Sonntag, 9. November 2025

Lotus & Schlamm

 

Kalligrafie von Thich Nhat Hanh


Heute ist der Jahrestag der Reichsprogromnacht 1938 und des Mauerfalls 1989. Der Schatten und das Licht teilen sich dasselbe Datum. Das ist für mich eine Metapher, über die wir nachdenken sollten.

Vor über zwanzig Jahren bin ich in den von Thich Nhat Hanh gegründeten Order of Interbeing eingetreten. Das ist keine religiöse oder gar monastische Vereinigung. Es ist eine Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, im Sinne des Interseins zu praktizieren und die Praxiselemente, die Thay entwickelt hat, weiterzugeben. Dennoch bekommt jedes neue Mitglied wie in monastischen Traditionen einen Namen, der zur Person passen und ein Kompass auf dem weiteren Weg sein soll. Ich bekam von Thay den Namen "True Lotus of Virtue".

Wir übersetzen ja das englische "virtue" meist mit "Tugend", und bei Tugend assoziieren wir Bravheit und Gehorsam, also war ich spontan nicht begeistert von meinem Namen. Aber vietnamesische Nonnen erklärten mir, dass Tugend in diesem Kontext so etwas wie "Erwachen", "Erleuchtung" bedeute. Damit konnte ich mich versöhnen, und als ich die Symbolik des Lotus ergründete, wusste ich: der Name passt zu mir.

Denn der Lotus wurzelt im Schlamm und muss sich durch die Dunkelheit des Teichs hindurcharbeiten, bevor er das Licht erblickt und sich zu seiner Schönheit entfalten kann. All das Dunkle in unserem Leben, dem wir uns nicht gerne stellen wollen, ist der Nährboden für unsere Schönheit - die Verluste, Enttäuschungen, Entbehrungen, die Schmerzen aller Art. Geliebte Menschen sind gestorben, vielleicht sogar unter grausamen Umständen; wir haben unsere Arbeit verloren, unser Haus, unser Land, unsere Ehe ist zerbrochen, wir oder Nahestehende sind krank geworden. 

Die sehr schwierigen Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, haben mich geprägt. Ohne sie wäre ich eine andere, ohne sie wären meine Bücher und meine Retreats andere. Mir geht es nicht um ein bisschen mehr "Achtsamkeit" im Leben, sondern um das Berühren der Tiefe in uns, die unser Wahres Wesen ist. Das ist der Ort, an dem der Same des Lotus wurzelt.



Wenn Du mit mir auf diese Reise gehen willst, lade ich Dich herzlich ein zu einem meiner Retreats. Ich werde im nächsten Jahr nur noch vier Termine anbieten, zwei in Freiburg, einen in Salzburg, einen im Bayerischen Wald. Die Termine sind jetzt auf meiner Homepage, Du kannst Dich für Freiburg bereits anmelden: hier (klick).

Ich würde mich sehr freuen, Dir im nächsten Jahr irgendwo zu begegnen.

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Dienstag, 4. November 2025

Zen-Mönch Ryokan





Der Herbst - ein Brokat
roter Ahornblätter
wie die Kleidung der Tang

Zen-Mönch Ryokan lebte nach seiner Ausbildung im Zen-Tempel ein einfaches und freies Leben. Er war berühmt als Dichter und Kalligraf, spielte am liebsten mit den Kindern und lehnte alle Angebote ab, Abt eines Tempels zu werden. Er hinterließ etwa 1800 Gedichte und Haiku. Er besang, was ihn in seiner ärmlichen Hütte umgab: den Mond, die Berge, die Wolken, den Bambus, die Pflaumenblüten, den Regen.

Mein Dharma-Bruder und Freund Dr. Munish Bernhard Schiekel hat sich die Mühe gemacht, eine umfangreiche Sammlung der chinesischen Gedichte und japanischen Haiku von Ryokan zusammenzustellen. Alle Texte sind in den Originalsprachen, in Kanji und deutscher Übersetzung aufgenommen. Es gibt Kommentare zu einzelnen Begriffen und eine schöne Biografie unter dem Titel "Leben und Poesie des Großen Narren Ryokan". Und der Benediktinermönch und Zen-Praktizierende Bruder David Steindl-Rast hat das Vorwort geschrieben. 

1831 starb Ryokan und schrieb, wie es bei Zen-Mönchen üblich war, vorher sein Sterbe-Gedicht:

Was wird bleiben
als mein Vermächtnis?
Im Frühling die Blüten,
im Sommer der Bergkuckuck,
im Herbst die Ahornblätter.
 
Ein schönes, umfangreiches Buch für alle, die Haiku, Zen und Ryokan lieben. 

"Zen-Mönch Ryokan - Leben & Wirken", chinesische Gedichte und japanische Haiku, zweisprachige Ausgabe mit einem Vorwort von David Steindl-Rast. Übersetzung aus dem Chinesischen und Japanischen und Kommentierung von M. Bernhard Schiekel. Das Buch ist als Book on Demand erschienen, hat 351 Seiten und kostet 16,99. ISBN 9-783769-327014. Ihr könnt es in der Buchhandlung kaufen oder direkt bei BoD bestellen hier (klick).

Es lohnt sich auch ein Blick auf die Website von Munish Schiekel, die zahlreiche Texte über Buddhismus und Buch-Rezensionen enthält: www.mb-schiekel.de

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