Sonntag, 31. Oktober 2021

Geister

 

Sie sind überall: die Geister, die der Geist erschafft. Ich finde sie, wenn ich will, mühelos an jeder Straßenecke. Düstere Gestalten tauchen an Hauswänden auf und drohen mir. Beim Gang durch die Gewächshäuser der Stadtgärtnerei könnte ich in Panik verfallen: Neandertaleralte Fratzen starren aus Palmen. Und was zum Teufel kriecht da langsam am Balkontisch hoch? Uaaah!

Und dann all das, was noch nicht manifestiert ist, das Bilderlose, das die lebhaftesten Filme erzeugt. Wovon soll ich meine Miete bezahlen, wenn ich meinen Job verliere? Was wird aus mir, wenn mein Partner mich verlässt? Wer wird mich pflegen, wenn ich alt und krank bin? Uaaah!

 

 

 

In solchen Momenten müssen wir unseren Geist an die Leine nehmen wie einen Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat. Der Buddha illustriert die Macht des Geistes mit einer Geschichte: Ein Mann lief schreiend ins Dorf, weil er in seiner Hütte eine riesige Schlange gesehen hatte. Die Dorfbewohner eilten mit Spaten zu Hilfe, aber als der Erste seine Laterne auf das Ding richtete, sahen sie, dass die vermeintliche Schlange ein dickes Seil war.


 

Was ein Geist, der von der Leine gelassen wird, anrichten kann, sehen wir in Ghana: Wenn Krankheiten oder Brände ausbrechen - und zur Zeit ist es besonders Covid -, werden oft die Frauen, vor allem die älteren, der Hexerei beschuldigt. Selbst wenn sie jemandem nur in einem unangenehmen Traum erschienen sind oder einem anderen aus irgendeinem Grund im Weg sind, müssen sie mit Anklage, schlimmstenfalls mit dem Tod rechnen. Deshalb fliehen diese Frauen in sogenannte Hexendörfer, wo sie unter unsäglichen Bedingungen dahinvegetieren, auf dem Boden schlafen und am Verhungern sind. Und jetzt will die Regierung von Ghana sogar diese unzulänglichen, aber immerhin schützenden Dörfer schließen. 

Wie gut, dass ich in einem Land lebe, in dem zumindest heute Abend die Geister nur Spaß machen. Und wenn die Kiddies nicht klingeln sollten, esse ich die ganze Schokolade alleine auf.


Montag, 25. Oktober 2021

Inselstille

  

 

Die Inseln Werd im frühen Morgennebel: Gemälde alter Meister. Es ist eisig kalt. Auf der alten Holzbrücke, die vom Festland auf die einzig bewohnte Insel führt, gehe ich durch ein Spalier von verschlafen blinzelnden Möwen, die erst mal abwarten, ob die Frau, die da naht, wirklich an ihnen vorbeigehen will. Sie will, und Möwe um Möwe erhebt sich lustlos in die Luft, als müsste sie das Programm "auffliegende Möwen beim Nahen von Menschen" erfüllen, nur um sich sofort einen Meter hinter meinem Rücken wieder auf dem Geländer niederzulassen.



Es sind franziskanische Möwen, also geliebte Tiere, und sie fühlen sich hier eindeutig zu Hause, im Schweizerischen Eschenz, genau an der Stelle, wo der Bodensee zum Rhein wird. Im Jahr 759 starb auf der Insel der aus politischen Gründen abgesetzte Abt St. Otmar von St. Gallen. Mönche bauten eine Wallfahrtskirche, und seit 1957 leben in dem kleinen Haus neben der Kapelle Franziskanermönche. Dem heiligen Franziskus, diesem großen Freund der Tiere, hätte es hier gefallen. Ich bin an diesem frühen Herbstmorgen allein mit den Möwen, den Schwänen, Blässhühnern und der Klosterkatze. Es ist inselstill, das Festland nur hundert Meter entfernt, aber weltenweit weg.

 



Die Kapelle ist von franziskanischer Schlichtheit. Weiß geschlämmte Wände, ein paar schöne Stühle aus hellem Holz. An der Wand hängt ein Gerät, das in pandemischen Zeiten draußen in der Welt ein Desinfektionsmittelspender wäre. Um Irrtümer auszuschließen, weist ein Schild darauf hin, dass hier eine andere Art Schutz zu erhalten ist: "Weihwasserspender".



