Sonntag, 15. September 2024

Danish String Quartet

 


Der Herbst ist da, es regnet, es stürmt. Da brauchen wir dringend Energie. Ich habe vier fabelhafte Wikinger gefunden, mit denen könnten wir uns ums Feuer setzen. Na gut, es ist nur eine Lampe im Studio, aber was die vier Jungs auf ihren Saiten entfesseln! Die sitzen da so lässig herum in ihren Hemden, aber das täuscht: Zusammen sind sie weltberühmt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Rune Tonsgaard Sørensen: violin, harmonium. Frederik Øland: violin. Asbjørn Nørgaard: viola. Fredrik Schøyen Sjölin: violoncello. Zusammen: The Danish String Quartet.

Hier mit einem Traditional: Shine You no More.

Habt noch einen schönen Sonntag.

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Dienstag, 10. September 2024

Gedichte lehren zu leben


Gedichte raus, weg mit ihnen, überflüssiges Zeug ...?


Eine entfernte Bekannte fragte mich einmal, ob ich ihr ein paar gute Bücher empfehlen könne, sie läse gern. Ich fragte, welches Genre sie bevorzuge: Romane, Erzählungen, Gedichte ... Sie unterbrach mich und sagte geradezu mit Verachtung in der Stimme: "Um Himmels willen, bloß keine Gedichte! Das Zeug kann ich nicht lesen."

Der baden-württembergische Schüler-Beirat hat vor ein paar Tagen einen Brief u. a. an Landeskultusministerin Schopper geschrieben. Die jungen Leute kritisieren die schlechte Unterrichtsausstattung und die steigenden Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer außerhalb der Schulstunden. Aber vor allem der Lehrplan stört: "In der Schule erhalten wir veralteten Unterricht, mit überholten Unterrichtskonzepten und aus der Zeit gefallenen Inhalten."

Das klingt erst einmal vernünftig. Schule muss mit der Zeit gehen und auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen eingehen. Aber was meinen die Schülerinnen und Schüler nun konkret? Ich zitiere hier Tagesschau online, weil man das im Original lesen muss:

"Als Beispiel für veralteten Unterricht nannte der Vorsitzende des Landesschülerbeirats, Joshua Meisel, den Deutschunterricht. 'Die Analyse von Gedichten ist etwas, das vielen Schülerinnen und Schülern aufstößt', sagte er. Diese sei für den Alltag der Schüler nicht relevant und sollte weniger intensiv behandelt werden. 'Stattdessen sollte man Inhalte integrieren, die man dringender braucht', sagte Meisel. So wäre aus Sicht des Schülervertreters ein stärkerer Fokus auf argumentatives Schreiben sinnvoll - auch um Fake News und Populismus besser erkennen zu können."

Es geht hier also um die Analyse von Gedichten, aber da ein Gedicht eben keine Argumente bietet, sondern ein künstlerischer Ausdruck von Wahrnehmungen, Gedanken und Erfahrungen ist, muss man diese besondere künstlerische Form erst mal lesen lernen. Da findet das Wesentliche nämlich nicht im Wort statt, sondern zwischen den Worten: In dem scheinbaren Leerraum, in dem Satz-Melodien vibrieren und ein Rhythmus weiterschwingt, sodass sich das Gebilde namens Gedicht in den Geist der Leserin einnistet und sich erst in ihm wahrhaft entfaltet.

Wird das im Deutsch-Unterricht nicht gelehrt? Dann ist der Unterricht wirklich für die Tonne. Aber ich kenne etliche engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die sich ganz bestimmt darum bemühen, Verständnis für Gedichte zu wecken. Ihr Schülerinnen und Schüler findet, dass das subtile Drehen und Wenden der sparsamen Worte in einem Gedicht für euer Leben nicht relevant ist? Das sehe ich aber ganz anders.

Wenn ihr glaubt, die Wahrheit über eine Behauptung zu kennen, weil ihr "argumentatives Schreiben" studiert habt, irrt ihr euch. Ihr werdet keinen Populisten und keine Fake News damit entlarven. Ein kluger Kopf reicht da nicht aus; er muss ausbalanciert werden durch einen klaren Blick, der Lügen durchschaut, und ein Herz, das fähig ist zur Empathie, und dieses wiederum wird geschult durch die zahllosen Schwierigkeiten und Schmerzen, die das Leben euch zufügt. 

Jene entfernte Bekannte war eine Frau, die, sagen wir mal, nicht durch besondere Feinfühligkeit auffiel. Sie verkündete gern Urteile, die sie für die Wahrheit hielt. Ich wunderte mich also nicht, dass sie mit Gedichten nichts anfangen konnte. Andererseits: Hätte man ihr rechtzeitig auf inspirierende Weise den Umgang mit Gedichten beigebracht, hätte sie das vielleicht anders geprägt.

Gedichte zu lesen heißt, leben zu lernen. Denn, noch einmal: das Wesentliche in einem Gedicht findet zwischen den Zeilen statt, wo das Wesentliche, also die Wahrheit, immer zu finden ist. In der Begegnung zwischen zwei Menschen, in der Pause zwischen zwei Sätzen, im Blick, in der wortlosen Geste. Wenn ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, die Menschen, mit denen ihr zu tun habt, nur nach ihren Worten einschätzt, werdet ihr - und damit die ganze Gesellschaft - sehr bald ein Problem haben. 

Und vor allem hättet ihr ein Problem mit eurem Liebesleben. Vorsicht, hier kommt ein Gedicht. Von Kurt Tucholsky - und den braucht man nicht einmal zu analysieren, um ihn zu verstehen:

Er war nicht der Mann für dieses Wesen.
Sie war ein Buch. Er könnt es nicht lesen.
Was dann zwischen Liebenden vor sich geht,
ist eine leere Formalität.

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Donnerstag, 5. September 2024

Seminar in Freiburg


Einst lebte in Polen der für seine Weisheit berühmte Rabbi Hafez Hayyim. Eines Tages besuchte ihn ein amerikanischer Tourist, der mit dem Rabbi über die großen spirituellen Fragen sprechen wollte: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, und was ist die beste Art zu leben. Der Amerikaner betrat ein winziges Haus, in dem sich außer etlichen Büchern nur ein Tisch und eine Bank befanden. "Aber Rabbi!" rief der Mann. "Wo sind denn Ihre Möbel?" "Wo sind denn Ihre?" fragte Hafez Hayyim. "Meine?" sagte der Mann. "Ich bin doch nur auf der Durchreise." "Das bin ich auch", sagte der Rabbi.

