustet? Die Katze gestreichelt, dem Hund Stöckchen geworfen? Einen langen Spaziergang gemacht? Ein Gedicht gelesen? Noch mal gelesen? Einen Eiskaffee getrunken, mit zwei Kugeln Vanilleeis? Gestern der Erde dabei zugeschaut, wie sie sich von der Sonne wegdreht, und klar gesehen, dass die Sonne deshalb keineswegs untergeht?

Nein? Dann wird es Zeit, mein Feature zum Thema Muße zu hören, fünfundzwanzig Minuten lang.

Zum Begriff "Muße" weiß der Duden Interessantes zu berichten:

"Die nur deutsche Substantivbildung Muße ist eng verwandt mit dem unter müssen behandelten Verb und gehört mit der Sippe von messen zu der umfangreichen Wortgruppe von 'Mal, Zeitpunkt'. Das Wort bedeutete ursprünglich etwa 'Gelegenheit oder Möglichkeit, etwas tun zu können'."

"Müssen" ist also die große dicke Schwester der kleinen unbeachteten "Muße". Die große Schwester zwingt uns offenbar kollektiv zum Schreiben zahlloser E-Mails in immer kürzeren Zeitabständen, lässt uns so viele Erledigungen, Erlebnisse und Pflichten in unsere Zeit pressen, wie das gerade noch möglich ist. Wussten Sie, dass sich das Aufführungstempo klassischer Musik in den letzten Jahrzehnten enorm beschleunigt hat? Und ich durfte noch vor wenigen Jahren Eineinhalb-Stunden-Sendungen für den SWR machen - eine Länge, die man dem Hörer heute nicht mehr zumuten will.

Über all dies habe ich mich für ein SWR-Feature unterhalten mit dem Soziologen Professor Hartmut Rosa, dem Künstler Alfred Bast und der Journalistin Gerlinde Knaus. Wir kamen zu dem Schluss, dass Muße kein Selbstzweck ist, sondern lebenswichtig: Unsere oft wahllos in unsere kostbare Zeit gestopften Erlebnisse müssen zu Erfahrungen werden, um uns wirklich zu verwandeln - und das erfordert regelmäßige schöpferische Pausen. Ich meine, wir sollten uns wieder auf den Muße-Begriff der Antike besinnen, wo die Muße einen hohen Stellenwert hatte: Erkennen und Einsehen galt damals als Lebensweise. Das können wir übrigens heute von den Künstlern, Dichtern und Philosophen lernen. Was tun diese, wenn sie Inspiration brauchen? Sie legen sich in die Hängematte, pusten Seifenblasen, streicheln die Katze ....


"Muße. Plädoyer für das schöpferische Innehalten". Feature von Margrit Irgang. Hier ist der Link zum Anhören der Sendung in der Mediathek.

Freitag, 10. Juli 2015

Sechs Mönche des Sera Jey Ngari Khangtsen streuen ein Sandmandala


Das Sera Jey Monastery in Karnataka ist eines der ältesten tibetischen Flüchtlingskloster in Südindien. Sechs seiner Mönche streuen seit Anfang dieser Woche im Tibet Kailash Haus in Freiburg ein traditionelles Sandmandala. 

Es ist warm und still. Geshe Lobsang Tashi, Geshe Nawang Zangpo und Ngarampa Thupten Nyima beugen sich über das Podest und schütten das vorgezeichnete Muster mit farbigem Sand auf. Hochkonzentriert und entspannt zugleich. Sie haben keine Eile. Das Kunstwerk wächst stetig, morgen, am Samstag, wird es fertig sein. Circa zwei mal zwei Meter, ein Mandala, das den universellen Frieden ausdrückt und erschaffen wird mit dem Wunsch, diesen Frieden zu verbreiten.


Westliche Kunst entsteht aus dem Individualismus und feiert ihn. Östliche Kunst dagegen - die tibetische wie auch die japanischen Zen-Künste Kalligrafie, Tuschemalerei und Ikebana -ist überpersönlich. In langen mühsamen Lehrjahren hat sich der Künstler, die Künstlerin, so geschult, dass nicht das Ego, sondern die uns allen innewohnende Weisheit und strahlende Stille den Pinsel führt, den Sand schüttet, die Blumen steckt. Ein solches Kunstwerk zu betrachten ist Meditation: Weisheit und Stille strahlen auf den Betrachter zurück.

Und doch ist ein Kunstwerk nur für den Augenblick gemacht, eine Manifestation der unablässigen Veränderung alles Seienden. Als Zeichen dafür wird das fertige Sandmandala morgen, Samstag, mit einem Ritual aufgelöst und gegen 18 Uhr in einer Zeremonie der Dreisam übergeben, dem kleinen Freiburger Fluss, der nie aufhört zu fließen.

Morgen von 15 bis 20 Uhr wird im Tibet Kailash Haus ein Sommerfest aus Anlass des 80. Geburtstags des Dalai Lama stattfinden. Mehr darüber unter diesem Link.                                                                              

Samstag, 27. Juni 2015

"Wunderbare Unvollkommenheit"

Foto: Verlag Herder

"Yehudi Menuhin sagte einmal: 'Leben heißt Geige spielen zu lernen, während man ein Konzert gibt.'

Warum üben Sie Zen? Glauben Sie, eines Tages perfekt zu sein, erleuchtet, ein 'guter Mensch' (was immer Sie sich darunter vorstellen)? Was machen Sie mit Ihrem Leben in der Zwischenzeit? Wie gehen Sie um mit all der Unvollkommenheit, die Sie trotz Ihres Bemühens immer noch an sich bemerken? Verdrängen Sie Ihre Wut, ignorieren Sie Ihren Neid, verstecken Sie Ihre Habgier, Ihre Unsicherheit, Ihre tausend Ängste?

