"Du kannst etwas als permanent wahrnehmen und gleichzeitig verstehen, dass es durch und durch vergänglich ist. Wenn dir das gelingt, kannst du damit aufhören, dem, was du siehst, bestimmte, unveränderliche Qualitäten zuzuschreiben - und wirst nicht auf irrige Art und Weise reagieren. Die Welt der Erscheinungen zu dekonstruieren hat etwas Befreiendes. Man ist nicht mehr in seinen eigenen Wahrnehmungen verstrickt und hört auf, die Welt der Phänomene zu vergegenständlichen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt, und infolgedessen auch auf die eigene Erfahrung von Glück und Leid.
Sind alle mentalen Konstruktionen demaskiert, nimmt man die Welt als einen dynamischen Fluss von Ereignissen wahr und hört auf, die Realität auf irrige Weise einfrieren zu wollen. Das Wasser/Eis-Beispiel illustriert das sehr schön. Gefriert Wasser, bildet es feste Formen, die dir in die Hand schneiden. Du kannst dir auch die Knochen brechen, wenn du darauf fällst. Nun könnte man annehmen, dies sei das wahre Wesen des Wassers: Es hat eine bestimmte Gestalt, es ist hart etc. Es lässt sich außerdem in verschiedene Formen bringen - etwa die einer Blume oder eines Schlosses. Du kannst die Statue eines geliebten Menschen oder das Ebenbild einer Gottheit daraus modellieren. Doch sobald es warm wird, schmelzen all diese verschiedenen, klar definierten Formen zu genau derselben Flüssigkeit zusammen, zu demselben formlosen Wasser. (...) Wasser ist ein dynamischer Fluss, der temporär eine scheinbar stabile Gestalt annehmen kann. Dasselbe gilt für die Realität: Wenn wir davon ablasssen, sie sozusagen einzufrieren, setzen wir uns nicht mehr der Gefahr aus, sie als etwas Stabiles zu verdinglichen, das mit einem wahren, intrinsischen Wesen ausgestattet ist, und werden nicht in die Irre geführt."
Matthieu Ricard
Dies ist ein kleiner Auszug aus diesem Buch, das ich unbedingt empfehle: Dialoge zwischen dem Hirnforscher Wolf Singer und dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard über Meditation und Gehirn, unbewusste Prozesse, die Realität, das Selbst, den freien Willen und das Wesen des Bewusstseins.
Wolf Singer, Matthieu Ricard "Jenseits des Selbst", Suhrkamp Verlag.
Meine Rezension in SWR 2
in der SWR Mediathek hier (klick).