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Donnerstag, 11. September 2025

Erhaltet die Lesekultur!

 

Sieht man schon von Weitem: unseren Bücherturm


Spoiler: Dies wird, aus gegebenem Anlass, ein einseitiger, parteiischer Beitrag zum Erhalt der Lesekultur. 

Ich lebe in einem hübschen Vorort von Freiburg, der eine eigenständige Gemeinde ist; Freunde von mir bezeichnen ihn als "Schlafstadt". Wir haben kein Kino, kein Theater, keinen Musiksaal, kein Schwimmbad. Aber wir haben eine fabelhafte Bücherei. Mit einem Bibliothekar, der sich auskennt und uns erlaubt, Anschaffungsvorschläge zu machen. Mit mir hat er in gewisser Weise Pech, denn auch ich kenne mich aus (und bekomme fast alle von mir vorgeschlagenen Bücher 😉). Dann sind da noch zwei sehr nette Damen, die im Mini-Job die Ausleihe managen. Die Bücherei ist hell und luftig, es gibt Sessel zum Verweilen, Magazine zum Lesen und Ausleihen, DVDs und eine Kaffee-Maschine. Für die Kinder Lesungen und Spiele-Nachmittage. Muss ich erwähnen, dass es meistens proppenvoll ist, mit Kleinen und Großen?

Ein Erfolgs-Modell, unsere Bücherei. Aber die Gemeinde hat, wie alle Kommunen, ein Geldproblem. Es fehlen jährlich anscheinend über zwei Millionen. Weil in der Gemeindeverwaltung niemand Erfahrung hat mit der Einsparung einer solch großen Summe, wurde ein externer Berater engagiert. Der schaute sich sämtliche Posten an, und wie Volkswirte das so tun, rein nach wirtschaftlichen Erwägungen. Er sprach die Empfehlung aus, die Kita-Gebühren zu erhöhen, die Zuschüsse für Vereine zu streichen und die Bücherei zu schließen.

Große Empörung auf allen Seiten. Wir Leserinnen und Leser waren die Ersten, die eine Petition starteten zum Erhalt der Bücherei. Ich war die sechste Unterzeichnerin, binnen drei Tagen waren es an die vierhundert. Die Kita-Eltern waren die nächsten; ihre Petition mit QR-Code hängt an allen Bushaltestellen. Ich kenne niemanden, der in einem Verein ist; dort wird es auf ähnliche Weise gären. 

Jetzt stelle ich überrascht fest, dass unsere kleine Lese-Oase Wut und Neid weckt. Mitgehörtes Gespräch zweier erregter Väter im Supermarkt: "Die sollen die Kita-Gebühren in Ruhe lassen und die Bücherei schließen!" Liebe Väter, eure Kita-Kinder kommen irgendwann ins Lese-Alter. Wenn ihr eine Leseratte zu Hause habt, wird das Kind euch arm lesen. Spätestens dann werdet ihr die Bücherei als Segen empfinden. Und habe ich nicht neulich erst gehört, dass die Kinder immer weniger Sprachkompetenz haben und Schulen sich den Kopf zerbrechen, wie man die Kleinen ans Lesen heranführen kann?

Oh doch, ich verstehe euch alle. Jeder von uns hat seine und ihre Prioritäten; wir möchten, dass alles so bleibt wie bisher (oder besser noch viel besser wird). Das wird aber in keinem Bereich funktionieren, also brauchen wir uns nicht gegenseitig in die Fördertöpfe zu spucken.

Bei einer der jetzt üblichen Diskussionen vor Ort schlug ich vor, die Benutzergebühren zu verdoppeln. Eine Frau, die vier Bücher im Arm hatte, schmollte: Das sei ihr zu teuer. Da würde sie austreten. Diese Frau zahlt jedes Jahr zehn Euro für unbegrenzte Lektüre, und falls sie eine Familie oder auch nur einen Ehemann hat, zahlen die alle zusammen ebenfalls nur zehn Euro. In meiner Kindheit kostete die Ausleihe jedes Buches zehn Pfennig, und weil ich lesesüchtig war und von meiner Mutter in der Woche nur dreißig Pfennig für die Bücherei bekam, wählte ich meine Bücher konsequent nach ihrer Dicke aus, egal, was drinstand. Wichtig war nur, dass ich nicht plötzlich am Wochenende ohne Lesestoff dasaß.