Wir glauben, ein Ziel zu haben. Das Ziel heißt "morgen" oder "nächstes Jahr", es heißt "ein neuer Job", "ein neues Haus". Sobald wir ein Ziel erreicht haben, stellt sich heraus, dass es nur eine Etappe war auf unserem Weg, der immer weitergeht. Vielleicht sind die Ziele gar nicht so wichtig, vielleicht ist der Weg selbst viel wichtiger? Und ist es wirklich "dein eigener" Weg oder folgst Du den Geboten und Verboten, die andere Dir wie Steine auf den Weg gelegt haben?

Ich lade Dich herzlich ein zum Seminar

Den eigenen Weg gehen

17. - 20. Oktober 2024

Waldhof Freiburg

Weitere Informationen und die Anmeldung findest Du hier (klick)

Ich würde mich freuen, Dich im Oktober im Waldhof zu sehen.

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Sonntag, 1. September 2024

Das Leben ist ein vorübergehender Zustand


Obwohl ich die Sendung "Sternstunde Philosophie" eigentlich regelmäßig anschaue, ist mir dieses Gespräch mit der Schriftstellerin Gabriele von Arnim entgangen. Am Freitag Abend entdeckte ich es, und am Samstag Mittag schrieb mir ein Freund eine Mail mit der dringenden Empfehlung, es anzuschauen. (Ich liebe Synchronizitäten!) Es ist ein Gespräch über Schmerz, Verlust, Überforderung und Liebe. Sehr aufrichtig, sehr tiefgehend. Schaut euch das Gespräch an, es lohnt sich.



Nachdem ich den Film gesehen hatte, fiel mir auf, dass ich euch das Buch, von dem im Gespräch die Rede ist, nie vorgestellt habe. Meine Besprechung ihres darauf folgenden Buches "Der Trost der Schönheit" findet ihr hier (klick).

"Das Leben ist ein vorübergehender Zustand". Zu einer solchen Erkenntnis kommt man vielleicht erst, wenn das, was man immer für selbstverständlich gehalten hatte, nicht mehr möglich ist. Der Mann von Gabriele von Arnim hat einen Schlaganfall am Abend des Tages, an dem sie ihm gesagt hat, dass sie mit ihm nicht mehr leben kann. Einen Mann in hilfloser Lage kann sie nicht mehr verlassen. Was sie da noch nicht weiß: Er wird zehn Jahre lang ein Pflegefall sein, ein Mann, der weder gehen noch sprechen kann. 

Sie brauchte Jahre, um nach seinem Tod über diese Zeit zu schreiben, und sie tut es mit einer manchmal erschreckenden, aber faszinierenden und berührenden Aufrichtigkeit. Berichtet von Schuldgefühlen, Verzweiflung und Überforderung und sagt: "Ich war wie zerfleddert". Und doch ist dies ein Buch der Liebe, Fürsorglichkeit und des Trostes. Wir alle erleben ja immer wieder kleine und große Verluste, und ich meine, dieses Buch ist ein guter Begleiter durch eine solche Zeit, eben weil es keine Ratschläge erteilt und keine Lehren anzubieten hat.

"Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" gibt es jetzt als Taschenbuch bei Rowohlt. Eine Lese-Empfehlung von mir.

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Samstag, 24. August 2024

I Feel the Earth Whisper


"Black Forest", aus "Waldeinsamkeit"


Die Natur ist bedroht, ihr Feind ist der Mensch. Wir wissen das, wir hören und lesen es jeden Tag in den Medien. Warum haben all diese Statistiken, Mahnungen und Aufrufe so wenig Erfolg? Weil sie abstrakt bleiben; Zahlen und Drohungen erreichen unser Gefühl nicht. Wir brauchen Appelle, die unmittelbar unsere Sinne ansprechen. Mit anderen Worten: Wir brauchen die Künstler.

Im Frieder Burda Museum in Baden-Baden habe ich die schöne Ausstellung "I Feel the Earth Whisper" gesehen. Die beiden Künstler, die mir am besten gefallen haben, stelle ich euch hier vor.

Der Amerikaner Sam Falls hat seinen Raum "Waldeinsamkeit" genannt. Was geschieht im Wald, wenn wir ihn in Ruhe lassen? Er hat im Schwarzwald eine riesige Leinwand ausgelegt, sie mit Blumen, Gräsern und Zweigen bestückt und mit natürlichen Pigmenten bestreut. Licht, Sonne und Regen arbeiteten an der Leinwand, "fotografierten" die Objekte und schufen das Bild, das ihr oben seht. Es ist nicht nur atemberaubend schön, es macht auch nachdenklich, denn es erzählt von der Vergänglichkeit. Wir sehen nicht die Objekte selbst, wir sehen das, was sie beim Sterben hinterlassen haben. Es gibt sie nicht mehr, und doch haben sie einen "bleibenden Eindruck" hinterlassen. Und so ist die Arbeit von Sam Falls (es gibt noch mehr Bilder und Skulpturen von ihm zu sehen) ganz nebenbei und ohne dies zu thematisieren spirituell. 




Der zweite Künstler der ausgestellten vier, der mir Freude gemacht hat, ist der Brasilianer Ernesto Neto. Sein Beitrag für die Ausstellung "The Birth of Contemporous Blue Tree" in der dreizehn Meter hohen Eingangshalle war in ihrer schieren Größe, der Lebendigkeit und Farbenfreude für mich unmöglich zu fotografieren. Neto hat ein Zelt erschaffen, einen "Raum der Harmonie und Heilung", dessen Mittelpunkt eine monumentale Baum-Skulptur aus handgehäkelten brasilianischen Baumwollstoffen ist. An ihr und um sie herum hängen ebenfalls gehäkelte Körbe, die mit duftenden Kräutern und Gewürzen gefüllt sind.