Wenn wir Zen üben, bekommt unser sorgfältig gehütetes Selbstbild Risse, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es eines Tages ganz zusammenbrechen wird. Wir stellen fest, dass wir nicht der dynamische, erfolgreiche, beliebte Typ sind, der in unserer Gesellschaft so gut ankommt. Wir sind nicht die Mischung aus Karrierefrau, liebevoller Mutter, guter Hausfrau und leidenschaftlicher Geliebter, die uns in einer Fernsehserie so imponiert. Das zuzugeben ist uns peinlich, und wir tun alles, um die Peinlichkeit zu überdecken. Wir ziehen in eine andere Gegend, verwenden viel Sorgfalt auf unsere Garderobe, treten einem Club bei und melden unsere Kinder in einer besseren Schule an.

Wenn wir Glück haben, geht uns eines Tages die schlichte Tatsache auf, dass es keinen Ort auf dieser Welt gibt, an dem wir uns verstecken können, und dass Verstecken auch nicht notwendig ist. Denn den anderen Menschen geht es ganz genauso wie uns. Wir alle lernen Geige spielen und führen währenddessen miteinander ein Konzert auf, das so schräg, schön und grauenhaft ist, dass wir, hätten wir wahrhaft offene Ohren, abwechselnd schaudern, jubeln und lachen müssten. Und jeder, wirklich jeder, hört, wenn wir danebengreifen.

Rauft sich ein Geiger die Haare, wenn ihm das passiert? Wirft er den Bogen in die Ecke, brüllt er sein Publikum an, bricht er das Konzert ab? Nein, er spielt einfach weiter. Der Augenblick unseres Fehlgriffs ist nur ein Augenblick, vergangen auf Nimmerwiedersehen. In diesem Augenblick aber gelingt uns ein wunderschöner Ton, der alle aufhorchen lässt."

(Aus: Margrit Irgang "Wunderbare Unvollkommenheit. Das Zen-Buch der Lebenskunst". Herder Verlag, ISBN 978-3-451-06740-2)

Montag, 22. Juni 2015

David Steindl-Rast on Silence



Bruder David Steindl-Rast (geboren 1926) ist ein österreichischer Benediktiner-Pater, der intensiv Zen studiert hat bei diversen Meistern und heute abwechselnd in Österreich und seinem Kloster in den USA lebt. Er hat durch seine eigene Praxis erkannt, dass die spirituellen Traditionen der Weltreligionen eine gemeinsame Tiefe teilen. Wann immer ich die Gelegenheit habe, besuche ich einen Vortrag von ihm. Ihn zu hören und zu erleben, ist Meditation: Die innere Stille, in der er lebt, entfaltet sich, der Saal wird zum weiten Raum, und Hunderte Menschen bekommen eine Ahnung davon, was Meditation ihnen geben könnte.

For my English speaking readers I chose a video in English.

"When you really go deep inside you come in contact with something that goes beyond words. I cannot really describe it, I would speak of a vast wideness, openness, something like the desert, the sand dunes with the starry sky by night."

"Wenn Sie wirklich in die Tiefe gehen, kommen Sie in Kontakt mit etwas, das jenseits von Worten ist. Ich kann es nicht richtig beschreiben. Ich würde es eine immense Weite und Offenheit nennen, etwas wie die Wüste, die Sanddünen mit dem sternbesetzten Himmel bei Nacht."

Von David Steindl-Rast gibt es zahllose empfehlenswerte Bücher auf Deutsch.

Dienstag, 16. Juni 2015

Thich Nhât Hanh: "Meine wahre Natur" (2. Teil)


Thich Nhât Hanh hatte also im Alter von 36 Jahren eine Erfahrung seiner wahren Natur, und solch ein Erlebnis geht nicht spurlos vorüber. Heute, 50 Jahre später, können wir erkennen, dass seine Arbeit von dieser Erfahrung geprägt ist: "Sangha" als Gemeinschaft der Praktizierenden ist die Praxisform in seiner Intersein-Schule - als gelebter Ausdruck für die Nicht-Dualität, das Nicht-Getrenntsein von allem, was ist.

Was Thây damals erfahren hat, geschieht heute immer mehr Menschen, auch wenn die Einzelheiten der Erfahrung ganz anders sein mögen, gefärbt von der Individualität des Einzelnen und seinem eigenen Weg. Offenbar ist aber die Zeit reif für die kollektive Erfahrung der Nicht-Dualität, und zweifellos ist es das, was in der Gesellschaft dringend gebraucht wird: Menschen, die gesehen haben, dass sie nicht ihr kleines Ego sind, sondern der weite Raum, in dem alles mit allem verbunden ist - und die nach dieser Erkenntnis handeln. Heute wird eine solche Erfahrung zumeist mit dem Begriff "Erleuchtung" bezeichnet. Thây tat dies ausdrücklich nicht, denn als buddhistischer Mönch konnte er sich selbst nicht für "erleuchtet" erklären. Ich finde den Begriff ohnehin ziemlich heikel. Es könnte leicht der Eindruck entstehen, die "Erleuchtung" sei etwas Besonderes (unser Ego liebt es, besonders zu sein, und wird die "Erleuchtung" sofort dazu benutzen, sich aufzuplustern zu einem "erleuchteten Ego") oder sie sei ein Stadium, das man ein für alle Mal erreicht. Das Erwachen zu unserem wahren Wesen jedoch ist - darin sind sich alle Lehrer einig - ein lebenslanger Prozess, der immer weitere Tiefen offenbart, aber auch immer neue Fallstricke bereithält.

