Freitag, 25. November 2022

Unser konditionierter Geist

 

 Mann zu seiner Frau, vor der grünspanbeflockten und muffigen Mauer stehend: "Die Kerle mit den Spraydosen müssen einfach alles beschmutzen."


Nachdem die non-binäre Person Kim de l´Horizon den Deutschen Buchpreis erhalten hatte und auf Grund von Mord-Drohungen unter Personenschutz gestellt werden musste, veröffentlichte er/sie/es in der NZZ einen klugen Artikel, den man hier (klick) nachlesen kann. Kim de l`Horizon erzählt, wie er (ich erlaube mir, beim Maskulinum zu bleiben) auf einem U-Bahnsteig in Berlin von einem Mann zusammengeschlagen wurde mit den Worten "Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken, aber du bist mir einfach zuviel", und fragt: "Was habe ich euch getan? Was, ihr um euch schlagenden Männer, seht ihr in mir, das euch dermaßen bedroht?"

Was wir sehen, wenn wir uns von einem Anblick bedroht fühlen, ist unsere eigene Konditionierung. Wir sehen oder hören etwas, das so noch nie dagewesen ist. Unsere Sinne sind aufgewühlt und wissen nicht, wie sie das Gesehene oder Gehörte einordnen sollen. Wir finden keine uns beruhigende Antwort darauf; die Antworten, die wir schon immer hatten, passen nicht zu der neuen Situation. Weil es uns buchstäblich die Sprache verschlagen hat (die entsprechende Sprache entsteht erst, wenn das Neue Gewohnheit geworden ist), schlagen wir zu. Mit Worten oder Fäusten.

In den 1960er Jahren wurden die Beatles berühmt, von deren Musik ich begeistert war. Meine Eltern hassten die "Pilzköpfe" auf den ersten Blick. Mein Stiefvater brüllte, dass diese Affen hinter Gitter gesperrt werden müssten, so behaart wie die seien, und drehte, um "Eleanor Rigby" zu übertönen, die Egerländer Musikanten auf. Heute sehe ich auf Fotos vier liebenswerte, nette Jungs, die inzwischen vermutlich jede Mutter gern zu Schwiegersöhnen hätte (also, verglichen mit Kim de l'Horizon, nehme ich an). Hier ist dasselbe geschehen wie in dem Mann, der auf dem Berliner U-Bahnsteig ausrief, dass er "normale Schwuchteln mittlerweile schlucken" könne: Aus dem verstörend Ungewohnten ist mit der Zeit so etwas wie Gewohnheit geworden. Der Geist ist in einem mühsamen Prozess und keineswegs freiwillig vom Leben umprogrammiert worden, sodass der Mensch sich nicht mehr bedroht fühlen muss.

Wir neigen alle dazu, unser Mögen oder Nichtmögen als Maßstab für unsere Antworten zu nehmen. Die ernüchternde Wahrheit ist: Für den großen Zusammenhang ist es völlig egal, ob etwas uns gefällt oder nicht. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, wählen wir für uns persönlich natürlich das, was wir mögen. Ich zum Beispiel esse lieber ein Gemüse-Curry als einen Schweinebraten. Also koche ich mir Gemüse-Curry. Aber auch unser Mögen und Nicht-Mögen sind nur Konditionierungen, die vom Leben allmählich und unausweichlich umprogrammiert werden. 

 


 Wohin des Wegs? Hängt ganz von Deinem Geist ab.


Im Magazin Ursache\Wirkung Nr. 119 mit dem Thema "Zukunft gestalten" schrieb ich über eine kleine alltägliche Begebenheit: "Kürzlich stand ich vor einem Schaufenster, neben mir ein älteres Paar, das sich über die Preise für die ausgestellte Mode erregte - in sächsischem Tonfall. In mir kochte Widerwillen hoch. Sächsisch! Ich wusste sofort, was diese Emotion ausgelöst hatte: Meine Eltern hatten aus einem mir unbekannten Grund eine Abneigung gegen Menschen aus Sachsen, die sie bei jeder Gelegenheit äußerten. In jenem Moment vor dem Schaufenster schlug also ein Erbe aus der Kindheit zu, aber ich erkannte die Ursache und konnte ruhig innerlich konstatieren: Ah, Sachsen. Ich hatte die Emotion im Augenblick ihres Entstehens abgefangen, bevor sie sich in meinem Geist zu einer kompletten Geschichte mit Meinungen, Urteilen und am Ende gar daraus folgenden Handlungen entwickeln konnte."

Wir dürfen uns keine Illusionen darüber machen, wie sehr wir alle konditioniert sind. Die Gegenwart enthält die Vergangenheit, und wenn wir das nicht hellwach beobachten, schleppen wir die Vergangenheit weiter in die Zukunft, die dann nicht neu sein wird, sondern eine Variante des immer Gleichen. Deshalb: Wachsam bleiben. Den Geist hüten. 

Die Filmemacherin und Autorin Mo Asumang, deren respektvolle Art, Fragen zu stellen, ich sehr schätze, hat für 3Sat einen guten Film über Homophobie und Queerness-Feindlichkeit gedreht. Hier (klick) kann man ihn sehen.