Wie viel ist uns der Erhalt unserer Kultur wert? Wissen wir die Angebote vor Ort noch zu schätzen? All die Bibliotheken, Museen, Konzertsäle, die samt und sonders subventioniert werden müssen, denn unsere Eintrittsgelder und Gebühren sind nicht mehr als ein symbolischer Beitrag. 

Inzwischen gibt es eine überarbeitete Version des ersten Vorschlags. Sie enthält die "Option 4" unter der Überschrift "Diese Maßnahmen wurden auf Grund ihrer Sensibilität unter der Prämisse der haushaltswirtschaftlichen Notwendigkeit geprüft": "Anpassung der Kita-Öffnungszeiten, Stilllegung Kühlzelle in zwei Leichen- und Trauerhallen und Reduzierung des Budgets der Bücherei um 20 %". 

Ich drängte den Bibliothekar, doch nun wirklich die Benutzergebühren zu erhöhen. Er schaute mich nachsichtig an. "Sie werden erhöht", sagte er. "Aber die Erhöhung kommt uns nicht zugute, die geht in den allgemeinen Schuldentopf."

Wer Bücher liest, ist kreativ. Der und dem fällt was ein. Die und der lässt sich nicht einfach so 20 % Lesefreude wegnehmen. Kommt nicht in Frage. Der kreative Vorschlag ist schon da: Wir gründen einen Freundeskreis mit Mitgliedsbeitrag und bieten Veranstaltungen an, deren Einnahmen wir der Bücherei spenden. 

Unserer Bücherei.

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Donnerstag, 28. August 2025

Jiddu Krishnamurti "Einbruch in die Freiheit"

 



Im Speisesaal des Intersein-Zentrums hängt seit Jahren an einer Säule ein handschriftlicher Zettel mit einem Zitat von Jiddu Krishnamurti: "Mein Geheimnis ist: Ich habe nichts gegen das, was geschieht." Das ist ein Lieblings-Satz von Helga Riedl. Bei meiner letzten Retreat-Gruppe erregte der Zettel auf einmal Aufmerksamkeit und wurde lebhaft diskutiert. Wie, ich soll nichts dagegen haben, dass Russland die Ukraine bombardiert, dass im Gaza-Streifen die Menschen verhungern? Das ist doch komplette Ignoranz, esoterisches Geschwafel, das ist Gleichgültigkeit gegenüber den brennenden Problemen in der Welt, gegen die wir etwas unternehmen müssen.

Nun führt ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat ja oft zu Missverständnissen. Ich weiß auch nicht, in welchem Kontext Krishnamurti das gesagt hat; allerdings habe ich zwei Jahre seine Sommerschule in Saanen in der Schweiz besucht und kenne ihn gut genug, um ein wenig Klarheit in die Aussage zu bringen. Krishnamurti war der revolutionärste, kompromissloseste Geist, dem ich je begegnet bin. Ich halte ihn bis heute für meinen wichtigsten, meinen eigentlichen Lehrer.

In allen spirituellen Schulungen - auch in der von Thich Nhat Hanh - steht vor dem Tun das Sein. Denn solange unsere Handlungen von einem aufgewühlten, unbefriedeten und konditionierten Geist gesteuert werden, der blind auf äußere Reize reagiert, tragen sie nicht zu Lösungen und zum Frieden des Ganzen bei. Da lesen wir morgens die Zeitung, schauen abends die Tagesschau, sehen Gewalt, Ungerechtigkeit, Katastrophen in jeder Form und auf jedem Gebiet und suchen empört dafür die Schuldigen im Außen. So bleibt das Geschehen auf der intellektuellen Ebene hängen, wo wir es in sicherer Distanz halten, und erreicht nicht unser Gefühl.

