Sonntag, 23. August 2020

Morgenlicht. Abendlicht.


Ein Sommermorgen am See. Nur die Enten und ich im klaren Licht, das noch ungetrübt ist von den Abgasen der Lkw, die sich bald über die Landstraße schieben werden. Eine Stunde der Klarheit und Reinheit. Oder: Die erste Meditationsrunde an einem frühen Wintermorgen in einem meiner Retreats. Während wir sitzen, dämmert über den Bergen der Tag herauf, die Nacht weicht zurück, und das Licht füllt den Raum mit seiner Energie.

Als ich in den Bergen lebte, bin ich im Sommer um vier Uhr morgens über den Höhenweg gelaufen und habe die Kühe auf den Almen begrüßt. Am Morgen erwacht die Welt neu, alles erscheint möglich in der Klarheit und Stille. Die besten Texte schreibe ich zwischen fünf und acht Uhr; dann sind meine Gedanken luzide, die Sprache ist einfach und leicht.

Am Morgen sammle ich Licht für den Tag, diese lange Strecke bis zum Abend, die nicht immer leicht zu bewältigen ist. Ich sammle - wie ein Eichhörnchen Nüsse sammelt - Strahl für Strahl und fülle sorgfältig meinen inneren Lichtvorrat. Licht hat gegenüber Nüssen den Vorteil, sehr leicht zu sein; man kann es mühelos überallhin mitnehmen. Wenn der Tag mir dann besonders viel Lärm, Schmutz und Unfreundlichkeit beschert, erlaube ich meinem Geist, sich an dem Vorrat zu bedienen. Dann stehe ich vielleicht an irgendeiner belebten Straßenecke, um mich herum hupt es, Sirenen heulen, jemand brüllt seinen Hund an. Ich aber stehe im Geist am Ufer des Sees, in dessen klarem Wasser sich eine Ente auf einem Stein spiegelt. Im Licht.

Licht ist ansteckend; in diesem Fall ist das eine gute Nachricht. Man kann es nicht aufhalten, es fließt einfach hinaus, in den Lärm, den Schmutz, die Unfreundlichkeit. Manchmal verwandelt es die Unfreundlichkeit in Freundlichkeit, oft allerdings nicht - aber für den, der im Licht steht, ist das eigentlich gar nicht wichtig.


Wie gut, dass jeder Tag ein Ende hat, denn jetzt kommt die Zeit des Abendlichts. Es hat nicht die Klarheit und Schärfe des Morgenlichts; sein Wesen ist Sanftheit, seine Energie die der Umarmung. Am Seeufer quaken leise die Enten im Schilf; im Zendo sitzen wir bei Kerzenschein, während sich die Stille über die Stadt senkt. Das Abendlicht ist kostbar; ich sammle es für die besonderen Stunden, in denen ich seine beschützende Energie brauche. Stunden der Krankheit, der Trauer, des Abschieds.

Vergesst nicht, Licht zu sammeln. Wir brauchen viel davon, für uns selbst und für alle, die vergessen haben, was Licht ist.

Mittwoch, 19. August 2020

Freitag, 14. August 2020

Jeder Augenblick ist ein Tempel (2. Teil)


Erschienen in: EIAB Magazin, Europäisches Institut für Angewandten Buddhismus, Waldbröl, August 2019
Text und Fotos: Margrit Irgang

Dieser Text wurde in der Vor-Corona-Zeit geschrieben, aber wenn ich die abstrusen Behauptungen der Verschwörungstheoretiker, Rechten und sonstigen Egozentriker aller Seiten höre und die Bilder der Demonstrationen in Berlin und Stuttgart anschaue, erscheint mir der Text sehr aktuell.


Wahrnehmung findet statt in einem weit offenen Herzensraum, in den ich mein Gegenüber einlade, damit es sich vertrauensvoll zeigen kann mit all seinen Bedürfnissen. Aber kaum ist es eingetreten, ist es schon kein Gegenüber mehr. Wir beide sind in eine neue Beziehung eingetreten, eine ziemlich nahe, und jetzt kann ich mich nicht mehr heraushalten aus der Sache und sie nach Belieben beenden. Auf einmal geht mich alles an, was den oder die andere angeht. Das kann sehr glücklich machen und manchmal sehr wehtun. Auch diese Gefühle und viele andere, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte, nehme ich jetzt in aller Klarheit wahr. Und was für düstere Gedanken wandern da eigentlich in meinem Kopf herum?