Eine einmalige Erfahrung zu machen ist relativ leicht. Was aber geschieht danach? Suzuki Roshi sagte einmal: "Genau genommen gibt es gar keine Erleuchtung. Es gibt nur erleuchtetes Handeln im gegenwärtigen Moment." Und das gelingt uns mal mehr, mal weniger gut, denn wir fallen aus der Erfahrung der Einheit und Ganzheit schnell wieder heraus in die Getrenntheit. Adyashanti formuliert es deutlich: "Erleuchtung, wenn sie echt ist, erspart uns nichts und bewahrt uns vor nichts. Eigentlich ist die erleuchtete Perspektive letztlich das, was uns nicht mehr erlaubt, uns von irgendeinem Bereich unseres Lebens abzuwenden." Der Titel eines schönen Buches von Jack Kornfield lautet "After the Ecstasy the Laundry". Und Thây erinnert uns Schülerinnen und Schüler immer daran: "Erwachen ist unsere Praxis." 

***
 
Hier ein weiterer Auszug aus Thâys Tagebuch, den ich so schön finde, weil er in ihm unverfälscht von Emotionen spricht, die wir bei ihm nicht vermutet hätten - und die wir uns selbst leider so oft verbieten:

"Als der Sturm dann schließlich vorüber war, lagen Schichten von innerem Mörtel in Schutt. Ich war voller Wunden, und dennoch empfand ich mein Alleinsein als etwas fast Erregendes. Niemand würde mich in meiner neuen Manifestation erkennen. Niemand, der mir nahe stand, würde wissen, dass ich es war. (...) Wie könnten wir weiterleben, wenn wir nicht der Veränderung unterworfen wären? Um zu leben, müssen wir jeden Augenblick sterben. Immer wieder müssen wir in den Stürmen zu Grunde gehen, die Leben erst möglich machen. Es wäre besser, dachte ich, wenn alle mich aus ihrem Gedächtnis streichen würden. Ich kann kein menschliches Wesen sein und gleichzeitig ein unveränderliches Objekt von Liebe oder Hass, von Verehrung oder Ärgernis. Ich muss mich entwickeln. Als Kind wuchs ich aus den Kleidern heraus, die meine Mutter mir genäht hatte. Ich kann diese nach kindlicher Unschuld und mütterlicher Liebe duftenden Kleider der Erinnerung willen in einem Koffer aufbewahren. Aber ich muss jetzt neue, andere Kleider haben, damit sie dem passen, der ich geworden bin.
                         
 Wir müssen uns die Kleider selbst nähen und dürfen nicht einfach nur die von der Gesellschaft produzierte Fertigware akzeptieren. Die Kleider, die ich mir selbst nähe, mögen nicht der Mode entsprechen und für die meisten vielleicht sogar inakzeptabel sein. Aber es ist keine Sache der Kleider allein. Es hat damit zu tun, wer ich als Mensch bin. Das Metermaß, mit dem andere mich messen, lehne ich ab. Ich verwende mein eigenes Metermaß, eins, das ich selbst entdeckt habe, auch wenn ich mich damit in Opposition zur öffentlichen Meinung befinde. Ich muss der sein, der ich bin. Ich kann mich nicht zurück in die Schale zwängen, die ich gerade durchbrochen habe. Das macht mich sehr einsam. (...) Mir war schon früh klar, dass die Wahrheit finden nicht gleichbedeutend ist mit Glück finden. Du sehnst dich danach, die Wahrheit zu erkennen. Ist dir das aber gelungen, ist es nicht zu vermeiden, dass du leidest. Wäre es anders, hättest du nichts begriffen. Du bist immer noch den willkürlichen, von anderen festgelegten Konventionen ausgesetzt. (...) Du kannst Wahrheit nicht von anderen übernehmen, du musst sie unmittelbar erfahren."

(Aus: Thich Nhât Hanh "Der Duft von Palmenblättern", Herder Verlag, Freiburg. Das Buch ist vergriffen, aber z.B. über booklooker online noch erhältlich. In English: "Fragrant Palm Leaves", Parallax Press, Berkeley.)

Freitag, 12. Juni 2015

Thich Nhât Hanh: "Meine wahre Natur" (1. Teil)

Quelle: Wikipedia org.

Worum geht es im Zen? Es geht immer um das Erwachen zu unserem wahren Wesen. Die Übung, die zum Erwachen führt, kann ganz unterschiedlich sein - das stille Sitzen auf dem Kissen, das langsame oder schnelle Gehen in Raum und Natur und/oder die hellwache Präsenz in allem, was getan wird (Letzteres wird heute "Achtsamkeit" genannt). All dies bereitet eine große Erfahrung vor, die nicht unbedingt "schön" sein muss: Sie erschüttert vielmehr das Bild, das wir bisher von uns und der Welt hatten.

Viele Menschen, die keine Vorerfahrung im japanischen Zen haben, glauben, dass die Übung der Achtsamkeit in der Intersein-Schule von Thich Nhât Hanh nur dies sei: Langsames Gehen, Lächeln, Innehalten bei jedem Glockenklang und eine sehr umfassende Ethik. Mit ganzer Leidenschaft praktiziert, kann diese Übung jedoch zum Erkennen unserer wahren Natur führen! Als er Mitte Dreißig war, schrieb Thây, wie wir ihn nennen, ein Tagebuch. In Vietnam hatte er - enttäuscht vom offiziellen Buddhismus, der keine gelebte Erfahrung mehr war - mit Freunden ein Waldkloster gegründet. Dann ging er als Stipendiat an die Princeton University nach New Jersey, und dort hatte er eine Erfahrung, die er als Einblick in seine wahre Natur beschrieb. Solch eine Erfahrung kann man als Anfangsstadium des Erwachens bezeichnen, und natürlich wird sie für jeden Menschen anders aussehen. Die gute Nachricht aber ist, dass jeder Mensch fähig ist, diese Erfahrung zu machen.

