Samstag, 31. Juli 2021

Erwartung


An manchen Tagen, wenn mir was einfallen soll, aber nichts einfällt, weil irgendwie die Öffnung nach oben (durch die im Allgemeinen was hereinfällt) nicht aufgehen will, ziehe ich mir meine Tarnkleidung an, das Grau-Braun-Schlammfarbene, und gehe mit meiner Kamera in die Stadt. Ich setze mich unauffällig in eine Ecke, wo ich harmonisch mit Stein und Beton verschmelze und beglückend uninteressant werde. Alte mit Rucksack, die an einer Kamera rumfummelt. Wahrscheinlich keine Ahnung von Technik. Schnell weiter, bevor sie uns noch um Hilfe bittet. Und so hasten sie vorbei, die Menschen, die immer irgendwohin wollen, weil sie glauben, den nächsten Augenblick mit ihrem Rennen schneller zu erreichen. Dabei kommt er doch ganz von selbst.

Sehen, ohne gesehen zu werden - ein alter Kindertraum.

"Die Welt verschenkt sich an deine Wahrnehmung", sagt Mary Oliver in ihrem Gedicht "Wildgänse". Ich sitze also an meiner Mauer, und die Welt schüttet ihre Gaben aus. Meine Kamera kann gar nicht so viel aufnehmen, wie ihr angeboten wird. Heute zum Beispiel hat mir eine Taube etwas Wichtiges über das Thema Erwartung erzählt. Ich sage ja in meinen Retreats immer, wir sollen bitte keine Erwartungen haben, denn wer etwas erwartet, lebt in einer imaginären Zukunft (die es nicht gibt) und nicht in diesem Augenblick (der einzigen Zeit, die es gibt). Erwartung macht blind für das, was ist; wir sehen es nicht, weil wir es nicht erwarten. Soweit ein Exkurs zur Praxis.

Aber jetzt die Taube. Bemerkt, dass da drüben Pizza gegessen wird, und stellt sich mal höflich an. Könnte ja sein, dass aus Versehen ein Stückchen Hefeboden mit Salami runterfällt, oder auch nicht aus Versehen, sondern, man darf die Hoffnung nie aufgeben, aus Tierliebe. Fällt aber nichts. Die Taube rückt näher und lässt ein kehliges Guckguck hören. (Bitte zum Bild dazudenken.) Die Zwei am Tisch sind mit der Vernichtung einer Pizza befasst, sie sehen die Taube gar nicht. Die verfolgt jeden Bissen vom Teller bis in den Mund mit ruckendem Kopf; es sieht aus, als sähe sie einem Pingpongspiel zu. Eine Taube in höchst präsenter Erwartung, gespannt vom Schnabel bis zur Schwanzfeder. Die ist nicht blind für das, was ist. Die ist hellwach. 


 

Und dann wendet sie sich ab, mit einer einzigen Bewegung. Gesellt sich zu einer andern, die gar nicht erst auf die Pizza gesetzt hat, sondern Streetfood wählt. Und ich da an der Mauer denke: Die Erwartung ist nicht das Problem. Wir müssten nur das vergeblich Erhoffte im Bruchteil einer Sekunde aus unserem Geist entlassen können, ohne Bedauern, ohne Vergleich, ohne zurückzuschauen. Aber in unseren menschlichen Köpfen hat es sich inzwischen vermutlich verselbstständigt, hat Formen, Geruch und Geschmack angenommen ("Mit Salami! Und Peperoni! Und Mozzarella!").

Also bleibe ich vielleicht doch bei meiner Warnung vor der Erwartung. 


Mittwoch, 14. Juli 2021

Voces8 singt Rheinberger

 


"Abendlied" von Rheinberger in unübertroffener Schönheit gesungen

von meiner Lieblingsgruppe Voces8.

Habt eine gute Zeit.


Freitag, 9. Juli 2021

In der Grauzone


Dieser Sommer in Süddeutschland ist ein Sommer in der Grauzone. Die Grauzone hat ja keinen guten Ruf. Sie ist irgendwie zwielichtig, kein Ort, an dem sich ein ordentlicher südbadischer Vorortbürger aufhalten möchte. Weiß man ja nicht, was einem da so begegnet (an zwielichtigen Gestalten). Die Grauzone ist, wenn sie kein Ort ist, ein Zwischenzustand, weder Weiß noch Schwarz, metaphorisch gesagt: weder gut noch schlecht. Also neutral. Die Neutralität wiederum hat auch nicht gerade viele Anhänger. Man kann sich als Neutraler nämlich nicht profilieren. Die Neutralen machen keine Karriere, die bemerkt keiner, die sind irgendwie unsichtbar. Genau: sie sind grau.

