Freitag, 23. Oktober 2015

Morgen ist "Tag der Bibliotheken"


Das Kind, das ich war, lebte in Büchern. Seine Romanfreunde erlebten aufregende Abenteuer, besaßen sprechende Papageien und kluge Hunde, konnten mit einer Hand ein Pferd in die Luft stemmen und hatten für die Welt der Erwachsenen nicht mehr übrig als milde Nachsicht. Das Kind konnte da nur zustimmen: Verglichen mit der Welt der Bücher war alles, was es täglich so erlebte, langweilig. Also musste ständig neuer Nachschub an Büchern herangeschafft werden, und die einzig vernünftige Möglichkeit, den Lesehunger zu stillen, war die örtliche Stadtbücherei.

Nun kostete leider das Ausleihen 10 Pfennig pro Buch, und das war viel Geld. Nach langem Betteln wurden dem Kind 20 Pfennig pro Woche gewährt, das waren gerade mal zwei Bücher. Das Kind brauchte aber PRO TAG EIN BUCH! Es begann, die Bücher von ihrem Umfang her zu beurteilen. Dünne kamen nicht mehr in Frage, ausgeliehen wurde erst ab 3 cm Rückenbreite. Ein weiteres Problem war der Leiter der Stadtbücherei, der, da bin ich mir ganz sicher, einen grauen Kittel trug. Ärmelschoner? Kann schon sein. Grau war er jedenfalls, und unerbittlich. Jedes Buch wurde vor dem Ausleihen streng auf Tauglichkeit für die Leserin geprüft. "Nein, das ist nichts für dich", beschied er immer öfter und stellte das ausgewählte Buch eigenhändig zurück.

Schwierig wurde es ab vierzehn. Die Kinderbücher wurden mir langweilig (und waren im Prinzip auch alle schon von mir gelesen), die Erwachsenenbücher waren vom Grauen verboten. Ich befand mich als Leserin in jeder Hinsicht in einer Grauzone. Bücherlos. Erlebnislos. Als ich etwa sechzehn war, wurden mir von meinem inzwischen zum Feind mutierten Stadtbüchereileiter ein paar milde, gemäßigte, also pottlangweilige Erwachsenenbücher gewährt. Lese-Schonkost sozusagen. Es war Zeit, mit Nachhilfestunden Geld zu verdienen. Ich tat es und wurde Kundin in der einzigen Buchhandlung der Stadt, in der ich mit klopfendem Herzen und sehr schlechtem Gewissen Bücher von Camus, Nabokov und Hemingway kaufte, die verbotene Lektüre.

Als Erwachsene habe ich in jeder Stadt, in die ich zog, sofort die Büchereien erkundet. Noch heute besitze ich mehrere Bibliotheksausweise, obwohl ich Rezensionen schreibe und mit Neuerscheinungen gut versorgt bin. Ich liebe die Stille in den Bibliotheken, die gedämpften Gespräche, das Geraschel umgeblätterter Seiten und die überwältigende Auswahl, aus der ich mich jetzt ungeniert bediene. Niemand kann mir mehr das Lesen eines Buches verbieten! Und ich brauche keinen Cent dafür zu zahlen.

Ich liebe Bibliotheken. Möge es sie noch lange, lange geben.

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Rumi: The Guest House. Das Gästehaus.


This being human is a guest house.
Every morning a new arrival.
A joy, a depression, a meanness,
some momentary awareness comes
as an unexpected visitor.

Welcome and entertain them all!
Even if they're a crowd of sorrows,
who violently sweep your house
empty of its furniture,
still treat each guest honorably.
He may be clearing you out
for some new delight.

The dark thought, the shame, the malice,
meet them at the door laughing,
and invite them in.

Be grateful for whoever comes,
because each has been sent
as a guide from beyond.

(Translation: Coleman Barks) 

***
Der Mensch ist ein Gästehaus.
Jeden Morgen eine neue Ankunft.
Eine Freude, eine Depression, eine Gemeinheit,
ein Moment der Bewusstheit: Sie 
kommen als unerwartete Besucher.

Heiße sie alle willkommen und bewirte sie.
Selbst wenn sie eine Bande Kummer sind,
die durch dein Haus fegt und die Möbel hinauswirft:
Erweise jedem Gast die Ehre.
Vielleicht räumt er dich leer
für neue Freuden.