Wer noch immer glaubt, "Achtsamkeit" sei ein Selbstzweck, um ein wenig gelassener, langsamer und gesünder zu werden, lese jenes Tagebuch.

***

In diesem ersten Teil geht es (stark gekürzt) um die Erfahrung selbst, in meinem nächsten Post auf diesem Blog in ein paar Tagen wird es um die Konsequenz gehen, die Thây daraus gezogen hat.

"Es begann im Oktober. Zunächst schien es nur so zu sein, als zöge eine Wolke vorüber. Nach ein paar Stunden aber hatte ich das Gefühl, als würde sich mein Körper in Rauch auflösen und davontreiben. Ich verwandelte mich in einen kleinen Wolkenfetzen. Bislang hatte ich immer geglaubt, ich sei ein solides, fest gefügtes Wesen. Und plötzlich stellte ich fest, dass es mir an Festigkeit völlig mangelte.Das war keine philosophische Erkenntnis. Noch weniger war es ein Erleuchtungserlebnis. Es war nur ein ganz gewöhnlicher Eindruck. Ich erkannte: Das Wesen, das ich bisher für mein 'Ich' gehalten hatte, war nichts anderes als eine Täuschung. Meine wahre Natur, so wurde mir klar, ist viel unverfälschter, sowohl hässlicher als auch schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können. (...)

Ich erkannte, dass ich leer bin, leer von Idealen, Hoffnungen, Standpunkten oder Loyalitäten. Da gibt es keine Versprechen, die ich einhalten müsste. In diesem Augenblick schwand das Empfinden, eine Entität unter anderen Entitäten zu sein, das heißt, eine von anderen Seinsweisen getrennte und unabhängige Existenz zu haben; es schwand das Gefühl, getrennt zu sein von allem anderen, was ist. Mir war bewusst, dass diese Einsicht ihre Ursache nicht in Enttäuschung, Verzweiflung, Furcht, Begierde oder Unwissenheit hatte. Leicht und leise hatte ein Schleier sich gehoben. Das war alles.

Wenn du mich schlägst, steinigst oder sogar erschießt, wird all das, was gemeinhin als mein 'Ich' angesehen wird, zerfallen. Dann wird sich das, was wirklich ist, offenbaren - so zart wie ein Nebelschleier, so schwer fassbar wie die Leere, und dennoch weder Nebel noch Leere, weder hässlich noch nicht-hässlich, weder schön noch nicht-schön. In dem Augenblick hatte ich das tiefe Gefühl, zurückgekehrt zu sein. Meine Kleider, meine Schuhe, ja das innerste Wesen meiner Existenz waren verschwunden, und ich war so sorgenfrei wie ein Grashüpfer, der sich auf einem Grashalm ausruht. Wie der Grashüpfer, so machte auch ich mir keine Gedanken über das Göttliche."
 
(Aus: Thich Nhât Hanh "Der Duft von Palmenblättern", Herder Verlag, Freiburg. Das Buch ist vergriffen, aber z.B. über booklooker online noch erhältlich. In English: "Fragrant Palm Leaves", Parallax Press, Berkeley)

Donnerstag, 28. Mai 2015

Begegnungen mit Joan Halifax


Ein Sommer in Südfrankreich in Plum Village, dem Zentrum von Thich Nhât Hanh. In jedem Retreat gab es den sogenannten lazy day, an dem wir - keineswegs freiwillig - zu allerlei Aktivitäten gebeten wurden: Basteln, Gartenarbeit, Yoga und dergleichen. Aktivitäten waren nicht mein Fall, aber in jenem Sommer gab es auch einen Vortrag: Joan Halifax aus den USA sprach über ihre Arbeit mit Sterbenden. Being with Dying. Sie hatte lange Haare und trug ein Sommerkleid und sprach voller Leidenschaft über Mitgefühl: "We live in a time when science is validating what humans have known throughout the ages: that compassion is not a luxury, it is a necessity for our well-being, resilience, and survival."

Sie war schön, sie war klug, sie war gebildet und strahlte eine wunderbare Wärme aus. Joan Halifax hatte in medizinischer Anthropologie promoviert und über ihr Fachgebiet, die Arbeit mit Sterbenden, Vorträge in der ganzen Welt gehalten. Später hörte ich, dass sie Lehrerin in der Schule von Thich Nhât Hanh geworden war, und noch später, dass sie Thich Nhât Hanh verlassen und von Bernie Glassmann zur Roshi, zur Zen-Meisterin, ernannt worden war. Sie gründete in Santa Fe in New Mexico das Upaya Zen Center und irgendwann, viele Jahre später, kam sie für ihr erstes und einziges sesshin in die Schweiz. Ich ging hin.

Sie war so lebendig wie immer, älter geworden, hatte sich als Zen-Nonne inzwischen von ihren Haaren getrennt, war aber immer noch schön. Im dokusan, dem Einzelgespräch, unterhielten wir uns wie Schwestern über unsere Erfahrungen auf dem Zen-Weg. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Diese Lehrerin hatte kein Interesse an Machtdemonstrationen, sie behandelte uns als Ebenbürtige. Es gab neben ihr nur Lebendigkeit, Begeisterung und unendliche Herzenswärme. Ich selbst war damals gerade dabei, mich von den in allen Zen-Schulen praktizierten Ritualen und eingefahrenen Strukturen zu lösen, um meinen eigenen Weg zu finden. Joan Halifax erzählte mir, dass sie dasselbe getan hatte. Und auch sie wurde für ihre Loslösung von ihren Lehrern kritisiert. (Eigenständige Geister sind in keiner etablierten Schule gern gesehen.) Mir war im richtigen Moment der richtige Mensch begegnet, und es war keineswegs ein Zufall, dass dieser Mensch eine Frau war.