Krishnamurti machte dazu schon in den 1970er Jahren eine klare Aussage: "Jeder von uns ist für jeden Krieg verantwortlich, denn unser Leben ist voller Aggressivität; wir haben unseren Nationalismus, wir sind voller Selbstsucht, haben unsere Götter, unsere Vorurteile, unsere Ideale - und das alles trennt uns voneinander. Und nur, wenn wir klar erkennen - nicht intellektuell, sondern so wirklich, wie wir unseren Hunger oder unsere Schmerzen empfinden -, dass Sie und ich für das bestehende Chaos verantwortlich sind, für das Elend in der ganzen Welt - denn wir haben durch unser tägliches Leben dazu beigetragen und sind Teil dieser monströsen Gesellschaft mit ihren Kriegen, Einteilungen, ihrer Hässlichkeit, Brutalität und Gier -, nur dann werden wir wirklich handeln."

Erst wenn wir mit Bestürzung erkennen, wie gewalttätig wir selbst in Gedanken und Worten sind - am Küchentisch mit unseren Familien, im Kollegenkreis, in der Nachbarschaft -, erst dann beginnen wir zu ahnen, dass wir das Ganze falsch angegangen sind. Wir ziehen unsere Vorwürfe gegen "die da oben, das da draußen" total zurück. Wir sagen: "Ich habe nichts gegen das, was geschieht", weil wir wissen: Das wahre Problem ist mein eigener verwirrter und konditionierter Geist. Ich mache das Äußere nicht mehr verantwortlich für meine Wut, meine Aggression, meine Resignation - und auch nicht für mein Gefühl der Hilflosigkeit. Das ist der Sinn jeder spirituellen Schulung und alles andere als esoterisches Geschwafel: Es ist anspruchsvollste innere Arbeit, die nicht immer angenehm ist. 

Jiddu Krishnamurti sagte: "Jeden Tag sehen oder lesen wir von schrecklichen Dingen, die in der Welt als Auswirkungen menschlicher Gewalttätigkeit geschehen. Sie mögen sagen, 'Ich kann dagegen nichts tun' oder 'Wie kann ich die Welt beeinflussen'. Ich glaube, dass Sie die Welt ungeheuer beeinflussen können, wenn Sie innerlich nicht gewalttätig sind, wenn Sie täglich wirklich ein friedvolles Leben führen, ein Leben, das ohne Wettkampf, Ehrgeiz, Neid ist, ein Leben, das keine Feindschaft erzeugt. Kleine Flammen können zum lodernden Feuer werden."

Es ging Krishnamurti nie um ein bisschen "Achtsamkeit". Es ging ihm um das Erwachen zu unserem Wahren Wesen, um ein Leben, das radikal frei ist von allen Konditionierungen, Überzeugungen und Vorstellungen. Das Buch, aus dem ich zitiert habe, heißt "Einbruch in die Freiheit", und ich empfehle es allen, die das Denken von Krishnamurti kennenlernen wollen. Ein dünnes Taschenbuch, nicht teuer - und eigentlich braucht man nach dem Lesen kein weiteres Buch über Spiritualität. 


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Samstag, 2. August 2025

David Steindl-Rast "HerzWerk"

 

Ich habe dieses schöne Buch geschenkt bekommen und muss es mit euch teilen. Der Benediktiner-Mönch David Steindl-Rast liebt Rilke (ich liebe beide, Rilke und Bruder David), und er legt die "Sonette an Orpheus" in diesem Buch im Gespräch mit Alexandra Kreuzeder so kundig und in großer Tiefe aus, wie ich es sonst nur von Dichtern kenne. Ja, David Steindl-Rasts Texte sind selbst Dichtung. Ich habe mich bisher eher mit anderen Gedicht-Zyklen von Rilke befasst, aber jetzt, wo mich David Steindl-Rast so liebevoll an die Hand nimmt, bin ich erstaunt über den sprachlichen und spirituellen Reichtum in den Orpheus-Sonetten.
 