"Zeitgenössische Kunst will über die Oberfläche hinausgehen", schreibt Neto. "Sie strebt nach Transparenz, Einheit in der Vielfalt, sie ist naturgemäß symbiotisch. Sie achtet Zerbrechlichkeit, sie will die Welt mit sorgsamer Aufmerksamkeit und Liebe berühren. Sie weiß, dass Poesie hier ist, jetzt, im stillen Gesang unseres Atmens."



Der Raum hat eine unglaublich warme, bergende Qualität. Umhäkelte Meditationskissen laden dazu ein, sich niederzulassen. Trommeln, Flöten und Klangschalen liegen herum, auch mein Lieblings-Instrument, die Handpan, die hier zu spielen ich euch aber nicht empfehle. Es ist so eine billige Pfanne aus dem Online-Versand, und die Umhäkelung tut ein Übriges dazu, den Sound zu ersticken.

Aber wie schön zu sehen, dass die Menschen die Einladung zum Mitmachen annehmen. Sie probieren die Instrumente aus, riechen an den Kräuterkörben und sind glücklich, dass man endlich in einer Ausstellung mal was anfassen darf. Als ich ging, fiel eine Kindergruppe ein, im wahrsten Sinne des Wortes, und verwandelte das Zelt mit Trommeln, Flöten und Klangschalen in eine schamanistische Zeremonien-Hütte. Und ich sah: Genau so ist dieses Kunstwerk gedacht, so hat Neto es sich vorgestellt. Als einen Raum der Begegnung, der Freude, des Spiels.

Der Vollständigkeit halber seien die beiden von mir nicht vorgestellten Künstler/innen erwähnt: Bianca Bondi und Julian Charrière. Die Ausstellung ist noch bis 3. November zu sehen. Alle Informationen hier (klick)  Ein Audio im SWR über die Vorbereitungen hier (klick) 

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Sonntag, 18. August 2024

Das Ende des Wartens


An einer Haltestelle hat was zu halten. Ein Bus, ein Taxi, ein Freund, den wir gerufen haben, weil der Bus voll besetzt vorbeigefahren ist. Auf das, was da halten wird, warten wir. Ungeduldig. Wann kommt er denn? Wann denn endlich? (Schon zwei Minuten überfällig!)

Weg, bloß weg. Das ist ja der Charakter des Wartens: Wir sind an einem Ort, an dem wir eigentlich nicht sein wollen. Wir haben hier nichts verloren und suchen auch nichts. Dieser Ort ist eine unangenehme Zwischenstation zu unserem Ziel, das irgendwo dort hinten, dort drüben, dort oben liegt: im Später, im Anderswo. 

Der Nahverkehr ist auch nicht mehr das, was er mal war. Die sollen endlich wieder fähige Logistiker einstellen, die für durchgehende Verbindungen sorgen. Wo sind diese Leute abgeblieben? Nach Corona ins Home Office verschwunden, wie das Gastro-Personal? Wahrscheinlich ist der Busfahrer schuld. Plaudert mit allen, die bar ihr Ticket bezahlen, und überhaupt, diese Barzahler! Senioren natürlich. Die sollen zu Hause bleiben, wenn sie mit der Fairtiq App nicht klarkommen. 

Was ist das für ein Ort, an dem unsere Erwartungen an den örtlichen Nahverkehr wieder einmal und erwartungsgemäß enttäuscht werden? Wir haben keine Ahnung. Er interessiert uns nicht, wir haben ihn uns nicht ausgesucht. Ist er hübsch, hässlich, bunt, fröhlich, langweilig? Wir schauen auf die Uhr. (Schon drei Minuten überfällig!)

Man kann sich auf allerlei sinnbefreite Art die Zeit an einem Wartehäuschen vertreiben.

Meine Lieblings-Haltestelle liegt auf 900 m in der Bergwiese. Ich war ziemlich außer Atem, als ich sie erreichte. Im weiteren Verlauf verengt sich der Höhenweg zu einem steinigen Pfad, den Wanderer nur hintereinander erklimmen können. An dieser Haltestelle hält kein Bus mehr, aber die Wanderin hält an, um innezuhalten. Hier zeigt das Thema Warten eine neue Facette. Es erweist sich als das, was es auch im Tal ist: eine im Grunde überflüssige und kraftzehrende Haltung.

Ich setze mich ins Gras. Da sind Bienen, Käfer, der Klang der Mittagsglocken aus dem Unterdorf. Sogar der Sommer ist da, obwohl er in diesem Jahr so lange auf sich warten ließ. (Zwei Monate überfällig!) Ich packe mein Picknick aus. Ein kleiner Wind fingert am Butterbrotpapier herum. Aah, Kuhglocken! Und irgendwo muss ein Esel sein, oder ist das doch eine Tür, die in rostigen Angeln schwingt?

Während wir warten, verpassen wir die einzige Zeit, die es gibt: diesen Augenblick mit allem, was er um uns herum bereithält. Wir sehen, hören, riechen ihn nicht, uns entgehen seine Farben, seine Formen. Und was uns vor allem entgeht, ist die heitere Leichtigkeit, die uns der Augenblick schenkt, wenn wir ihn nicht mit Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen ausblenden. 

Bienen also, Käfer, Glocken aller Art. Mir fällt wirklich nichts ein, auf das ich hier warten könnte. 

Es ist einfach schon alles da.

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Samstag, 10. August 2024

Staunen & wertschätzen

 

Ich habe kürzlich einen Post darüber geschrieben, dass ich immer häufiger sage "Ich weiß es nicht". Leider ist dies keine gute Zeit für das Nicht-Wissen (schrieb ich), denn die Menschen sehnen sich nach Gewissheiten, und die werden auch zuverlässig vom rechten politischen Rand bedient. Wer es nachlesen möchte: hier (klick).