Einmal, nach einem ihrer Vorträge, saß sie vor dem Altar und sah jeden von uns der Reihe nach intensiv an. Dazu muss man wissen, dass im klassischen japanischen Zen die Schüler Schwarz oder zumindest dunkle gedeckte Farben zu tragen haben. Wir dagegen waren ein bunter Haufen; ich hatte mich in einen herrlich tomatenroten Wollschal gewickelt. Sie sah uns also alle an, und ein Leuchten erschien auf ihrem Gesicht. Sie sagte: "Jede und jeder von uns hat ihre und seine eigene Farbe, ist das nicht wunderbar? Bitte zeigt eure eigene Farbe, sie wird von der Welt gebraucht."


Einen Eindruck von Joan Halifax bekommt man in diesem Video. Die Webseite ihres Zentrums in Santa Fe: www.upaya.org

Freitag, 22. Mai 2015

Der philosophische Kater über: Feiertage


Wir Katzen begreifen das menschliche Konzept der Feiertage nicht. Die Menschen feiern also nicht den Tag, sondern der Tag feiert etwas, was irgendwann an diesem Tag geschehen ist oder geschehen sein soll? Bei den Menschen ist alles immer gleich so groß, lang und unpersönlich. Es wundert uns Katzen deshalb nicht, dass bevorstehende Feiertage die Menschen in hektische Aktivität versetzen. Sie riechen dann anders, so scharf.

Als Kater kenne ich nur Feiermomente. Das ist zum Beispiel der Moment, in dem ich mich auf dem Rücken räkele, und dann kommt ihre Hand, um mich am Bauch zu kraulen. Oh Wonne! Oder der Moment, in dem ein Bällchen geflogen kommt. Besser noch: ein Brekkie. Und diese jungen Triebe der Hortensie hier auf dem Balkon, köstlich! Oder der Vogel da auf dem Dachfirst! Gleich werde ich den kriegen ... gleich ... Und dann fliegt er weg, aber das feiere ich als Katze auch, denn so kann ich mich in die Sonne legen und muss mich nicht anstrengen.

Feiermomente sind klein, kurz und sehr persönlich. Sie stehen nicht im Kalender, man kann sie nicht planen, vorher für sie einkaufen und die Wohnung putzen (die Menschen glauben merkwürdigerweise, beim Feiern müsse alles sauber sein). Sie überfallen einen einfach so. Jeder Moment kann unversehens zum Feiermoment werden. Aber die Menschen fühlen sich unbehaglich, wenn etwas Ungeplantes auftaucht. Und dann die Treppe nicht geputzt ist. Und ihnen so auf die Schnelle gar nicht einfällt, wie man den Moment eigentlich feiern soll.

Ja, ich als Katze habe beobachtet: Die Menschen haben Angst vor Feiermomenten.

Samstag, 16. Mai 2015

Northern Lights


Ein weiteres Lieblings-Stück der zeitgenössischen Chormusik: "Pulchra es, amica mea" des jungen norwegischen Komponisten Ola Gjeilo (*1978), das er schrieb, nachdem er die Nordlichter in seiner Heimat beobachtet hatte.

Pulchra es, amica mea,
suavis et decora filia Ierusalem.
Pulchra es, amica mea,
suavis et decora sicut Ierusalem,
terribilis ut castrorum acies ordinata.
Averte oculos tuos a me
quia ipsi me avolare fecerunt.

Hohelied

Schön bist du, meine Freundin,
süße und liebliche Tochter Jerusalems.
Schön bist du, meine Freundin,
süß und lieblich wie Jerusalem,
doch furchtbar wie die geordnete
Schlachtenreihe vor dem Lager.
Wende ab deine Augen von mir,
denn sie zwangen mich zu fliehn.
                  

Freitag, 3. April 2015

Das April-Gedicht, viersprachig


Aus: Margrit Irgang "Leuchtende Stille", Herder Verlag (siehe rechte Spalte unter "Bücher")

Meine Gedichte sind schon in etlichen Ländern erschienen. Das wundert mich, sind es doch ganz einfache, stille Gedichte. Obwohl man sich von der Einfachheit nicht täuschen lassen darf (genau lesen, ganz genau!), frage ich mich: Wer außer mir mag einfache, stille Gedichte? Ich habe sogar mal den Marburger Förderpreis für Literatur für die stillen Gedichte bekommen. Und wundere mich immer noch darüber ...

Hier der "Brunnen" auf Italienisch:

Pozzo

Cerchio di pietra
ripieno di vuoto

sotto
molto sotto lo splendore

 (Trad.: Simona Venuti)

Auf Englisch:

Well

Stoneround
full of emptiness

down
deepest down the glint

Auf Niederländisch:

Put

Steenrond
gevuld met leegte

beneden
diep beneden een glans

(Ü: Piet Hermans)
 

Sonntag, 29. März 2015

Frau Irgang kocht: Vegetarisches Chili


Jeder Blog, der was auf sich hält, veröffentlicht - egal, welche Themen er sonst behandelt - irgendwann ein Rezept. Deshalb hier das Sonntagsessen von Frau Irgang. Das Basisrezept verdankt sie Ken Wilber, hat es aber für ihren Geschmack entscheidend verändert, alle Zutaten natürlich in Bioqualität gekauft und heute für 2 Personen so gekocht:

1 Dose Kidney Beans
1 Dose geschälte Tomaten (pomodori pelati)
2 Schalotten, gehackt
1 grüne Paprikaschote, gehackt
2 Stangen Sellerie, gehackt
2 Knoblauchzehen
1 Handvoll Mandeln oder Cashewkerne, gehackt
1 große Handvoll Rosinen
1 Tasse Gemüsebrühe
0,3 l alkoholfreies Bier
Oregano, frische Petersilie, Kurkuma, Cayennepfeffer, Salz, Zucker

Zwiebeln in Olivenöl andünsten, Gemüse dazu, dünsten. Tomaten und Kidney Beans, Gemüsebrühe, Bier und getrockneten Oregano dazugeben, ca. 15 Minuten köcheln. Zum Schluss die Nüsse und die Rosinen. Kräftig würzen mit Kurkuma, Cayennepfeffer, Salz und Zucker, mit frischer Petersilie bestreuen und, für Nicht-Veganer, mit geriebenem Käse.