So ist das mit der Wahrnehmung: Sie reißt alle von uns künstlich aufgerichteten Grenzzäune ein und stellt uns in eine offene Weite. Diese Weite hatte ich eigentlich gar nicht gesucht, sie verunsichert mich. Irgendwie passen meine mir liebgewordenen Meinungen nicht mehr zur Situation, meine Überzeugungen zerbröseln in Windeseile, alles in allem fühle ich mich, ehrlich gesagt, ziemlich unsicher. In diesem Moment begegnen wir hoffentlich einem Menschen oder einem Buch, die uns versichern, dass wir uns im wichtigsten aller Zustände befinden, dem Zustand des Nicht-Wissens. Jetzt, genau jetzt, kann das ganz Neue eintreten. Es kann eintreten, weil wir in unserer Praxis gelernt haben, innezuhalten und genau wahrzunehmen, was in uns und um uns herum geschieht.Wenn ich keine Trennung mehr erfahre zwischen „mir“ und „dem anderen“ - sei es ein Mensch, ein Tier oder die gefährdete Natur -, weiß ich auf einmal ohne Zweifel, was zu tun ist.

Zu sehen wie Gandhi, Martin Luther King, Thich Nhat Hanh oder heute vielleicht Greta Thunberg bedeutet, unmittelbar zu handeln. Und Handeln heißt: Antwort mit dem eigenen Leben geben. Das muss nichts Großartiges sein und findet bei den meisten von uns sicher nicht auf weltpolitischer Bühne statt. Vielleicht teilen wir Suppe aus im Obdachlosenheim, pflanzen einen Baum oder halten einfach schweigend die Hand des Menschen, der das gerade braucht. Wir wissen, was zu tun ist, wenn wir der Weisheit unserer inneren Stille lauschen, die uns mit der Ganzheit, dem großen Intersein verbindet.



Ich bin in dem Alter, in dem man ab und an, vorerst noch spielerisch, darüber nachdenkt, wie der Moment des Übergangs in das andere Sein sich wohl anfühlen wird. Ich hoffe, mich wird eine nie erfahrene große Stille aufnehmen. Meine innere Stille ist vorerst noch klein, aber sie spricht seit vielen Jahren zu mir und sagt mir leise, was ich tun und was besser lassen soll. In letzter Zeit ist sie etwas bedrückt. Sie findet Aktionen wie „Fridays for Future“ sehr wichtig, befürchtet aber, dass die Menschen in Gefahr sind, ihren inneren Frieden zu verlieren. Sie sehe, sagt meine Stille, viel Wut, Erschöpfung und Depression bei Aktivisten, aber wenig Freude. Die Welt brauche jedoch glückliche Menschen so nötig wie reine Luft.

Vor fast dreißig Jahren sah ich den Erntemond über Plum Village aufgehen in einer Stunde der Stille und des Friedens. Die Welt in jenem Moment war rund und vollständig, nichts fehlte ihr. Nichts fehlte mir. Heute weiß ich, wie ich diese Stille auch inmitten des äußeren Lärms jederzeit berühren kann. Dann ist die Welt für einen Moment wieder und noch immer voll Schönheit und unbegreiflicher Größe. Eine Welt, die glücklich macht.

Samstag, 1. August 2020

be a bee


Ich habe gelernt, dass jede Biene sich von ganz bestimmten Pflanzen angezogen fühlt. Nur diese Pflanzen fliegt sie an, keine anderen. Die Sehnsucht nach diesen Pflanzen ist ihr Kompass. Dort, nur dort, sammelt sie Pollen und Nektar. (Andere Bienen sammeln bei anderen Pflanzen. Es kommen alle Gattungen dran.)

Ich habe gelernt, dass auch die Pflanze Sehnsucht nach der Biene hat. Mit den Pollen am Haarkleid der Biene werden ihre Stempel bestäubt; ohne Pollen würde sie aussterben. Sie lockt die Biene an mit betörendem Duft und hofft, schneller Bienenbesuch zu bekommen als ihre Schwester nebenan. Die Bienen-Gemeinschaft wiederum sehnt sich nach den Pollen und dem Nektar, weil diese ihren Nachwuchs im Bienenstock ernähren. Muss ich ausdrücklich den Honig erwähnen, der wiederum uns ernährt?

***

So folge ich dem Kompass meiner Sehnsucht. Wo Diskriminierung, Rassismus, Verachtung, Pflicht ohne Freude herrscht, Mühsal ohne Leichtigkeit, finde ich keine Nahrung. Meine Aufgabe verbirgt sich in dem, was mich anzieht. Es lockt mich an (der Duft kann betörend sein). Es will, dass ich Nahrung aus ihm sammle, Nektar und Pollen, um beides zurück in den großen Kreislauf einzuspeisen, der die Natur im Gleichgewicht hält.

So sammle ich still und unauffällig vor mich hin, Tag für Tag. Ein Lichtstrahl auf einer Mauer, eine Bewegung im Schatten eines Tores, ein Lied aus einem offenen Fenster, eine Sommernacht mit Freunden im Garten, ein Wort, aufgefangen aus einem Gespräch Fremder im Vorübergehen. Eingesammelt. Mitgenommen. Zurückgegeben in den Kreislauf des Lebens in Form eines Bildes, eines Gedankens, eines Gedichts. 

Damit die Poesie nicht ausstirbt. Die Welt würde ihren Tod nicht überleben.