Heute aber preise ich das Nicht-Wissen, diesen wunderbaren Zustand, in dem unser Geist leer ist von allem, was wir gelernt haben, was man uns eingetrichtert hat, was wir auf keinen Fall vergessen wollen, weil man uns gesagt hat, dass wir es nicht vergessen dürfen. Im Zustand des Nicht-Wissens haben wir sogar uns selbst vergessen, unsere Sorgen, unsere Pläne, unsere Grübeleien über die Zukunft (unsere Sehnsucht nach Gewissheiten ...). Fangen wir bescheiden an, üben wir das Nicht-Wissen erst einmal für zehn Minuten. (Zehn Minuten können sehr lang sein. 😉) 

Im japanischen Zen gibt es den Ausdruck shoshin. Er bezeichnet den "Geist des Anfängers", der jeden Moment wie zum ersten Mal wahrnimmt, auch wenn der Moment ihm etwas präsentiert, was er scheinbar schon hundert Mal gesehen hat. Das aber ist ein Irrtum. Da alles mit allem verbunden ist und jede Veränderung im Ganzen Veränderungen in jeder Einzelheit verursacht, ist jeder Moment neu, anders, und nur der Geist, der im Nicht-Wissen verweilt, nimmt die feinen Nuancen der Veränderung wahr. 

Henry David Thoreau versuchte sich in allerlei Berufen. Er war Lehrer, Landvermesser und kurzzeitig sogar Fabrikant. Nach diesen kurzen Ausflügen in die Welt der Erwerbstätigen zog er sich 1845 in eine selbst gezimmerte Hütte an den Walden Pond in den Wäldern Massachusetts zurück: "Ich zog in die Wälder, weil ich bewusst leben, mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens auseinandersetzen und zusehen wollte, ob ich das lernen konnte, was es mich zu lehren hatte. Ich wollte nicht auf dem Sterbebett einsehen müssen, dass ich nicht wirklich gelebt hatte." In den folgenden zwei Jahren wanderte er durch die Wälder, lauschte dem Sturm und dem Regen auf dem Dach und schrieb seine Tagebücher, die zu Lebzeiten kein Mensch kaufen wollte und die heute zur Weltliteratur gehören.

Thoreau war ein Meister des Nicht-Wissens: "Erst wenn wir all unser Wissen vergessen, beginnen wir, etwas zu wissen. Wenn du die Farne kennenlernen willst, musst du deine Botanik vergessen. Du musst deine sogenannten Kenntnisse über sie loswerden. Du musst dir bewusst sein, dass kein Ding deiner Vorstellung von ihm entspricht. Dein Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich."

Müssen wir also jahrelang meditieren oder Achtsamkeit praktizieren, um in den seligen Zustand des Nicht-Wissens zu kommen? Nein: Unser Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich. Dieser Zustand ist das Staunen.

Staunen über das, was ich sehe, höre, rieche, schmecke. Ich habe mein Wissen darüber vergessen. Es ist ohnehin ganz neu, denn so hat es noch nie ausgesehen, geklungen, gerochen, geschmeckt. Wenn ich staune, verweile ich im Nicht-Wissen. Ich gebe kein Urteil ab, ich vergleiche nicht, ich belege meine Wahrnehmung nicht einmal mit einem Namen, also einem Etikett. Der Name bezeichnet das, was ich schon kenne. Das hier aber kenne ich nicht.

Staunen ist untrennbar verbunden mit Wertschätzung. Vielleicht stelle ich nach ein paar Sekunden oder Minuten fest, dass mir das, was ich wahrnehme, nicht recht gefällt. Kein Problem, dann gefällt es mir eben nicht. Wertschätzung bezieht sich nicht auf den Wert, den der Moment für mich hat. Sie feiert vielmehr den Moment selbst in seinen zahlreichen Facetten, sie feiert seine Lebendigkeit, die überraschende, erstaunliche Vielfalt des Lebens. 

Als ich meinen Salatkopf aus dem Hofladen entblätterte, staunte ich nicht schlecht. Er war bewohnt. Na sowas. Das Leben ist voller Überraschungen.

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Samstag, 3. August 2024

Eine Bahn-Geschichte


... und draußen fliegt die Landschaft vorbei


Nein, nicht die übliche Geschichte über blockierte Türen, Böschenbrand, in der Hitze verbogene Weichen und zwei Stunden Verspätung. Sondern eine darüber, wie man innerhalb von zehn Minuten Freude und Schmerz bereiten kann.

Fahrt nach Hohenau zu meinem Retreat im Intersein Zentrum. In Bayern und Baden-Württemberg beginnen die Ferien, halb Deutschland reist mit großen Koffern. Ich musste kurzfristig buchen und konnte einen der letzten Sitzplätze reservieren. Neben mir sitzt ein junger Business Man. Anzug, Apple Notebook, Smartphone, viel Papier. Zu viel Papier für einen Fensterplatz im ICE, also klemmt er einen Teil davon zwischen das hochgeklappte Tablett und den Vordersitz. Tippen, aufgeregtes Telefonieren, Tabellen ausfüllen, erneut tippen. Der arme Kerl, denke ich. So jung und schon ein Kandidat für späteren Herzinfarkt. Der Zug rollt in einen Bahnhof ein, und ihm fällt in letzter Sekunde ein, dass er aussteigen will. Er rafft sein Zeug zusammen und stürzt hinaus. Zwischen Tablett und Vordersitz klemmen die Tabellen. Ich stürze ihm hinterher und wedele mit den Papieren aus der Zugtür. Er ruft: "Oh nein, danke, danke, die sind wichtig!"

Ich sinke zurück in meinen Sitz und fühle mich ausgesprochen gut. Eine aufmerksame, hilfsbereite Frau bin ich, die für andere mitdenkt und sie nicht im Stich lässt. Ja, so sehe ich mich gern. Und dann, obwohl es da keinerlei Zusammenhang gibt, habe ich den Wunsch, die Toilette aufzusuchen.

Der Schalter steht auf Grün, aber die Tür geht nur einen Spaltbreit auf und wird sofort wieder zugeworfen. Allerdings nicht abgeschlossen. Ich probiere es noch einmal. Tür auf, zugeworfen. Zufällig - ich möchte hier ausdrücklich an Zufall glauben, obwohl ich sonst gerne erkläre, dass alles mit allem zusammenhängt und man deshalb von Zufall nicht sprechen kann -, also zufällig steht die junge Zugbegleiterin neben mir im Gang und telefoniert. Meine Ratlosigkeit angesichts der offenen und dennoch besetzten Toilette erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie beendet ihr Telefonat und drückt die Klinke. Die Tür geht kurz auf und wird sofort wieder zugeworfen. Aber jetzt haben wir beide einen Blick erhascht auf einen jungen schwarzen Mann, und die Zugbegleiterin wird auf der Stelle von einer Energie erfasst, die mir zeigt: Diese Situation kennt sie, die hat sie schon Dutzende Male erlebt. Sie klopft mit ihrem Handy an die Tür und ruft: "Kollege, sofort rauskommen, rauskommen habe ich gesagt!"