Das Tolle am Chili sind die Rosinen!

Donnerstag, 26. März 2015

Bitte innehalten ... und atmen ...

C: David Nyblack

Es gibt Tage, da fühle ich mich, sobald ich meine Wohnung verlasse, so (siehe oben). In der Welt erwarten mich Stacheln, nämlich Menschen, die viele Gründe finden, sich aufzuregen. Zum Beispiel – ganz fiktiv, einfach mal angenommen – irgendwo im Haus ist etwas kaputt, irgendwo zieht es, irgendetwas hat die Nachbarin (also zum Beispiel ich) nicht sauber genug geputzt. Oder jemand fühlt sich von Dritten, die praktischerweise nicht anwesend sind und über die man also ausführlich schimpfen kann, respektlos behandelt oder wünscht sich von ihnen die Erfüllung von allerlei Forderungen und Erwartungen. Solche Aufregung verlangt danach, mitgeteilt zu werden, und so werde ich, die nichts weiter will, als einer Alltagsbeschäftigung nachzugehen, mit heißer heftiger Energie überschüttet. Unvermutet. Überfallartig. Jederzeit.

Wenn es hier wirklich nur um Tatsachen ginge, gäbe es etliche Lösungsmöglichkeiten. Man könnte sich fragen, ob die eigene Wahrnehmung wirklich korrekt ist. Ist sie es, könnte man den Vermieter um Mängelbeseitigung bitten oder ausziehen. Man könnte auch über ein paar Unvollkommenheiten hinwegsehen und sich klarmachen, dass andere Menschen nicht dazu da sind, unsere Vorstellungen zu erfüllen. Vor allem sollte man mit den Menschen sprechen und nicht über sie. Aber es geht nicht darum, Lösungen zu finden, es geht um den Wunsch, sich aufzuregen.

Eine der wichtigsten Anweisungen für die Meditationspraxis im Alltag lautet, Tatsachen von unseren Reaktionen auf sie zu trennen. Ich erinnere mich, dass diese genaue Unterscheidung auch mir anfangs nicht ganz leicht fiel. Heute bin ich unendlich dankbar, sie gelernt zu haben. Woher kommt dieser Zwang, sich aufzuregen? Die beste Erklärung dafür habe ich bei Eckhart Tolle (in seinem Buch "Jetzt!") gefunden, der den in uns angesammelten Schmerz als einen eigenständigen „Schmerzkörper“ bezeichnet. Der Schmerzkörper will „gefüttert“ werden, er verlangt nach Nahrung: „Er lebt von jeder Erfahrung, die mit seiner eigenen Art von Energie mitschwingt, von allem, was mehr Schmerz erschafft, in welcher Form auch immer: Wut, Zerstörung, Hass, Trauer, emotionalem Drama, Gewalt und sogar von Krankheit. Sobald er Macht über dich hat, wird der Schmerzkörper also Situationen in deinem Leben erschaffen, die ihm seine eigene Energiefrequenz zurückgeben, damit er sich davon ernähren kann.“

Der Schmerzkörper in uns allen ist es, der Feindschaft sät, Intrigen anzettelt, Kriege erklärt. Wie können wir ihn beruhigen und heilen, so dass er nicht mehr nach Nahrung verlangt?

A  tmen
 L  ächeln
    I  nnehalten

"Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun sollen, tun Sie gar nichts", pflegte Jiddu Krishnamurti zu sagen. Und Thich Nhât Hanh ergänzt: "Nicht-Tun ist auch ein Tun". Die erfahrene Meditationsschülerin, die auch ein Mann sein darf, praktiziert, wenn ein innerer oder äußerer Sturm losbricht, also erst einmal das Nicht-Tun. Alle Ampeln stehen auf Rot, da rast man nicht los. Man hält an. Man HÄLT INNE. Und während sie in leiser Ratlosigkeit irgendwo herumsitzt oder herumsteht, tut sie sogar etwas: sie ATMET. 

Der Atem ist des Meditierenden bester Freund, er kann sich auf ihn verlassen: Er bleibt bei ihm bis zum Tod. Wenn also der Schmerzkörper aufwacht und nach jeder Menge Wut und emotionalem Drama verlangt, wendet sich der kluge Meditierende an seinen besten Freund und atmet drei Mal bewusst ein und aus. Schreit weder die Nachbarin an noch den Hund und rennt auch nicht hektisch herum. Er tut nur dies: ATMEN. Der Atem wurde seit jeher mit dem Geist gleichgesetzt; schon in der Genesis steht, dass Gott dem Menschen den Lebensatem einhauchte. Der Atem verbindet Körper und Geist, die im Alltag zu oft getrennte Wege gehen, und ein solcherart gesammelter Körper-Geist hat Kraft und Entschlossenheit. Die alten Samurai wussten das.

Aber bevor nun die gesammelte Kraft und Entschlossenheit in Taten verwandelt wird, fällt der erfahrenen Meditierenden ein Satz des Dalai Lama ein: "Freundlichkeit ist meine Religion". Sie erinnert sich zudem daran, dass sie Humor hat, schaut sich den ganzen Aufruhr an und LÄCHELT.