Es ist warm geworden. Ein junges Paar ist gekommen, macht ein paar Photos mit dem Smartphone und verschwindet nach zehn Minuten. Gibt halt nicht viel zu sehen hier, wenn man Stadtaugen mitbringt. Nur eine sich putzende Katze, das träge ans Ufer schwappende Wasser, weit draußen der Kahn mit dem Angler, und hinter dem Haus gibt es ein Labyrinth, aber das haben sie nicht entdeckt, da hatten sie schon genug gesehen.

 


Auf dem Parkplatz vor der Holzbrücke ist ein Platz reserviert für "die Inselbrüder". Sie müssen sehr verinselt leben, ich habe keinen gesehen. Aber mir scheint, sie sind meine Brüder im Geiste, mit ihrer Liebe zu Tieren, zur Einfachheit und Stille. Ich lebe ja mit und von Sprache, der großen Kraft, die unseren Geist formen kann zum Guten und Furchtbaren. An diesem Herbsttag habe ich für mich eine neue Bezeichnung gefunden, die mich seitdem innerlich erwärmt.

Ich bin eine Inselschwester.


Freitag, 15. Oktober 2021

Das atmende Wort


"Seit ein paar Jahren spüre ich einen Widerwillen gegen die allgegenwärtige Aufforderung zur Kommunikation. 'Wir müssen miteinander reden!' ist der als Imperativ vorgetragene Zauberspruch, der imstande sein soll, jede Art von Spaltung in unserer Gesellschaft und unserem Privatleben zu schließen. In den Medien, der Politik, unter Kollegen und im Freundeskreis wird ständig diskutiert und debattiert. Warum wirkt der Zauberspruch dann nicht? Weil die meisten unserer Gespräche nur ein Austausch von Meinungen sind. Wir 'haben' unsere Meinungen wie Möbelstücke, und so unverrückbar sind sie auch oft. Wir brauchen nicht noch mehr Gerede - wir müssen lernen, einander zuzuhören. Und das ist weit anspruchsvoller, als einfach mal für ein paar Minuten den Mund zu halten."

     

 

Dies ist ein Auszug meines Beitrags "Das atmende Wort" aus der Ursache\Wirkung Nr. 116. Er steht jetzt in ganzer Länge auf meiner Homepage, zu finden hier (klick).


Donnerstag, 7. Oktober 2021

Sarah Lesch "Das mit dem Mond"

 

 

Wieder einmal die fabelhafte Sarah Lesch, die hier lange nicht zu hören war. Nicht neu, aber aktuell. Melancholie und Hoffnung, Bitterkeit und Trotz, Dunkelheit und Licht gleichzeitig auszudrücken, ohne kitschig zu werden - das muss man erst mal können. 

Vielleicht war die Wahrheit erträglich
Vielleicht sind die Schulden egal
Vielleicht sind wir gar nicht so hilflos
Vielleicht haben wir eine Wahl
Vielleicht geht man tanzen
Vielleicht hat man Arbeit
Und versucht, die Angst zu vergessen
Vielleicht hat man heute Nacht jemand verloren
Vielleicht hat man selbst nichts zu Essen.

 

Sonntag, 3. Oktober 2021

Der Hypnotiseur


Er steht auf dem großen Platz, umringt von Menschen. Ein Campingstuhl mit buntem Bezug, ein riesiger Aufsteller mit seinem Foto und dem, was er hier anbietet: BLITZHYPNOSE. Kleiner darunter: kostenlos. Auf seinem T-Shirt steht vorsichtshalber "Spaßhypnose"; die Polizei patrouilliert hier gern, und wir haben schließlich Gesetze, die alles, was nur entfernt an das erinnert, was in Arztpraxen gehört, außerhalb von diesen verbieten.

Ein Zuschauer weiß nicht recht, ob er sich zu dem Spaßerlebnis entschließen soll, der Hypnotiseur redet, der Mann zaudert, der Hypnotiseur macht eine entnervte Handbewegung und wendet sich ab, der Mann will nun eher doch, vielleicht ist er in seinen Überlegungen schon zu weit gegangen, hat sich den Spaß schon zu lebhaft ausgemalt, um ihn ohne Bedauern aufgeben zu können, auch hat er sich wohl in den Augen der anderen Zuschauer schon zu weit vorgewagt in Richtung Stuhl, sicher spürt er die drängenden Erwartungen derer, die ihn umgeben, da will er sich vielleicht keine Blöße geben und als Feigling dastehen, also macht er beherzt ein paar Schritte nach vorn, wo auch gleich der Hypnotiseur steht und ihn mit einem Händeschütteln empfängt.

