Samstag, 29. September 2018

Bei der Feenkönigin


Sie wohnt tief unten; dort berät sie sich mit ihren Wassergeistern.

Es geht um vieles. Um das Wasser, die Bäume, die Vögel, die Luft.
Es geht um die Menschen.
Wie man ihnen beibringen kann, dass Schönheit fragil ist und geschützt werden muss.
Dass das Blau des Sees, das Grün des Waldes, die Klarheit des Himmels nicht selbstverständlich sind.
Es geht um die Endlichkeit alles Seienden, mit dem die Menschen sich nicht befassen wollen.
Weil sie dann zugeben müssten, dass auch sie selbst endlich sind.

So ernst und schwerwiegend sind die Gespräche tief unten.
 
Manchmal, am sehr frühen Morgen, steigt der Schleier der Feenkönigin aus dem See.
Dann ist sie ganz nah an der Menschenwelt, fast sichtbar. (Wenn man nur sehen könnte.)
Ein feines Klingen liegt über dem Wasser.
Ein Bläschen steigt auf, nur eins. (Viele Blasen = Fisch.)

Sie zeigt sich nie. 
Aber sie ist da.
Solange sie da ist, könnte noch alles gut werden. 

Verlinkt beim Naturdonnerstag.


Dienstag, 25. September 2018

Schmerz. Verlust. Enttäuschung.


"Normalerweise haben wir das Gefühl, dass unser Leben glattgehen soll, und wenn wir beginnen, uns deprimiert, einsam oder unzulänglich zu fühlen, glauben wir, einen Fehler gemacht oder das gute Gefühl verloren zu haben. Aber wenn wir unerwünschten Gefühlen begegnen, ist das ein wichtiger Moment auf dem spirituellen Weg. Genau dann kann Transformation stattfinden.

Solange wir darin gefangen sind, ständig Sicherheit und Glück zu suchen, anstatt den Geschmack, den Geruch und die Qualität genau dessen, was gerade geschieht, zu ehren - solange wir ständig vor dem Unbehagen davonrennen, sind wir in einem Zyklus von Unglücklichsein und Enttäuschung gefangen und fühlen uns immer schwächer.

Es ist ermutigend zu sehen, dass innere Stärke uns in eben dem Moment zur Verfügung steht, in dem wir das Gefühl haben, am Boden zu liegen; dann, wenn die Umstände am schlimmsten sind. Anstatt uns zu fragen: "Wie kann ich Sicherheit und Glück finden?", könnten wir fragen: "Kann ich das Zentrum meines Schmerzes berühren? Kann ich sitzen mit dem Leiden, sowohl deinem wie auch meinem, ohne zu versuchen, es loszuwerden? Kann ich dem Schmerz des Verlusts oder der Schmach - Enttäuschung in jeder Form - wach und präsent begegnen und ihm erlauben, mich zu öffnen?" Das ist der Trick.

Hilfreich ist auch, den Fokus zu verändern und zu sehen, wie wir Widerstände aufbauen. In diesen Momenten können wir beobachten, wie wir uns zurückziehen und selbstzentriert werden. Wir werden trocken, sauer, ängstlich; wir grummeln oder verhärten uns aus Angst vor weiterem Schmerz. Auf altvertraute Weise errichten wir automatisch ein Schutzschild, und unsere Selbstbezogenheit verstärkt sich.

Aber genau in diesem Moment könnten wir etwas anders tun. Mit Hilfe unserer Praxis können wir die Mauern sehen, die wir um unser Herz und unser ganzes Wesen herum aufgerichtet haben. Wir können erfahren, wie wir uns verstecken, einlullen, wie wir einfrieren. Wenn wir unsere Widerstände zutiefst erfahren und ihnen unsere ganze Aufmerksamkeit geben, beginnen sie erstaunlicherweise sich aufzulösen.

Lasst euch von euren Schwierigkeiten transfomieren. Es wird geschehen. Nach meiner Erfahrung brauchen wir nur ein wenig Unterstützung, um zu lernen, nicht davonzulaufen."