In dem Sonett "O dieses ist das Tier, das es nicht giebt" zum Beispiel besingt Rilke die berühmten Einhorn-Wandteppiche. David Steindl-Rast fragt: "Ist das nicht purer Unsinn? Was es nicht gibt, ist eben nicht wirklich. Ja, es ist unwirklich für alle, denen nur das Handgreifliche als wirklich gilt. Und leider sind das zu viele unter uns." Für die Schöpfer der Wandteppiche jedoch war das Einhorn wirklich, und für Kinder ist es das auch.
 
Im Sonett II,27 fragt Rilke: "Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche, in den Wurzeln - später - still?" David Steindl-Rast sagt dazu: "Nein. Das Kind in uns schläft nur 'bei den Wurzeln'. Dichtung will dieses Kind in uns aufwecken. Es will ja aufwachen, weil unsere Kindheit zu kurz war, um das Kind zu werden, das wir eigentlich sind. Auch das Kind in dir dichtet und liebt das Einhorn."
 
Und, zum Sonett I,19 "Wandelt sich rasch auch die Welt": "Für den Dichter besteht offenbar der Reifungsprozess eines Menschenlebens in fortschreitendem Verwandeln, bei dem das Außen immer geringer wird und schließlich verschwindet, wenn aller von uns lebenslang eingeheimster Nektar des Sichtbaren zu Honig wurde - im unsichtbaren Bereich. Er nennt uns Menschen ja auch 'die Bienen des Unsichtbaren'."
 
Rilke weiß, dass es keine Trennung gibt zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt: "Es gibt weder ein Diesseits noch ein Jenseits, sondern die große Einheit ... Engel wissen oft nicht, ob sie unter Lebenden gehen oder Toten." Für Rilke gibt es auch keine Trennung zwischen dem Schmerzhaften und Beglückenden. In einem Brief an Emmy Hirschfeld schreibt er: "Was von uns verlangt wird, ist, dass wir das Schwere lieben und mit dem Schweren umgehen lernen. Im Schweren sind die freundlichen Kräfte, die an uns arbeiten. Mitten im Schweren sollen wir unsere Freuden haben, unser Glück, unsere Träume; da, vor der Tiefe dieses Hintergrunds, heben sie sich ab, da sehen wir erst, wie schön sie sind."
 
Das Buch ist so reich, weil die beiden Autoren auch Briefe und andere Gedichte von Rilke heranziehen, um den Kosmos der "Sonette an Orpheus" zu vertiefen. Ich könnte hier viele Lieblings-Stellen zitieren, aber lest doch am besten selbst. Das Buch gehört zu den Büchern, die man nie "ausliest", mit denen man nie "fertig ist". 
 
David Steindl-Rast und Alexandra Kreuzeder "Herzwerk. Freude finden mit Rainer Maria Rilkes 'Sonette an Orpheus'", mit sehr schönem Leinen-Einband, Tyriolia Verlag, ISBN 978-3-7022-4257-2, 25 EUR.
 
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Sonntag, 27. Juli 2025

Straßenkind

 

 

In einem öffentlichen Bücherregal habe ich ein Buch von mir gefunden. 

Jemand hat das also gelesen und nicht in die Papiertonne geworfen, weil die Person fand, dieses Buch sollten auch andere Menschen lesen. Das ist sehr nett und nicht selbstverständlich. Trotzdem war ich etwas erschrocken. Dem Autor Frank Berzbach ist das auch mal passiert. Er schreibt treffend: "Auf die eigenen Bücher zu stoßen, zufällig, erinnert daran, was man überhaupt macht, wenn man schreibt. Da geistern Objekte mit Herzblut durch die Welt, deren Wege man nicht steuert. Menschen, die man noch nie gesehen hat, kennen einen."

Ich habe impulsiv zugegriffen und mein Buch mitgenommen.