Der düstere Gedanke, die Scham, die Bosheit:
Begrüße sie lachend an der Tür
und bitte sie herein.

Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn jeder ist dir geschickt als ein Führer
von der anderen Welt.

(Übersetzung: Margrit Irgang)

Freitag, 9. Oktober 2015

Leben als Gleitschirmflug

Quelle: en.wikipedia.org

"Hier haben wir Drei gestanden und ins Tal geblickt. Zwei Amerikaner auf Hochzeitsreise und die Schwester, die sich nach zwölf Jahren in München und Rom in die Berge zurückgezogen hatte. Hier hat Catherine ausgerufen, dies sei das Schönste, was sie je gesehen habe, definitely the highlight of our trip.

Es ist einer dieser klaren Frühlingstage in den Bergen, an denen die Schweizer Gipfel mit ihren Schneemützen ganz nahe heranrücken und die Illusion vermitteln, sie würden sich quasi um die Ecke befinden, nur eine Fünfminutenfahrt mit dem Wagen entfernt. Ich sitze auf demselben Stein, auf dem ich damals saß, als das auf ein volles langes Leben angelegte Glück dieser beiden Menschen zum Greifen nahe war, so trügerisch nahe wie die Schweizer Berge, und doch war es ein Glück, das man sehen und fühlen konnte. Nur Packen und Festhalten konnte man es eben nicht. Bis dass der Tod euch scheidet, hatte der Priester in der Trauzeremonie gesagt, aber wer denkt an den Tod, wenn er vor dem Altar steht, sie im weißen Kleid mit Schleppe, er im Smoking mit weißer Fliege.

Noch ist die Wiese winterfahl, die Kühe sind noch nicht auf der Alm, aber der Tag ist warm und leuchtet. Ich packe mein Picknick aus. Vom Nachbargipfel löst sich ein Gleitschirmflieger und surft auf einer Welle aus Luft, die ich nicht wahrnehme, die er aber finden muss, um nicht abzustürzen. Schwerelos schwebt er über dem Tal, er wird von dort oben einen herrlichen Rundblick haben, bis in die Schluchten zwischen die Schweizer Schneegipfel hinein. Welch Triumph über die Schwerkraft und welche Anmut, denke ich, und beides ist so gefährdet, denn der da oben reitet praktisch auf dem Nichts, dem großen unsichtbaren ungreifbaren Nichts.

Noch sind wir Drei nicht abgestürzt, Ted, Catherine und ich. Schon vor langer Zeit habe ich gelernt, auf der Luft zu reiten, und Ted und Catherine sind gerade dabei, es zu lernen: Leben als Gleitschirmflug. Sie kennen schon das atemnehmende Glück, das der Flug schenkt, wenn er gelingt. Allmählich wird ihnen klar, wie gefährdet dieser Flug schon immer war. Vielleicht wird es eine sanfte Landung für sie geben, vielleicht auch nicht.

Ich weiß, warum ich an diesen Platz zurückgekehrt bin.

Hier waren drei Menschen glücklich, und Glück vergeht nicht. Es ist aufgehoben in unserer Erinnerung. Da es, wie das Zen sagt, nur diesen Augenblick gibt, geschieht auch das Erinnern in diesem Augenblick. Und das, woran wir uns erinnern, ist hier und jetzt anwesend: Als Wirklichkeit, die etwas bewirkt.

Ich hole meine Kamera aus dem Rucksack. Ich werde Fotos machen von diesem Stein, der Weide und den Schweizer Bergen. Wenn ich sie nach Georgia maile, werde ich schreiben: Erinnerst du dich, Ted, dies ist der Platz, an dem du glücklich warst. Der Platz ist immer noch da. Schließ die Augen, dann findest du ihn.

Es hat diesen leuchtenden Nachmittag gegeben, und Ted war hier, ihn zu erleben. Wir müssen uns Erinnerungen schaffen, die Funken sprühen, sagte der Schriftsteller Kurt Tucholsky. Damit wir, sage ich, wenn wir eines fernen Tages zwischen weißen Laken liegen ohne die Möglichkeit, uns daraus wieder zu erheben, den Funken in uns wiederfinden."

(Aus: Margrit Irgang "Die Kostbarkeit des Augenblicks. Was der Tod für das Leben lehrt". Kreuz Verlag. ISBN 978-3-451-61303-4)