Und kocht sich erst einmal einen guten Tee.

Das Wesen alles Lebendigen ist unablässige Verwandlung, und manchmal mögen wir das, was das Lebendige uns präsentiert, überhaupt nicht. Da gibt es Leute, die uns respektlos behandeln, Nachbarinnen, die nicht pausenlos mit dem Wischlappen durch die Gegend laufen, und jede Menge Mängel - da draußen, aber auch in uns selbst. Mögen und Nichtmögen sind jedoch nur persönliche Meinungen, und auch Meinungen verändern sich ständig. Die Meditationsschülerin hat gelernt, ihre Meinung einfach als Meinung zu erkennen und sich damit nicht zu identifizieren. In ihrer Zenpraxis hat sie gesehen, dass die Arbeit am Schmerzkörper ihre eigene Aufgabe ist, die niemand für sie übernehmen kann. Sie hat begriffen, dass auch ihr Schmerzkörper, sobald er sich äußert, zu den zahllosen Konflikten in der Welt beiträgt, und sie nimmt sich vor, das Einzige zu tun, was tatsächlich in ihrer Macht steht: Ihren eigenen Schmerz zu beruhigen, damit der Schmerzkörper der Welt zumindest von ihr keine neue Nahrung erhält.

(Das ist "Zen im Alltag" und DIE Grundübung aus der Dhyana-Schule von Thich Nhât Hanh. Sie klingt simpel, ist eine Praxis fürs ganze Leben, nicht immer leicht durchzuhalten, aber ihre Wirkung ist enorm. Für den, der sie praktiziert, und vor allem für die Menschen, die mit ihm zu tun haben ...)

Dienstag, 10. März 2015

SWR 2: Zen und die Lust, Ordnung zu schaffen


Vor fünfunddreißig Jahren betrat ich zum ersten Mal einen japanischen Zendo. Eigentlich war es gar kein Zendo, sondern ein schlichter Yogaraum in München-Sendling. Es war ein Frühlingsabend, die kleine Balkontür zum Hinterhof stand offen, im Baum saß eine Amsel und sang, die Abendsonne fiel in den Raum, der ganz leer war, ganz still, ganz ruhig. Ein paar schwarze Meditationskissen auf dem Boden, sonst nichts. Keine Dekorationsartikel, kein Schnickschnack, nichts Überflüssiges. Ich blieb stehen in der Tür und war überwältigt: Ich erlebte zum ersten Mal die Macht eines leeren Raumes.

In kürzester Zeit hatte ich meine Wohnung entrümpelt und Ordnung eingeführt, obwohl ich Unordnung früher gemütlich fand. Im Verlauf von Jahren fand ich viel heraus über das Thema Ordnung: Wie sehr die äußere Ruhe die innere unterstützt zum Beispiel, aber auch, dass "Ordnung" ein innerer Zustand ist, der, sobald er stabil ist, auch die unaufgeräumte Wohnung von Freunden erträgt.

Darüber habe ich vor ein paar Jahren das Feature "Zen und die Lust, Ordnung zu schaffen" für den SWR gemacht, und weil gerade wieder Frühling ist, bekommen Sie vielleicht, wie ich, Lust, Ihre Wohnung aufzuräumen. Für die Sendung habe ich die Zen-Lehrerinnen Judith Bossert und Adelheid Meutes-Wilsing interviewt und mit dem Teemeister Ulrich Haas gesprochen. Und ich habe schöne Musik ausgewählt, wie ich finde ...


Hier in der SWR-Mediathek können Sie die Sendung anhören: http://swrmediathek.de/player.htm?show=3710b6c0-ce2c-11e0-81bf-0026b975f2e6


Sonntag, 22. Februar 2015

Sie wird gemalt, oder: Der Sommer, in dem die Freiheit begann


Ich mag es nicht, fotografiert zu werden. Sobald sich ein Sucher auf mich richtet, huscht etwas in mir davon. Etwas, das sich nicht festhalten lassen und vor aller Augen präsentieren will, noch dazu für alle Zeit. Also huscht es davon, und wenn ich Fotos von mir angucke, sehe ich, dass es fehlt. Und weil es fehlt, bin das nicht ich auf dem Foto. Nur vor der Fotografin Isolde Ohlbaum ist es nicht ganz davongelaufen (es lugt in den Fotos, die sie von mir gemacht hat, um die Ecke), denn mit ihr kann man sich über Bücher und Katzen unterhalten, also über die wirklich wichtigen Dinge. (Sie macht auch schöne Fotobücher. Die sieht man hier: www.ohlbaum.de)

Aber in einem Frühling, Sommer und Herbst vor etwa zweiunddreißig Jahren in Irschenhausen: da musste nichts davonhuschen. Das Atelier so still, die Sonne vor den hohen Fenstern, der Geruch nach Farbe, das leise Wischen des Pinsels auf der Leinwand, ich mit der Katze auf dem Schoß, die Füße auf einem warmen Backstein, denn das Atelier war immer fußkalt. Meine Freundin Johanna Kieling malte mich, und ich schrieb währenddessen an meinem dritten Roman. Zwei Künstlerinnen gingen ihrer Arbeit nach in Stille und Versunkenheit. Johanna war aus Berlin nach Oberbayern gezogen, um zu malen, ich hatte gerade alle Sicherheiten aufgegeben, um in München als freie Schriftstellerin zu leben. Jene Monate waren ein Aufbruch in die Freiheit. Die Gegenwart war atemberaubend neu, die Zukunft grenzenlos offen. Und an den Sommerabenden, nach der Arbeit, fuhren wir mit den Rädern hinunter an den Starnberger See, um zu baden.