 Pema Chödrön, 
amerikanische Nonne in der tibetischen Shambhala-Tradition


Montag, 17. September 2018

Wahrnehmen


Das althochdeutsche Wort "Wahr" bedeutet "Aufmerksamkeit, Acht, Obhut". Was ich wahrnehme, nehme ich also in die Obhut meines Blicks. Ich schaue es nicht einfach an mit einem Blick, der von der Oberfläche abprallen würde. Ich umfasse es mit Wärme. Mein Blick ist zärtlich, gewaltlos, er will das Wahrgenommene nicht ändern, es nicht nach den Vorstellungen meines Egos manipulieren. Meine Wahrnehmung will nichts von dem, was sie umfängt; es muss ihr nichts geben, sie nicht bestätigen. Das Foto oben habe ich gemacht, als ich durch ein ganz gewöhnliches Neubauviertel in meiner Nähe gegangen bin. Reihenhäuschen, Vorgärten, Autos am Straßenrand. Und dann nahm ich die Blüte wahr, die vor einem Garagentor hing.


Chögyam Trungpa sagt: "Die Kunst der meditativen Erfahrung kann man authentische Kunst nennen. Solche Kunst wird nicht für Ausstellungen gemacht. Sie ist vielmehr der beständig wachsende Prozess, in dem wir die Umgebung unseres Lebens wertzuschätzen beginnen, was immer diese auch sei - sie muss überhaupt nicht gut, schön oder angenehm sein. Diese Definition von Kunst ist es, die Einzigartigkeit der alltäglichen Erfahrung zu sehen."

In jedem meiner Seminare gehe ich mit meinen Teilnehmern ins Freie für eine Gehmeditation. Im Lauf der Jahrzehnte meiner Arbeit habe ich dabei Schnee, Regen, Gewitter, Stürme, Frühlingswärme und Sommerhitze erlebt. Nichts stört uns, wir gehen. Und nehmen wahr, was uns begegnet. Bleiben stehen, wenn wir Resonanz spüren zu einem Baum, einem Zweig, einer Mauer. Halten inne, atmen. Wir benennen nicht, was wir sehen, wir denken nicht darüber nach, wir machen uns leer von allem, was wir vielleicht über es wussten oder gerne wissen würden. Wir nehmen es in die Obhut unseres Blicks, wo es sich entfalten und seine Tiefe zeigen kann.


Ist das nicht eine wunderbare Alltagsübung für Menschen, die wenig Geduld und Zeit haben für das lange Sitzen auf dem Kissen? Plant doch einfach zwanzig Minuten mehr ein für den Gang zum Bus oder den Supermarkt, verlangsamt Euren Schritt und haltet inne, wenn etwas Euren Blick fängt. Farbe, Form, das Spiel des Lichts. Vielleicht hängt da ein ganz gewöhnlicher Gartenschlauch, und ich sehe ihn zum ersten Mal, mit allen Sinnen. 

Die Poesie des Augenblicks.
 

Montag, 10. September 2018

Das Licht. Die Stille. Die Schönheit.


Eine Kirche. Zufällig gefunden auf einem meiner täglichen Foto-Spaziergänge. Sie ist offen, ich gehe hinein. Die Kirche ist unspektakulär, keine bunten Glasfenster, keine großartigen Jesus-Skulpturen. Eine Kirche für den Kleinstadt-Alltag, für Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. Immer dieselben alten Menschen werden sonntags das Mittelschiff schütter besetzen; an Heiligabend wird es brechend voll sein, da gehört ein Kirchgang einfach dazu. Wie das so ist mit der Religion heute.

Auf dem schmucklosen Altar steht ein Blumenstrauß, daneben liegt aufgeschlagen die Bibel. Es ist ein trüber Tag, eigentlich kein Tag zum Fotografieren. Zwischen den dicken Mauern ist es still, ich bin die einzige Besucherin. Während ich auf den Altar zugehe, fällt jäh von oben durch eins der trüb verschmutzten Fenster ein Sonnenstrahl auf die Blumen und die Bibel. Nur dort hin. Auf die Blumen. Auf die Bibel.

Ich sehe nicht: "Religion". Nicht: "Christentum". Nicht: "Kirche". Ich sehe das, woraus Religion und Kirche einst entstanden sind, vor all den Dogmen, Fehlinterpretationen, Kriegen.

Das Licht. Die Stille. Die Schönheit.


Dienstag, 4. September 2018

Das Singen der Dinge



Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Rainer Maria Rilke

Ich empfinde das genauso ...