Er schleicht in den Gang. Siebzehn, achtzehn Jahre alt. In der Hand ein Stoffbündel. Abgerissene Hosen, schmutziges T-Shirt. "Ticket, Kollege!" ruft die Zugbegleiterin und hält ihn am Shirt fest. Langsam dreht er sich um und schaut mich an. Nicht sie. Mich. Ich habe einmal in einem Zoo eine Antilope gesehen, der die Trauer über die verlorene Savanne in den Augen stand. Sie schaute mit der Sanftheit, die man, denke ich, ganz am Ende hat, wenn man weiß, dass es nicht mehr gut werden wird und dass die Träume ausgeträumt sind. 

So schaut er mich an, der junge Schwarze.

Er sagt kein Wort. Kein einziges, die ganze Zeit über. Von meinem Sitz aus sehe ich die Zugbegleiterin erneut telefonieren. Der Zug läuft im Hauptbahnhof Darmstadt ein, sie weist auf die offene Tür, und er steigt aus. Steht mit seinem Bündel auf Gleis 2 in einer Stadt, die er noch nie betreten hat und in die er mit Sicherheit nicht wollte. Steht dort unbeweglich immer noch, als der Zug an ihm vorbei den Bahnhof verlässt. 

Sicher wäre doch irgendwann jemand anderes auf die Toilette gegangen, sage ich mir. Reiner Zufall, dass ich es war. Nur wäre dann vielleicht die Zugbegleiterin nicht in der Nähe gewesen. Und er hätte es geschafft. Unentdeckt dort hinzukommen, wo er hinwollte. Aber wollte er überhaupt irgendwo hin, außer in eine Art Sicherheit, die er in einem bürokratisch organisierten Land nicht finden wird?

Ich kann den Blick nicht vergessen. 

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Montag, 29. Juli 2024

Barbara Bleisch "Mitte des Lebens"


Die Philosophin Barbara Bleisch moderiert neben Yves Bossart und Olivia Röllin die "Sternstunde Philosophie" im Schweizer Fernsehen. Soeben ist ihr neues Buch "Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre" im Hanser Verlag erschienen. Die Jahre zwischen fünfunddreißig und fünfundsechzig sind eine Art terra incognita. Die früheren Entscheidungen sind oft nicht mehr stimmig, aber neue Wege sind noch nicht in Sicht. Eine gute Ausgangssituation für eine philosophische Untersuchung, findet Barbara Bleisch und zitiert Ludwig Wittgenstein, der die Einsicht, sich nicht auszukennen, als Grundform jedes philosophischen Problems ansah.

Barbara Bleisch erteilt keine Ratschläge. Sie hat vielmehr eine, wie sie es nennt, „Landkarte für die Wanderung durch die Landschaft der eigenen Möglichkeiten“ geschrieben. Gerade die mittleren Jahre sind ja anfällig für Krisen, denn die vorläufige Bilanz des gelebten Lebens enthält Erfolge und Höhepunkte ebenso wie enttäuschte Hoffnungen. Barbara Bleisch aber weist darauf hin, dass gerade die Umwege zu unserem wichtigsten Erfahrungsschatz gehören. Welches Fazit zieht sie aus dieser Lebensspanne, in der sie sich selbst befindet?

"Lieber überschäumend vor Träumen und Sehnsüchten sein und einsehen müssen, dass nicht alles gelebt werden kann, was einen reizt, als ein langweiliges Schalentier oder eine deprimierte Person, die gar keine Sehnsucht kennen."

Meine Rezension in SWR Kultur findest Du hier (klick)

Und falls Du diese kluge und sympathische Autorin noch nicht kennst, kannst Du sie zum Beispiel in diesem Interview mit dem Mönch Matthieu Ricard erleben: 


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Mittwoch, 17. Juli 2024

Die Qual der Wahl


Nach welchen Kriterien triffst du deine wichtigen Entscheidungen?

Sagen wir mal, du hast endlich den Job deiner Träume gefunden. Sehr gut bezahlt, voller Möglichkeiten, dich kreativ zu betätigen, beste Aufstiegschancen. Allerdings lebst du in Berlin und müsstest beispielsweise in die Lüneburger Heide umziehen (tolle Firmen sitzen inzwischen oft auf dem Land). Dein Partner, deine Partnerin muss/will aber in Berlin bleiben. 

Wahrscheinlich besprichst du das Thema mit allen, die dir nahestehen. Der Vater rät zu (Karriere!), die Mutter und Freundin Hanna raten ab (Beziehung ist wichtiger als Karriere!). Du machst eine Liste mit dem Pro und dem Kontra, und beide Seiten sind gleich lang. Du bist so klug wie zuvor, grübelst und schläfst schlecht. Manche Menschen legen in solchen Momenten Tarot-Karten, werfen ein I Ging oder pendeln. Kann man machen, aber natürlich sind all diese Hilfsmittel nicht das, was zu sein sie behaupten: eine Vorhersage der Zukunft. Sie funktionieren vielmehr wie ein Spiegel: Sie zeigen dir dein eigenes tiefes Wissen über die Situation. Um dieses Wissen zu berühren, brauchst du aber keine Karten. Das schöne deutsche Wort un-Mittel-bar weist einen anderen Weg, den direkten.

Wenn ich eine schwierige Entscheidung treffen muss, setze ich mich auf mein Kissen und meditiere. So entsteht in meinem Geist ein weiter Raum der Stille und Leere, in dem sich jetzt eine andere, die wichtigste, Instanz zu Wort melden kann: mein Wahres Selbst, die Quelle, der Ursprung alles Seienden, das Göttliche - du kannst es aber auch ganz einfach Intuition nennen. Intuition ist kein Gefühl. Ihre Stimme ist leise, aber überzeugend, und sie zu hören erfordert Geduld. Die Antwort kommt in einem Bild, einem Satz, einer Ahnung, einer Gewissheit - und oft später und nebenbei, vielleicht wenn ich gerade koche, dusche oder mit jemandem im Gespräch bin. Ich halte inne und weiß: Das ist es. So mache ich es.

