Welche Farben hat deine Dunkelheit?
Das Licht ist oft nur ein Strahl, ein Faden, ein Halm. Und wir klammern uns an den Faden, den Halm, weil wir so konditioniert sind: Licht gilt als wünschenswert, als "positiv". Das Licht aber ist umgeben von einem riesigen Raum der Dunkelheit, und nur deshalb können wir es als Licht wahrnehmen. Dieser Raum der Dunkelheit ist außerhalb von dir und in dir, er ist der Grund deines Seins. Du hast viel gelesen und erlebt und gelernt, dem Raum Namen zu geben. Du nennst ihn Schmerz, Sorge, Deprimiertheit, Verzweiflung, Einsamkeit, Angst, Grauen. Bestenfalls nennst du ihn Geheimnis oder Unbewusstes. Vergiss jetzt einmal all diese Namen; sie hindern dich daran, den Raum zu entdecken. Räume sind zum Entdecken da, nicht wahr? Weil man es am Ende des Lebens bereuen wird, auf diese eine verschlossene Lebenstür gestarrt und sich nicht getraut zu haben, sie zu öffnen. Das nennt man Versäumnis, und solch ein Versäumnis, glaube mir, wird dir wirklich Schmerz bereiten.
Welche Farben also hat deine Dunkelheit?
Sag jetzt nicht, sie ist schwarz, das ist nur eine Redensart. Sobald du eine Redensart benutzt, hast du nicht hingeschaut. Ist sie also braun, dunkelgrau, anthrazitfarben? Was für ein Braun, Dunkelgrau, Anthrazit ist das? Was für eine Textur hat die Dunkelheit? Ist sie wie harter Stein (sitzt du in einer Höhle?), ist sie dick und samtig (bist du in eine Decke gewickelt?), ist sie flüssig wie Öl oder eher wie modriges Wasser? Nur Mut, schau hin. Was tut die Dunkelheit (tut sie überhaupt etwas? Wer tut etwas? Ist es dein Geist, der sich in der Dunkelheit bewegt und dir Sensationen vorgaukelt?)? Fühlst du dich umspült, überschwemmt, angenagt, gebissen, gepackt, gebeutelt, gestochen? Ist deine Dunkelheit spitz, kantig, kalt, heiß, stachlig? Oder ist sie beruhigend, einhüllend, schenkt sie Geborgenheit, Stille, beglückendes Alleinsein?
Wenn deine Dunkelheit dich eher nicht beglückt, glaubst du vielleicht, etwas tun zu müssen, um sie in Licht zu verwandeln. Das wird dir nicht gelingen, denn die Dunkelheit ist die andere Seite des Lichts, die Seite, die du bisher nicht sehen wolltest. Das mag die Dunkelheit nicht, auch sie will gewürdigt werden. Also hat sie dich am Wickel gepackt und gezwungen, sie wahrzunehmen. Na, sagt sie zu dir, wie findest du mich, wenn du mich nicht mit diesen Etiketten beklebst, die du wie alle früher benutzt hast?
Kannst du deine Dunkelheit würdigen, ihre Existenz anerkennen und sehen, dass sie es ist, die es dem Licht möglich macht, zu scheinen? Sie ist der Grund, auf dem deine Freude steht, aus dem deine Heiterkeit wächst. Schau sie dir an, mache sie dir zur Freundin. Eine Freundin schickst du nicht weg, wenn sie vor der Tür steht. Du lädst sie ein, sich zu setzen, bietest ihr einen Tee an. Und wenn sie anfängt zu sprechen, hörst du ihr zu. Überrascht stellst du fest: Sie hat etwas zu erzählen.
Sie spricht über dich.