Die, über die man spricht, also die angeblichen Gewinner unserer Gesellschaft, befinden sich auf der Buntseite. Da, wo die Farben grell sind, die Töne laut, die Bewegungen heftig. Dort werden Kontakte geknüpft, Fäden gezogen, dort sind die Urteile klar und werden zweifelsfrei geäußert. Dort sind alle Kanten klar gezeichnet, die Schatten sind hart, das Licht ist es nicht minder. Aber bunt. Auf jeden Fall sehr bunt.

Eigentlich.

Aber dann dieser Sommer. Da zeigt uns einer, wozu die Grauzone fähig ist. Von wegen Neutralität. Es kracht und gießt, aus Kellern suppt es auf die Straße, Gullys würgen ihren Inhalt hoch. Ein Sommer, der sich als graue Eminenz profiliert und klare Ansagen macht. Der unseren Vorstellungen von Sommer den Pfützenspiegel vorhält. Ein Sommer, den die Meditationslehrerin freudig als Beispiel ergreift, um den Satz lebensnah zu erklären, der da heißt "lass alle Erwartungen los und sag ja zu dem, was ist".

 


 

Und was passiert dann? Genau: Die Grauzone erweist sich als ungewohnt und aufregend. Wer hat gesagt, dass Grau eine langweilige Farbe sei? Laut Graustufentabelle auf Wikipedia hat sie 256 Nuancen. Kann man jetzt am Himmel studieren, alle auf einmal. Dieser Sommer hat sogar ein eigenes Lied: das Geräusch des Regens, der auf die Blätter tropft. Ein Sonnensommer kriegt das nicht hin, der braucht einen eher minderbegabten Songschreiber, der ihm einen Sommerhit komponiert, in dem von Sohohonne die Rede ist und der dann auf allen Radiokanälen läuft.

Ach, und die Tropfen, die an den Glockenblumen baumeln, und dann kommt so eine Hummel, wackelt sich mit ihrem dicken Hintern in den Kelch, und der Tropfen fällt runter, ganz lautlos ...


Samstag, 3. Juli 2021

Wer bin ich JETZT?

 

Ich glaube, es ist Zeit für ein Innehalten und Nachspüren. Jetzt, wo doch fast "alles wieder möglich ist". Wo man "endlich" wieder nach Mallorca fahren, in die Fußball-Stadien rennen und sich mit der so lange vermissten Kultur vollsaugen kann.

Es fühlt sich ein wenig an wie "früher", wenn wir die allgegenwärtigen Maskengesichter ignorieren (haben uns ohnehin an die gewöhnt). Aber es ist eben nicht "früher". 

Halten wir doch bitte einfach mal inne und lauschen wir in uns hinein. Wir wurden fast eineinhalb Jahre mit ständig neuen Hiobsbotschaften gefüttert, wurden in immer neue Beschränkungen gezwungen, haben uns so gut es geht informiert aus hoffentlich seriösen und neutralen Quellen (die leider schwer zu finden waren), haben uns mehr oder weniger gefügt, waren mehr oder weniger geduldig. Das alles hat etwas mit uns gemacht, und wir brauchen Zeit und Ruhe, um herauszufinden, was es mit uns gemacht hat. Mit jeder und jedem Einzelnen. Keine und keiner von uns ist noch genau die Person, die an einem Wochenende im Februar 2020 - zufällig und leider verhängnisvollerweise war es das Faschings-Wochenende - zum ersten Mal das Wort Corona gehört hat.

Wir sind ja immer Gewordene und Werdende zugleich. Warum fragen wir uns nicht: Wer bin ich geworden in dieser außergewöhnlichen Zeit? Ist diese Person, die ich "Ich" nenne, wirklich noch die, die sie war im Februar 2020? Hat dieses Ich noch dieselben Bedürfnisse wie damals (Reisen in den Süden, Kino, Fußballspiel, Restaurantbesuche, Parties)? Oder haben sich in der Ruhe und relativen Stille der letzten Monate neue Prioritäten geformt, ganz leise? Die, wenn ich sie nicht erforsche, unbemerkt versinken werden, weil ich einfach so weitermache wie früher. Weil ich mein neues Ich und meinen veränderten Geist nicht kennenlernen will. Es soll ja endlich wieder die Sicherheit des Schon-immer-Dagewesenen herrschen. 

So gehen wichtige Momente vorüber, so werden Chancen vergeben: Möglichkeiten der Kreativität, der Entdeckung von Neuem, vielleicht Herausforderndem, vielleicht Erfüllendem.

Bitte einfach mal fragen. Ohne Urteil und Erwartung. Neugierig auf alles, was sich als Antwort zeigt. Die vielleicht überraschend ist und deshalb verunsichernd: Wer bin ich JETZT? Jede Antwort ist "richtig", keine ist "falsch". 

Es ist Zeit für ein Innehalten auf der Schwelle zu einer anderen Freiheit, die nicht dieselbe sein wird wie die alte.