Jetzt denke ich darüber nach, warum ich das getan habe. Ich habe einen vernünftigen Grund dafür: Meine Bücher sind alle vergriffen; wenn eins im Antiquariat angeboten wird, kaufe ich es. Ganz klar, dass ich dieses nicht stehenlassen konnte. Aber die Erklärung bleibt an der Oberfläche. Die Wahrheit liegt, wie immer, in den Gefühlen.

Mein Buch dort zu sehen war, als würde mein Kind allein in einer Menschenmenge stehen. Ich dachte: Was sind das für seltsame Leute, von denen es umgeben ist, wie ist es unter die geraten? Die kenne ich alle nicht. Dort kann es ihm nicht gutgehen. Wie die meisten Mütter wünsche ich für mein Kind die passende Umgebung, in der es strahlen und seine Vorzüge zur Geltung bringen kann. Zum Beispiel auf dem Tisch mit dem Schild "Besondere Empfehlungen" in einer guten Buchhandlung. 

Eingezwängt zwischen Bücher, von denen ich nicht eins lesen wollte, stand mein Kind in seiner Aura der Verlorenheit herum. Mein Kind ist kein Straßenkind. 

Also nahm ich es an die Hand und brachte es nach Hause. 

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Freitag, 2. Mai 2025

Das verborgene Licht

 

Kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 2016 habe ich dieses Buch schon einmal vorgestellt. Aber wie sehr hat sich doch die Welt verändert in dieser, geschichtlich gesehen, so kurzen Zeit. Ich finde, wir brauchen die Geschichten in "Das verborgene Licht" heute mehr denn je. Sie sind so unglaublich reich und wertvoll.

Die Weisheit von Frauen wurde im Buddhismus bis vor Kurzem ignoriert; viele Lehren und Praktiken entspringen einer männlichen Sicht. Die beiden Herausgeberinnen Zenshin Florence Caplow und Reigetsu Susan Moon haben deshalb historische Geschichten ausgegraben, in denen weise Frauen zu Wort kommen. Keine Priesterinnen oder hohen Würdenträgerinnen. Diese Frauen verkaufen vielmehr am Straßenrand Tee und Reiskuchen, erwachen beim Kochen eines Currys oder sind sogar Kurtisaninnen. Aber wehe, ein Mönch lässt sich in seiner Herablassung auf einen Disput mit ihnen ein. Mit einem Satz können sie ihm zur Erleuchtung verhelfen, und notfalls hauen sie ihm eins über den Schädel. Sie sind allesamt Außenseiterinnen, unabhängige Alleinlebende, herrlich unkonventionell und mit scharfem Blick und Verstand gesegnet.

Die Herausgeberinnen nennen diese kurzen Geschichten "Koans", und das sind sie auch. Keine Koans aus dem klassischen Kanon, sondern Alltags-Koans. Sie werden auf sehr persönliche Weise betrachtet von Lehrerinnen diverser buddhistischer Traditionen aus dem anglikanischen Raum und - dank der Verlegerin der deutschen Ausgabe, Ursula Richard - zusätzlich auch von sechzehn deutschsprachigen Lehrerinnen. Die Kommentare sind das Herzstück des Buches. Jede dieser historischen Geschichten wird als hilfreich für den ganz gewöhnlichen Alltag von Frauen dargestellt. Was nützen uns ellenlange Rezitationen? Wir möchten wissen: Was kann ich von dieser meiner Ahnin lernen für meine Arbeit im Büro, für den Frieden in meiner Familie, das Kochen und Putzen und Sorgen für andere? 

Ich durfte auch eine Auslegung beitragen und habe dieses Erleuchtungs-Gedicht der knorrigen alten Chen gewählt:  

Ganz oben auf den Berghängen sehe ich nur alte Holzfäller.
Jeder hat den Geist des Messers und der Axt.
Wie können sie die Bergblumen sehen,
gespiegelt im Wasser - leuchtend, rot?

Ich finde es ein wunderbares Gedicht, das unsere gegenwärtige Situation poetisch beleuchtet.