Nun weiß ich aber, dass nicht jede und jeder so viel Meditationserfahrung hat wie ich. Und ich weiß auch, dass manchmal die überzeugendste Antwort hinterher begrübelt und dadurch zum Verstummen gebracht wird. Gibt es denn eine Möglichkeit, durch Denken zu der besten Antwort zu gelangen?

Die amerikanische Philosophin Laurie A. Paul lehrt an der Yale University. Bei ihr habe ich diesbezüglich einen sehr guten Satz gelesen. Sie schlägt die Frage vor: 

"Will ich herausfinden, wie mich diese Entscheidung verändert?" 

Die Frage ist deshalb so gut, weil sie etwas klarmacht, was wir gern übersehen: Jede Entscheidung verändert uns. Wir wissen nicht, wie wir uns einfügen werden in die neue Firma, wir wissen nicht, wie man uns empfangen wird, ob wir zufrieden sein werden und ob die Fernbeziehung halten wird. Aber auch die Entscheidung, alles beim Alten zu belassen, verändert uns. Selbst wenn wir in unserem Beispiel in Berlin und im alten Job und in der gewohnten Beziehungsform bleiben, hat es das tolle Angebot und unsere Absage gegeben. Wir sind nicht mehr die, die wir waren, bevor das Angebot kam. Weil uns jeder Schritt, den wir unternehmen, verändert, können wir vorher nie mit Bestimmtheit sagen: Dies ist richtig, dies falsch.

Die Frage dagegen eröffnet uns einen Raum, der jenseits von Richtig und Falsch ist. In diesem Raum lebt die Neugier auf das, was wir sein könnten und noch nicht sind, aber vielleicht sein werden - durch diese Entscheidung, egal, ob dafür oder dagegen.

(Hier wird es eine kleine Sommerpause geben. Wir hören und lesen uns wieder, auf jeden Fall.)

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Samstag, 13. Juli 2024

Steffen Diemer, Fotograf der Stille

 


Zwanzig Jahre reiste der Fotoreporter Steffen Diemer durch die Krisengebiete der Welt und dokumentierte Krieg und Gewalt für Magazine wie Der Spiegel und National Geographic. Dann wurde vor seinen Augen ein Mensch, der ihm wichtig war, erschossen, und Steffen Diemer zog sich zurück nach Landau in die Pfalz. Bis heute versucht er, Geist und Seele von dem, was er gesehen und erlebt hat, zu heilen, und er tut das so, wie es alle Künstler tun: Er arbeitet in seinem Metier.

Als er nicht mehr wusste, wie es mit der Fotografie für ihn weitergehen sollte, trat eine uralte Technik in sein Leben: das Nassplatten-Kollodium-Verfahren. Eine anspruchsvolle Technik, die volle Konzentration erfordert - und sehr viel Zeit braucht, mitunter pro Arbeit drei Wochen. Denn jedes Motiv will genau gesehen und verstanden werden. Minimalistische Bilder entstehen, und jedes Bild gibt es nur ein Mal: Ein Zweig, eine Blüte, ein Stück Gemüse, zumeist auf schwarzem Glas und oft gerahmt auf antiken Stoffen. Es verwundert nicht, zu hören, dass Diemer fast vier Jahre in Japan gelebt hat.

In diesem berührenden Dokumentarfilm begleiten wir Steffen Diemer durch seine Arbeitstage. Gänge durch die Landschaft, heimkommen mit einem Zweig; warten mit der Uhr in der Hand, um den exakt richtigen Zeitpunkt für das Ende der Belichtung abzupassen. Und wir hören - und sehen - einem Künstler beim Nachdenken und schmerzhaften Erinnern zu.

Ein Film, der Stille, Ruhe, Schönheit und Trauer ausstrahlt. Große Empfehlung.

Für alle, deren Browser youtube-Videos nicht wiedergeben: hier entlang (klick)

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Dienstag, 9. Juli 2024

Im Rücken der Statuen



IM RÜCKEN DER STATUEN

da ist Gesicht.

Leg deine Hand auf den Stein
deine Hand hört die Zeit
das Unendliche spricht
in vergessener Sprache

Wir nennen sie: Verfall

Margrit Irgang


ALLE SPALLE DELLE STATUE

é li il viso.

Posa la tua mano sulla pietra
la tua mano ode il tempo
l'infinito parla
una lingua dimenticata

Noi la chiamiamo: dissoluzione

Margrit Irgang
(Trad.: Simona Venuti)


Als ich vor vielen Jahren für ein sorgloses Jahr in der Villa Massimo in Rom lebte, der deutschen Residenz für bildende Künstler, Komponisten und Schriftsteller (und ja, alle in weiblicher und männlicher Gestalt), begann ich zu fotografieren. In der Jahresausstellung der Villa zeigte ich auf einer großen Wand meine vergrößerten Schwarz-Weiß-Fotos und die Gedichte, auf Deutsch und, übersetzt von Simona, auch auf Italienisch.

Eine immer noch wichtige Arbeit über Veränderung und das, was bleibt. Denn nichts vergeht, es wechselt nur seine Gestalt.

Daran sollten wir uns gerade jetzt ab und an erinnern.

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Mittwoch, 3. Juli 2024

Kategorische Urteile

 

Als ich jung war, wusste ich noch genau, was richtig ist und was falsch. Also welche Schuhe zu welchem Outfit zu tragen sind oder wie man ein bestimmtes Getränk richtig zubereitet und trinkt (mit oder ohne Strohhalm oder aus der Flasche). Alles andere war, um es im heutigen Sprachgebrauch auszudrücken, ein No-Go. Mit zunehmendem Alter weiß ich immer weniger; mir erscheint das Leben in seiner Gesamtheit eher unüberschaubar und uneindeutig. Jedes Phänomen, das sich zeigt, ist auf zumeist nicht nachvollziehbare Weise verknotet mit anderen Phänomenen. Mir fällt auf, dass ich auf Fragen immer häufer antworte: "Ich weiß es nicht." Mir fällt auch auf, wie befreiend sich das für mich anfühlt. Ich muss nicht auf alles eine Antwort haben (tatsächlich nehmen die Fragen für mich im selben Maß zu, wie die Antworten abnehmen).

