Im Speisesaal des Intersein-Zentrums hängt seit Jahren an einer Säule ein handschriftlicher Zettel mit einem Zitat von Jiddu Krishnamurti: "Mein Geheimnis ist: Ich habe nichts gegen das, was geschieht." Das ist ein Lieblings-Satz von Helga Riedl. Bei meiner letzten Retreat-Gruppe erregte der Zettel auf einmal Aufmerksamkeit und wurde lebhaft diskutiert. Wie, ich soll nichts dagegen haben, dass Russland die Ukraine bombardiert, dass im Gaza-Streifen die Menschen verhungern? Das ist doch komplette Ignoranz, esoterisches Geschwafel, das ist Gleichgültigkeit gegenüber den brennenden Problemen in der Welt, gegen die wir etwas unternehmen müssen.
Nun führt ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat ja oft zu Missverständnissen. Ich weiß auch nicht, in welchem Kontext Krishnamurti das gesagt hat; allerdings habe ich zwei Jahre seine Sommerschule in Saanen in der Schweiz besucht und kenne ihn gut genug, um ein wenig Klarheit in die Aussage zu bringen. Krishnamurti war der revolutionärste, kompromissloseste Geist, dem ich je begegnet bin. Ich halte ihn bis heute für meinen wichtigsten, meinen eigentlichen Lehrer.
In allen spirituellen Schulungen - auch in der von Thich Nhat Hanh - steht vor dem Tun das Sein. Denn solange unsere Handlungen von einem aufgewühlten, unbefriedeten und konditionierten Geist gesteuert werden, der blind auf äußere Reize reagiert, tragen sie nicht zu Lösungen und zum Frieden des Ganzen bei. Da lesen wir morgens die Zeitung, schauen abends die Tagesschau, sehen Gewalt, Ungerechtigkeit, Katastrophen in jeder Form und auf jedem Gebiet und suchen empört dafür die Schuldigen im Außen. So bleibt das Geschehen auf der intellektuellen Ebene hängen, wo wir es in sicherer Distanz halten, und erreicht nicht unser Gefühl.
Krishnamurti machte dazu schon in den 1970er Jahren eine klare Aussage: "Jeder von uns ist für jeden Krieg verantwortlich, denn unser Leben ist voller Aggressivität; wir haben unseren Nationalismus, wir sind voller Selbstsucht, haben unsere Götter, unsere Vorurteile, unsere Ideale - und das alles trennt uns voneinander. Und nur, wenn wir klar erkennen - nicht intellektuell, sondern so wirklich, wie wir unseren Hunger oder unsere Schmerzen empfinden -, dass Sie und ich für das bestehende Chaos verantwortlich sind, für das Elend in der ganzen Welt - denn wir haben durch unser tägliches Leben dazu beigetragen und sind Teil dieser monströsen Gesellschaft mit ihren Kriegen, Einteilungen, ihrer Hässlichkeit, Brutalität und Gier -, nur dann werden wir wirklich handeln."
Erst wenn wir mit Bestürzung erkennen, wie gewalttätig wir selbst in Gedanken und Worten sind - am Küchentisch mit unseren Familien, im Kollegenkreis, in der Nachbarschaft -, erst dann beginnen wir zu ahnen, dass wir das Ganze falsch angegangen sind. Wir ziehen unsere Vorwürfe gegen "die da oben, das da draußen" total zurück. Wir sagen: "Ich habe nichts gegen das, was geschieht", weil wir wissen: Das wahre Problem ist mein eigener verwirrter und konditionierter Geist. Ich mache das Äußere nicht mehr verantwortlich für meine Wut, meine Aggression, meine Resignation - und auch nicht für mein Gefühl der Hilflosigkeit. Das ist der Sinn jeder spirituellen Schulung und alles andere als esoterisches Geschwafel: Es ist anspruchsvollste innere Arbeit, die nicht immer angenehm ist.
Jiddu Krishnamurti sagte: "Jeden Tag sehen oder lesen wir von schrecklichen Dingen, die in der Welt als Auswirkungen menschlicher Gewalttätigkeit geschehen. Sie mögen sagen, 'Ich kann dagegen nichts tun' oder 'Wie kann ich die Welt beeinflussen'. Ich glaube, dass Sie die Welt ungeheuer beeinflussen können, wenn Sie innerlich nicht gewalttätig sind, wenn Sie täglich wirklich ein friedvolles Leben führen, ein Leben, das ohne Wettkampf, Ehrgeiz, Neid ist, ein Leben, das keine Feindschaft erzeugt. Kleine Flammen können zum lodernden Feuer werden."
Es ging Krishnamurti nie um ein bisschen "Achtsamkeit". Es ging ihm um das Erwachen zu unserem Wahren Wesen, um ein Leben, das radikal frei ist von allen Konditionierungen, Überzeugungen und Vorstellungen. Das Buch, aus dem ich zitiert habe, heißt "Einbruch in die Freiheit", und ich empfehle es allen, die das Denken von Krishnamurti kennenlernen wollen. Ein dünnes Taschenbuch, nicht teuer - und eigentlich braucht man nach dem Lesen kein weiteres Buch über Spiritualität.
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