Die eine zog ins Allgäu, die andere nach Rom, dann in den Schwarzwald. Die Formensprache von uns beiden veränderte sich im Lauf der Jahre. Aber in Johannas Bildern und meinen Texten ist bis heute dieser längst vergangene Sommer zu finden: die Sonne vor den Fenstern, das Wischen der Pinsel, die Stille, der Nachmittagskaffee im Garten und der abendlich leere Badestrand von Leoni. Auch wenn das sonst niemand sieht: Wir beide sehen es. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass kein Glück je verloren geht. Es verändert seine Formensprache und sieht vielleicht manchmal gar nicht mehr nach Glück aus, und doch ist das, woraus es gemacht war, aufgehoben in dem, was jetzt ist.

Was Johanna heute macht, kann man hier sehen: www.johannakieling.de

Mittwoch, 21. Januar 2015

"Sure on this shining night"


Musik zum Glücklichsein: "Sure on this shining night" von Morten Lauridsen. Hier in einer hübschen Version des Bel Canto Choir Vilnius. Morten Lauridsen hat dieses Gedicht von James Agee vertont:

Sure on this shining night
Of star made shadows round,
Kindness must watch for me
This side the ground.
The late year lies down the north,
All is healed, all is health.
High summer holds the earth,
Hearts all whole.
Sure on this shining night I weep for wonder wand'ring far alone
Of shadows on the stars.

Ein glückliches Wochenende!

Montag, 19. Januar 2015

Über Flüchtlinge, das Fremdsein und das Frieren in Deutschland


In meinem Vorort sind Flüchtlinge einquartiert, aus Ghana, aus Syrien. Täglich sehe ich eine der afrikanischen Frauen an meinem Haus vorbeigehen. Sie trägt einen dicken Wintermantel, ihr Kind im Kinderwagen liegt unter hoch aufgetürmten Decken, und der etwa Vierjährige trägt Winterstiefel und Skianorak. Sie frieren in Deutschland. Währenddessen laufen auf dem Bildschirm meines Laptop fünfundzwanzigtausend Menschen durch Dresden und verlangen eine schärfere Asylpolitik und die "Pflicht zur Integration". Mich wundert, dass den Demonstranten nicht bewusst ist, dass auch sie Flüchtlinge gewesen wären, wenn ihre Eltern vor den Dresdner Bomben geflohen wären. So, wie meine Mutter Hals über Kopf ihre ausgebombte Wohnung in Frankfurt an der Oder verlassen musste, mit nichts als einem hastig gepackten Köfferchen in der Hand, in dem sich ein wenig Unterwäsche befand, der Kaufvertrag für die Wohnung und der für den VW und ein paar Fotos mit schmalem weißem Rand.

Angekommen in Bayern, war sie ein Flüchtling, und ihr Kind - also ich, die lange nach der Flucht geboren wurde -, galt seine ganze Kindheit hindurch als "Flüchtlingskind". Flüchtlinge wurden mit Misstrauen betrachtet, sie kamen von "drüben". Als meine Mutter eine Wohnung mieten wollte und das mangelnde Bad erwähnte, wandte sich der künftige Vermieter an seine Frau und sagte: "Die Polacken haben doch in ihrem Leben noch nie ein Bad gesehen." Der Berliner Schick meiner Mutter passte nicht zu dieser Aussage; unsere Familien-Eleganz und die Tatsache, dass wir strikt hochdeutsch sprachen, brachte uns schließlich den Ruf ein, hochmütig zu sein. Wir waren Fremde, wir gehörten nie dazu, uns lud man nie ein, über uns wurde hinter vorgehaltener Hand geredet.

Ich empfehle zu diesem Thema das ausgezeichnete Buch des Historikers Andreas Kossert "Kalte Heimat", Pantheon Verlag. Er schreibt u.a. : "Kennzeichnend für die meisten Vertriebenen und viele ihrer Kinder ist ein Gefühl der Wurzellosigkeit. Nirgends fühlen sie sich auf Dauer heimisch. In der Tiefe ihres Herzens sind sie stets fluchtbereit." Er schreibt auch von der permanenten Angst der Flüchtlingskinder, die ihnen übertragen wurde von ihren Flüchtlingseltern. Die einen reagieren darauf mit extremem Sicherheitsbedürfnis, die anderen mit der erwähnten steten Fluchtbereitschaft.

Dieses Flüchtlingsdrama im Zweiten Weltkrieg aber wurde in unserer Gesellschaft verdrängt. Und so kann eine von mir für ihre zeitkritischen Bücher geschätzte Autoren-Kollegin - geboren in Hamburg - hartnäckig behaupten, ich käme "aus der DDR", auch wenn es zu der Zeit, in der meine Mutter floh, nur ein Deutschland gab. Das ist mehr als mangelnde Geschichtskenntnis - das ist Ignoranz und die Fortführung der Verdrängung.

Jeden Tag kehrt die afrikanische Mutter mit Kinderwagen und Vierjährigem wieder zurück von ihrem Ausflug, der sie ich weiß nicht wohin geführt hat. Als Schnee lag, ist der Kleine schier ausgeflippt, so was hatte er noch nie gesehen. Inzwischen hat er einen Scooter. "Pflicht zur Integration"? Sie frieren. Sie sprechen eine andere Sprache, essen anderes Essen, haben andere Vorstellungen von Vergnügen, sie haben sogar eine andere Hautfarbe. Sie werden sich, prophezeie ich, hier nie heimisch fühlen. Aber sie sind, vielleicht zum ersten Mal, in einem sicheren Land, in dem sie keine Angst mehr haben müssen, außer der einen großen Angst: Abgeschoben zu werden.

Vielleicht ist es das, was sich diese Mutter für ihre Kinder wünscht: dass sie keine Angst mehr haben müssen. Und diesen Wunsch können wir ihr doch erfüllen. Den müssen wir erfüllen.