Nun ist dies aber keine gute Zeit für das Nicht-Wissen. Die Weltlage ist prekär und, ich sagte es bereits, unübersichtlich. An allen Ecken und Enden kann jederzeit etwas explodieren, und wegen der allseitigen Verwobenheit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nicht nur die betreffende Ecke, sondern ein umfangreiches Ganzes dabei in die Luft fliegt.

Deshalb ist allenthalben die Sehnsucht nach klaren Urteilen groß. Wenn man zu wissen glaubt, was richtig ist und was falsch, kann man sich zumindest in seiner privaten Welt einigermaßen sicher fühlen. In allen Ländern gewinnen jene Parteien zunehmend an Einfluss, die kategorische und angeblich alternativlose "Wahrheiten" verkünden. Darüber wundern oder empören sich, je nach Temperament, viele Menschen. Ich wundere mich nicht, denn ich bin unterwegs. Im Supermarkt, in der Post, im Straßenverkehr. In der Welt der kategorisch verkündeten kleinen und ganz alltäglichen "Wahrheiten".

Obst-Abteilung im Edeka, ein Samstagmittag im Februar. Eine Kundin dreht unschlüssig ein winziges Schälchen Erdbeeren (aus Marokko) in der Hand und entschließt sich zum Kauf. Neben ihr ein Ehepaar in meinem Alter, das die sportliche Methode der Rüge beherrscht: Man wirft seine Bemerkung einem darauf eingespielten Partner zu, der sie im vorher berechneten Winkel zurückspielt auf die Person, der sie gilt. Die Frau, empört: "Erdbeeren im Winter, teuer eingeflogen - so was sollte verboten werden." Der Mann pariert: "Jawohl, kein Mensch braucht Erdbeeren im Winter." Die Erdbeer-Käuferin hat einen Anflug von Röte im Gesicht und flieht. Sie hätte in den Einkaufskorb der Tadlerin blicken sollen. In ihm hätte sie ein Netz Orangen gesehen (aus Spanien).

In meiner Stadt Freiburg fährt man Rad. Sogar der Oberbürgermeister zeigt sich auf Instagram beim morgendlichen Anradeln ins Rathaus. Autos sollen, so das Ziel der Stadtverwaltung, aus dem Stadtverkehr verbannt werden. Das finde ich gut. Leider ist der öffentliche Nahverkehr im Umland noch nicht so ganz in die Idee eingeweiht, er hinkt buchstäblich der Verkehrswende hinterher. Wer schön grün und draußen wohnt (wie ich), muss gelegentlich für ansonsten schwer erreichbare Ziele zu ungünstigen Zeiten sein Auto nutzen.

Ich stehe an der roten Ampel, neben mir hält ein Radfahrer. Plötzlich ein markerschütternder Krach: Der Mann hat seine Faust auf mein Autodach gedonnert. Jetzt springt die Ampel auf Gelb, und er spurtet los. Setzt sich direkt vor mich, obwohl rechts ein breiter, eigens angelegter Radweg mitläuft, bremst ab und beginnt, in der Mitte der einspurigen Straße gemütlich dahinzugondeln. Mit 20, wie mein Tacho verrät. Er fährt genüsslich und lang. In dieser Stadt ist er der Gute, und falls etwas passieren sollte zwischen seinen zwei Rädern und meinen vier, dann hat er vielleicht nicht unbedingt das Recht, aber alle Sympathien auf seiner Seite.

In dieser von mir sehr geliebten Stadt hat es das "Anti-Luxus-Kollektiv" auf Autos größerer Bauart abgesehen, vorzugsweise SUV. Sie ziehen nachts in kleinen Gruppen durch die besseren Viertel, schrauben die Ventilkappen der Reifen ab, drücken eine Linse hinein - ja, eine gewöhnliche Speiselinse, die kleinen grünen eignen sich gut -, schrauben die Kappen wieder auf, und während sie sich aus dem Staub machen, entweicht langsam die Luft aus den Reifen. Vor ein paar Tagen waren sie wieder unterwegs, nach eigenen Angaben haben sie an die 200 Autos fahrunfähig gemacht. In der Presse äußern sich aufgebrachte Wagenbesitzer, und ich sehe, dass es den einen oder anderen guten Grund gibt, in der Stadt ein schweres Auto mit hohem Einstieg zu fahren. Die hundertprozentig gehbehinderte alte Dame zum Beispiel hat einen; ihr Wagen, der für Notfälle einsatzbereit sein muss, stand auf dem Behindertenparkplatz, ihr Ausweis lag hinter der Windschutzscheibe. Oder der Arzt, der seine Patienten bei Hausbesuchen betreut und mehrere Pflegeheime anfährt, jeweils mit Koffern schwerer medizinischer Geräte.

Diese beiden wie die anderen fanden ein Flugblatt an der Windschutzscheibe vor, in dem ihnen vorgeworfen wurde, einen "verbrecherischen Luxus-Konsum" zu pflegen und einen "Angeber-Schlitten" zu fahren: "Deshalb haben wir uns gezwungen gesehen, Ihren Luxuskarren zu entwaffnen."