 

Sonntag, 20. November 2022

Zeit und Raum


"Nichts wird geschaffen oder zerstört, es verändert sich nur." Tyson Yunkaporta

 

Der australische indigene Wissenschaftler Tyson Yunkaporta, dessen Buch "Sand Talk" ich für den SWR besprochen habe, spricht aus seiner Aborigine-Tradition über die Verbundenheit und Durchdrungenheit alles Seienden. Auch Zeit und Ort sind untrennbar verbunden; in seiner Sprache gibt es nur ein Wort für beides. "Verwandtschaft bewegt sich in Zyklen, das Land bewegt sich in saisonalen Zyklen, der Himmel bewegt sich in Sternenzyklen, und die Zeit ist in diese Dinge so sehr eingebunden, dass sie sich begrifflich nicht vom Raum unterscheidet."

Fasziniert hat mich die Aussage, dass in seinem Volk alle drei Generationen die Verwandtschafts-Beziehungen neu geordnet werden: seine Urgroßeltern werden dann zu seinen Kindern ernannt. Unser lineares Denken ist unfähig, diese Auffassung von Zeit und Raum zu begreifen: "Nichts wird geschaffen oder zerstört, es verändert sich nur." Aber im Buddhismus findet sich exakt dieselbe Aussage: "Wenn die Bedingungen entsprechend sind, erscheint etwas aus dem Sein. Wenn sie nicht mehr entsprechend sind, geht etwas zurück ins Sein." Und Eckhart Tolle sagt: "Tod ist nicht das Gegenteil von Leben, sondern das Gegenteil von Geburt."

Da wir glauben, nichts weiter als diese bestimmte Person mit einem Körper, einer Adresse und einer Lebensgeschichte zu sein, macht uns die Aussage der unablässigen Veränderung Angst. Aber das Sein, der Urgrund, stirbt nie. Und wir sind dieser Urgrund, der im Lauf der Jahrtausende viele Namen bekommen hat. Thich Nhat Hanh nannte es immer "unser wahres Wesen". 

Wenn die Bedingungen für seine Existenz als Form nicht mehr vorhanden sind, zieht sich das Etwas zurück ins Sein und wird formlos. Auch unser Körper mit seiner Lebensgeschichte wird zurückkehren ins Formlose, in den Urgrund, der nie sterben kann. Ist das wirklich ein Grund, so viel Angst vor dem Tod zu haben?


Samstag, 12. November 2022

November auf dem Land

 

Der Nebel ist da. In englischen Romanen "wallen" ja gern "die Nebel", zum Beispiel über dem Loch Ness. Uns in Südbaden besucht nur einer, ich erkenne ihn wieder: In jedem Dorf derselbe. Er wallt nicht, zu viel Aufwand. In badischer Behäbigkeit liegt er bei uns herum. Er hat sich gemütlich eingerichtet, ich verstehe ihn. Auch ich richte mich zur Zeit gern in einer Sofaecke ein, von der mich bitte niemand vertreiben soll.



Wie in alten Häusern, in denen ein neuer Mieter die Tapetenbahnen seiner Vorgänger aus Jahrzehnten abzieht, blättert der Herbst jetzt der Landschaft die Schichten von Sommerfarben ab. Zum Vorschein kommt der raue Putz, nicht zugekleistert mit einer angeblichen Verschönerung. Das Graubraun, das Fahlgrau, das Graugrün. Das Kantige, Struppige, Rohe, Unebene, das Nicht-Gefällige, das leicht Schmuddelige. Das Sanfte, Einfache. Das Ursprüngliche.

 


Wo findet die Party statt? Oder ist sie schon vorbei? Vielleicht kriegt man dort irgendwo heiße Schokolade? Mal vorbeischauen, angelegentlich, rein zufällig auftauchen an einem Büfett mit Kuchen und warmem Apfelstrudel, bei Leuten, die zwar Nachbarn sind, die man aber noch nie gesehen hat? Ich sehe mich unschlüssig um. Außer mir sind nur Krähen unterwegs. Der Nebel tritt jetzt in seine Traumphase ein, sackt, wie ein Menschenkörper in die Matratze, immer tiefer in die Äcker und atmet tief und feucht aus.

November auf dem Land.


Sonntag, 6. November 2022

Music for the time of silence

 

... Into the weather you come and you go
In the darkest of nights there’s a sweep and a glow
And a flash that resounds with a sailor’s “land ho!”
And the voyages left behind

The seasons will pass, and the night into day
For all who will leave us, and all who will stay
If time is an ocean, then life is a bay
But it’s better than ever you’ll find… on these little islands in time
These little islands sublime.

 

Alex de Steiguer - Fotografin, Musikerin - lebt den Winter über allein als Wächterin auf Star Island vor der Küste von New Hampshire. Ich habe über sie hier (klick) geschrieben.

Ich wünsche euch, dass ihr in diesem Winter eure kleinen Inseln inmitten der Zeit findet.