Das Buch ist ein Schatz fürs Leben, den man nie "ausliest". Auch Männer werden sehr von der Weisheit der Frauen profitieren. Die Herausgeberinnen schreiben in ihrem Vorwort: "Diese Geschichten sind als Spiegel für unser eigenes Leben und unsere eigene Praxis gedacht. Jede Geschichte ist ein Geschenk einer weiblichen Ahnin an Sie, gleichgültig, ob Sie nun ein Mann oder eine Frau sind." 

Florence Caplow, Susan Moon "Das verborgene Licht. 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren, betrachtet von (Zen-)Frauen heute. Aus dem Englischen (sehr gut) übersetzt von Karin Petersen. edition steinrich, ISBN 978-3-942085-48-9.

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Sonntag, 13. April 2025

Der Bücherdieb

 

Hier wär`s legal


Bei uns gibt es Sozialkaufhäuser, die eine fabelhafte Auswahl an Büchern haben. Jedes Buch ein Euro, mittwochs siebzig Cent. Vor einem Monat habe ich einen Karton Bücher gespendet, Romane von guten Autoren, die es schaffen, gleichzeitig klug und unterhaltsam zu schreiben. Raritäten also.  Ich freue mich zu sehen, dass nur zwei meiner Bücher keinen Käufer gefunden haben. In einem von ihnen blättert gerade ein Mann, den ich hier noch nie gesehen habe. Ausgebeulte Hose, unförmiges Cord-Jackett, aber ein tadelloser Haarschnitt. Pensionierter Lehrer, gescheiterter Philosoph, Künstler? Er stellt das Buch zurück und greift nach dem zweiten meiner Bücher. 

Hinten bei den Haushaltsgeräten gibt es eine kleine Explosion, so was kommt öfter vor. Die gespendeten Geräte werden zur Probe angeschlossen und erweisen sich als reparaturbedürftig. Als ich mich wieder umwende, sehe ich eine Hand mit meinem Buch in der Tasche des Cord-Jacketts verschwinden. Sehe jetzt auch, wovon diese Hose so ausgebeult ist. Der Mann besorgt sich seinen Lesestoff fürs Wochenende, offenbar ein Vielleser. Jetzt schlendert er zum Ausgang, betont unauffällig. Es fehlt nur, dass er zu pfeifen anfängt. Ein Anfänger. Muss im hohen Alter noch eine nie geübte Tätigkeit erlernen, sie liegt ihm nicht, das sieht man ihm an. 

An der Kasse vorbei, an der unübersehbar ein Schild hängt mit der Aufschrift "Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht". Ich beginne zu grübeln. Wo ist die Anzeige, fern, nah, um die Ecke? Und wie bringt man den Diebstahl dorthin?

Die Antennen von Herrn Schreck sollten jetzt vibrieren, aber Herr Schreck packt gerade an der Kasse den Einkauf einer Kundin ein. Jetzt müsste also ich. Genau sein. Streng. Steht deutlich an der Kasse: Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht! Vier Taschenbücher, heute ist Freitag, macht vier Euro. Haben Sie gerade nicht dabei? Dann hätten wir eine andere Zahl für Sie. 110. 

Der Mann beschleunigt seinen Schritt, läuft die Verandastufen hinunter, schwingt sich auf ein klappriges Rad und radelt davon. Ein freiberuflicher Philosoph, dessen Philosophie so unverständlich ist, dass sie niemanden interessiert? Ein Bildhauer, der seit zehn Jahren nichts verkauft hat? Man muss die Bücherliebhaber lieben. Kein Tablet, kein Tolino. Papier. Bücherliebhaber sind aus der Zeit gefallen, kommen nicht mehr mit. Werden auch nicht mehr in sie hineinfinden, die Zeit ist immer schneller als sie auf ihren klapprigen Rädern. Ich wüsste gern, was er außer meinem Buch geklaut hat. Vielleicht hätte ich ihn beraten sollen, auch ein Diebstahl muss sich lohnen.

Ich fühle mich sehr beschwingt.

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