Jetzt habe ich neue Fragen. Zum Beispiel diese: Wie wäre es, die Ereignisse in der "großen Politik" als Spiegel zu sehen für unsere kleinen alltäglichen kategorischen Urteile, die keinen Schimmer von Verständnis und Mitgefühl zeigen? Wie wäre es, in diesen Urteilen unsere Sehnsucht nach Gewissheiten zu erkennen und diese Sehnsucht zu spüren als das, was sie ist: ein fragiler Zustand, in dem wir uns ausgesetzt und hilflos fühlen? Was wäre, wenn wir erkennen würden, dass unsere kategorischen Urteile über andere uns zumindest vorübergehend das trügerische Gefühl der Macht und Stärke verleihen, das uns weder trägt noch nährt? Wie wäre es, zu erkennen, dass die Ereignisse in der "großen Politik" nicht nur ein Spiegel für uns sind, sondern ihren Ausgangspunkt an unseren Küchentischen und am Gemüsestand des Supermarkts haben? Weil - oh, wie wäre es, dieses Weil zu erkennen - wir mit jedem unserer kleinen gnadenlosen Urteile entsprechende Nervenbahnen in unserem Gehirn gestärkt und gekräftigt haben, sodass irgendwann, in einer Wahlkabine oder auf einer Demonstration oder einfach in der Begegnung mit einem Passanten, der nicht so aussieht wie wir, die Nervenbahnen ganz automatisch und autonom reagieren mit einem Verhalten, das diesen Nerven und uns sehr vertraut ist, denn wir haben es in vielen kleinen scheinbar unbedeutenden Momenten eingeübt?

Wie wäre das?
 

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Freitag, 28. Juni 2024

Retreat in Bayern



Wenn Du in ein Retreat gehst, gönnst Du Dir eine Auszeit. Du lässt den Alltag mit seinen Pflichten und kleinen und großen Problemen hinter Dir und fährst an einen Ort, der Dich nährt und Dir Kraft gibt, damit Du gestärkt in Deinen Alltag zurückkehren kannst. Solch ein Ort ist das Intersein-Zentrum im Bayerischen Wald, in dem ich im Juli wieder mein jährliches Retreat gebe. Und diesmal zu einem besonderen Thema:

20. - 24. Juli 2024

Erwecke deine schöpferische Kraft

Intersein-Zentrum, Hohenau

Mehr Informationen und Anmeldung hier (klick)

Keine Sorge, Du brauchst kein akademisch anerkanntes künstlerisches Talent, um Dich schöpferisch auszudrücken. Dein ganz eigener Beitrag zu einer lebenswerten, leuchtenden Welt könnte ein Garten sein, ein Produkt, ein Projekt. Oder - und das ist vielleicht der größte Wunsch - Du möchtest Dich selbst zu einem Menschen machen, der inspiriert ist und andere inspiriert.   

Schöpferische Kraft kommt aus der Quelle des Seins, die auch in uns ist. Thich Nhat Hanh hat sie "dein Wahres Selbst" genannt. Die Achtsamkeits-Praxis hilft Dir, den Weg frei zu machen zu der leisen Stimme, mit der Dein Wahres Selbst spricht. Wenn Du die Impulse und Ideen, die sie Dir schenkt, zulässt, wird Dein Leben magisch werden. 

In meinem Retreat im Intersein-Zentrum möchte ich mich mit Dir auf die Reise zu Deiner Schöpferkraft machen. Ist sie dasselbe wie die allseits geforderte "Kreativität"? Nein, ganz und gar nicht - aber was ist der Unterschied und was zeichnet wahres Schöpfertum aus? Wir werden es gemeinsam herausfinden.

Ich würde mich freuen, Dich in Hohenau zu sehen.

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Freitag, 21. Juni 2024

Die Sonne wendet sich

 

Ein Feuerchen, das den Feen den Weg zu uns weist ...


Heute feiern wir den längsten Tag, also den höchsten Stand der Sonne. Und wenn wir noch eine klitzekleine innere Verbindung zu den alten Bräuchen unserer Vorfahren haben, entzünden wir ein großes Feuer und springen mutig darüber. Denn unsere Ahnen, die Kelten, glaubten, dass am Tag des höchsten Sonnenstandes die Feen der Menschenwelt ganz nahe kommen. Und damit sie sich den Menschen furchtlos nähern und von ihnen bemerkt werden konnten, mussten vorher die bösen Geister in der Aura der Menschen im Feuer verbrannt werden. 

Für unsere Vorfahren war die Sommersonnwende ein Fest der Freude und des Dankes an die Natur, die sie so üppig beschenkt hat. Sie sammelten die Sommerkräuter, die jetzt ihre höchste Kraft haben: Holunder, Johanniskraut, Arnika, Beifuß, Ringelblume und Schafgarbe. Auch das Kräuterbüschel wurde kurz ins Feuer gehalten, um ihm die Feuerkraft mitzugeben. Dann wurde es im Haus an den Balken gehängt und getrocknet, um im Winter zu heilendem Tee aufgegossen zu werden.

Und wir? Leider haben wir vergessen, das Licht zu feiern, als es seinem Höhepunkt zustrebte. Wir hätten genügend Zeit gehabt, immerhin sechs Monate lang. Aber wir waren zu beschäftigt mit Dingen allerhöchster Dringlichkeit, und außerdem hat es ja dauernd geregnet. Und jetzt - ja, heute Nacht, man fasst es nicht - beginnt sie schon, die dunkle Zeit. Ach was, eigentlich ist sie schon da, jedenfalls in unserem Gefühl und unseren mürrischen Mienen: diese schreckliche Düsternis, die Kälte, die uns in die Knochen kriecht. Wir frieren uns schon mal ein.

Aber es ist nicht zu spät, sie alle zu feiern, die wir zu lange als selbstverständlich hingenommen haben: die Himbeeren, Erdbeeren, den Spargel und Rhabarber, den Schnittlauch und die Petersilie, die Mohnblumen, Ringelblumen, Margeriten, die Gräser und Bäume, die Bienen und Wespen und Schmetterlinge. Wir feiern die Fülle, mit der die Natur uns beschenkt, einfach so, und unser Einsatz war nicht mehr als ein wenig Gießen, Düngen und Umgraben (oder ein paar Euro für den Bauern im Hofladen).

Übrigens: Erst in dem Moment, in dem die Sonne im Jahreslauf am Niedersinken ist, beginnt das große Reifen in der Natur. Erst in den kommenden Wochen röten sich die Himbeeren, werden die Johannisbeeren süß, duftet betörend der Jasmin. Die Rosensträucher biegen sich unter der Last der Blüten, wie es bald auch die Apfel- und Birnbäume tun werden, von den Rebstöcken ganz zu schweigen.

Vielleicht sollte man sich das mal merken: Erst wenn die Lebensbahn sich dem Ende zuneigt, beginnt die eigentliche Ernte.

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