Samstag, 29. August 2015

Bergstille


Man muss früh auf dem Berg sein, dann ist man allein mit den Schmetterlingen und dem Wind. Allein mit der Stille. Von weither die Glocken der Kühe, sie stören die Stille nicht, im Gegenteil: Sie vertiefen sie. Im Dunst weit hinten Eiger, Mönch und Jungfrau. Nur der Montblanc, den man an klaren Tagen angeblich sehen kann, hat sich eine Nebelkapuze übergezogen.

Ich sitze auf der einzigen Bank. Hinter mir Schritte, ein Mann. Er setzt sich neben mich, es gibt ja nur eine Bank. Zerfurchtes sonnengeledertes Gesicht, Socken, die nur noch Fersen, keine Zehen mehr haben. Ein unendlich schmutziger Rucksack. Nun ist für eine, die eine Eremitenseele hat, ein Mann in der Bergstille eine Prüfung. Männer (auch Frauen) beginnen in solchen Momenten gern ein Gespräch. Man hat ja gelernt, da unten in der Zivilisation der Städte, dass man sich nicht einfach stumm neben jemanden auf eine Bank setzen kann. Da muss man ein wenig plaudern, ein kleines Band aus Worten knüpfen, und das mit allerlei Absichten. (Man will höflich/freundlich/interessiert erscheinen, ist neugierig, wünscht sich was, denkt sich was aus.)

Der Mann mit den zehenlosen Socken sitzt neben mir und schweigt. Es ist ein völlig ruhiges Schweigen von einem, der das kann. Ein Schweigen wie dieses muss man lange geübt haben. Es bleibt ganz bei sich, greift nicht unsichtbar mit energetischen Haken nach der anderen da auf der Bank. Es schickt auch keine Gedankenwellen aus. Der Mann schweigt, wie Wildtiere schweigen, die noch mit dem Urgrund der Stille verbunden sind.

Der Wind weht, die Kuhglocken läuten, die Sonne steigt und ist heiß. Irgendwann steht der Mann auf, ergreift seinen Rucksack und geht. Grußlos. Still.

Samstag, 8. August 2015

Weißt du, was du bist? Do you know what you are?



Do you know what you are?
You are a manuscript of a divine letter.
You are a mirror reflecting a noble face.
This universe is not outside of you.
Look inside yourself;
everything that you want,
you are already that.

Rumi

Weißt du, was du bist?
Du bist das Manuskript eines göttlichen Briefes.
Du bist ein Spiegel, der ein edles Gesicht spiegelt.
Dieses Universum ist nicht außerhalb von dir.
Schau in dich hinein:
All das, was du willst,
bist du bereits.

Rumi

Mit dieser Frage verabschiede ich mich für ein paar Tage und ziehe mich in die Stille zurück. Bis bald!

Mittwoch, 5. August 2015

Der achtzehnte Elefant

Foto: Alexander Klink via Wikipedia

"Eines Tages starb ein reicher indischer Kaufmann und hinterließ seinen drei Söhnen siebzehn Elefanten. In seinem Testament bestimmte er, dass der älteste Sohn die Hälfte, der Zweitgeborene ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel davon bekommen sollte. Die Söhne rechneten nächtelang und kamen zu keinem Ergebnis. Da kam ein Minister des Königs, der auf einem Elefanten unterwegs war, durch das Dorf, hörte von dem Problem der Brüder und bot seine Hilfe an 'Nehmt meinen Elefanten dazu', sagte er. 'Und dann teilt die achtzehn Elefanten auf, wie Euch aufgetragen wurde.'

Die Brüder wunderten sich über die Großzügigkeit des Fremden, nahmen das Angebot an und machten sich an die Aufteilung. Der Älteste bekam die Hälfte, also neun. Der Zweitälteste bekam ein Drittel, also sechs, und der Jüngste sein Neuntel, also zwei. Insgesamt waren das siebzehn Elefanten. Die Brüder dankten dem Minister für seine Hilfe, der Minister schwang sich auf seinen Elefanten und ritt davon."

(Aus: Margrit Irgang "Geh, wo kein Pfad ist, und hinterlasse eine Spur. Ermutigung zum Eigensinn". Herder Verlag ISBN 978-3-451-06111-0)