Er schwingt den rechten Arm des Mannes mit seiner Linken wie einen Pumpenschwengel, lebhaft kreisend, sehr herzlich, geradezu überschwänglich, ein fröhliches Begrüßungsritual unter allerbesten Kumpeln, die sich lange nicht gesehen haben, hey, Alter, toll, dich zu sehen, mit der Rechten klopft er ihm auf die Schulter und lässt ihn dabei nicht aus den Augen, überhaupt scheint der Augenkontakt das Entscheidende zu sein. Dabei murmelt er in einer beruhigenden, geradezu einschläfernden Tonlage Sätze, deren Wortlaut nicht zu verstehen ist, die reiner Klang sind, reine Frequenz, auf die nun offenbar der Mann, der bemurmelt wird, eingestimmt ist, und in einer weichen fließenden Bewegung sinkt sein Kopf auf die Schulter des Hypnotiseurs. Er schläft. Mitten auf dem lebhaften Platz an einem sonnigen Herbstnachmittag. An der Schulter eines ihm völlig Unbekannten.

Der flüstert nun in sein linkes Ohr, in so ein Ohr passt viel hinein, es bleibt ja nicht drinnen, sondern fließt wie durch einen Trichter in Geist und Körper und vor allem ins Herz, in das nicht so viel hineinpasst, aber sowas merkt man ja immer erst, wenn es zu spät ist. Der Hypnotiseur tippt nun dem Mann, der immer noch schlafend in Regionen weilt, in denen er hoffentlich den erwarteten Spaß hat, auf das dritte Auge und geleitet ihn in den Stuhl, wischt mit einer Handbewegung seine Assistentin herbei, das Weitere zu übernehmen, und ich denke, die Frau kommt mir bekannt vor. Was unwahrscheinlich ist, denn ich kenne keine Hypnotiseure. Aber dann dreht sie mir den Rücken zu, auf dem T-Shirt steht freundlicherweise - hier geht es absolut korrekt zu - ihr Name, und ich sehe, ich kenne sie sehr wohl. Vor vielen Jahren ist sie eine Zeitlang in die Meditationsgruppe gekommen, die ich damals leitete.

Sie hat also eine Praxis aufgegeben, die von einem Lehrer übermittelt wurde, der gesagt haben soll: "Seid euch selbst ein Licht." Der seine Schüler aufforderte, selbst zu prüfen, selbst zu denken und nichts anzunehmen, das nicht durch eigene Erfahrung als wahr empfunden wird. Ein Lehrer, der sich selbst nicht als Lehrer sah, denn was ist das für ein Lehrer, der dazu ermuntert, nur der eigenen inneren Autorität zu gehorchen. Sie hat diese Freiheit und Klarheit des Geistes - die nicht leicht zu erringen ist und erschreckend sein kann, weil man früher oder später für die erkannte Wahrheit einstehen muss, und das kann einen ziemlich einsam machen -, hat diese Möglichkeit der Befreiung also eingetauscht gegen die Suggestion. 

 


 

Inzwischen ist der Mann im Campingstuhl erwacht und sieht erfreut aus. Vielleicht hat er ja etwas erlebt, das ihn bereichert hat. Ich kann mir das durchaus vorstellen; Menschen gehen unterschiedliche Wege. Hinter mir rauschen die Fontänen hoch. Es gibt dort so einen Springbrunnen, dessen in den Boden eingelassene Düsen minutenlang harmlos vor sich hinblubbern, um plötzlich und ohne Vorankündigung ihre Wassermassen in den Himmel zu schießen, und wehe, man steht gerade dazwischen. Dann kann man eine wertvolle Wahrheit erfahren: Gerade das, was so harmlos aussieht, so nach Spaß, kann sich blitzschnell ins Gegenteil verkehren.

An die Schulter des Hypnotiseurs sinkt gerade eine junge Frau. In einem Alter, in dem man noch so weich und beeinflussbar ist, so empfänglich für Suggestionen. Ich wende mich ab. Die Menschen gehen unterschiedliche Wege. Die Bedrückung, die ich verspüre, ist ganz allein meine.