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Mittwoch, 3. September 2025

Zu Gast im Podcast "Let's Talk Why"

"Symbolbild": Diesmal saß ich nicht im Studio, aber das Equipment war ähnlich aufwendig.


Vor einem Jahr waren die Hosts des Podcasts "Let's Talk Why" - Alessandro Limentani und Christoph Engel - bei mir in Freiburg und haben mich zu meinem Schreiben und dem Zen befragt. Es war ein extrem heißer Augusttag in meiner Dachwohnung; nicht die erfrischendsten Bedingungen also. Ich bin ja keine Plauderin, und Schweigen ist meine liebste Daseinsform, aber dann habe ich doch mehr als eine Stunde lang so allerlei gesagt.

Vielleicht magst Du es Dir anhören? Es gibt vorher zwanzig Minuten eine Art Warm Up unter dem Titel "Behind the Mic", in dem wir uns in das Gespräch hineintasten. Auf youtube findest Du diesen Teil des Podcasts hier (klick).    Auf Spotify hier (klick).




Das Video führt Dich zu dem Gespräch selbst auf youtube. "Zwischen Sprache und Schweigen" haben es die beiden Hosts genannt. Für alle, bei denen die youtube-Videos nicht angezeigt werden: hier entlang (klick). Und auf Spotify findest Du das Gespräch hier (klick).

Ich hoffe, es macht Dir Spaß, uns zuzuhören. 

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Samstag, 21. Juni 2025

Rhythmus in meinem Leben

 


Die Wissenschafts-Journalistin Dr. Ulrike Gebhardt interessiert sich für das Thema Rhythmus. Sie schreibt darüber in dem interessanten Blog "Taktvoll" hier (klick). 

Ab und an befragt sie Menschen nach ihren eigenen Rhythmen und wie sie diese leben. Sie hat auch mich eingeladen, die Fragen in ihrem Fragebogen zu beantworten, über die nachzudenken sich für jede/n lohnt. Habe ich gern gemacht. 

Wenn ihr Lust habt, schaut ihn euch an hier (klick).

Ihr erfahrt ein paar Dinge über mich, die ihr mich sicher nie gefragt hättet. 😊

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Sonntag, 13. April 2025

Der Bücherdieb

 

Hier wär`s legal


Bei uns gibt es Sozialkaufhäuser, die eine fabelhafte Auswahl an Büchern haben. Jedes Buch ein Euro, mittwochs siebzig Cent. Vor einem Monat habe ich einen Karton Bücher gespendet, Romane von guten Autoren, die es schaffen, gleichzeitig klug und unterhaltsam zu schreiben. Raritäten also.  Ich freue mich zu sehen, dass nur zwei meiner Bücher keinen Käufer gefunden haben. In einem von ihnen blättert gerade ein Mann, den ich hier noch nie gesehen habe. Ausgebeulte Hose, unförmiges Cord-Jackett, aber ein tadelloser Haarschnitt. Pensionierter Lehrer, gescheiterter Philosoph, Künstler? Er stellt das Buch zurück und greift nach dem zweiten meiner Bücher. 

Hinten bei den Haushaltsgeräten gibt es eine kleine Explosion, so was kommt öfter vor. Die gespendeten Geräte werden zur Probe angeschlossen und erweisen sich als reparaturbedürftig. Als ich mich wieder umwende, sehe ich eine Hand mit meinem Buch in der Tasche des Cord-Jacketts verschwinden. Sehe jetzt auch, wovon diese Hose so ausgebeult ist. Der Mann besorgt sich seinen Lesestoff fürs Wochenende, offenbar ein Vielleser. Jetzt schlendert er zum Ausgang, betont unauffällig. Es fehlt nur, dass er zu pfeifen anfängt. Ein Anfänger. Muss im hohen Alter noch eine nie geübte Tätigkeit erlernen, sie liegt ihm nicht, das sieht man ihm an. 

An der Kasse vorbei, an der unübersehbar ein Schild hängt mit der Aufschrift "Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht". Ich beginne zu grübeln. Wo ist die Anzeige, fern, nah, um die Ecke? Und wie bringt man den Diebstahl dorthin?

Die Antennen von Herrn Schreck sollten jetzt vibrieren, aber Herr Schreck packt gerade an der Kasse den Einkauf einer Kundin ein. Jetzt müsste also ich. Genau sein. Streng. Steht deutlich an der Kasse: Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht! Vier Taschenbücher, heute ist Freitag, macht vier Euro. Haben Sie gerade nicht dabei? Dann hätten wir eine andere Zahl für Sie. 110. 

Der Mann beschleunigt seinen Schritt, läuft die Verandastufen hinunter, schwingt sich auf ein klappriges Rad und radelt davon. Ein freiberuflicher Philosoph, dessen Philosophie so unverständlich ist, dass sie niemanden interessiert? Ein Bildhauer, der seit zehn Jahren nichts verkauft hat? Man muss die Bücherliebhaber lieben. Kein Tablet, kein Tolino. Papier. Bücherliebhaber sind aus der Zeit gefallen, kommen nicht mehr mit. Werden auch nicht mehr in sie hineinfinden, die Zeit ist immer schneller als sie auf ihren klapprigen Rädern. Ich wüsste gern, was er außer meinem Buch geklaut hat. Vielleicht hätte ich ihn beraten sollen, auch ein Diebstahl muss sich lohnen.

Ich fühle mich sehr beschwingt.

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Freitag, 7. Februar 2025

Katzen, die scheinbar zufällig vor Haustüren sitzen

 

So eine Katze auf der Suche nach einem Menschen sitzt beispielsweise eines Tages auf der Gartentreppe, als habe sie jemand versehentlich dort abgestellt. Falsches Haus, falsche Treppe, die Katze blickt entschuldigend, sie kann ja nichts dafür. Wo sie nun aber schon mal da ist, schaut sie sich auch an, was ringsherum geboten wird, vor allem den Menschen, der die Tür geöffnet hat und hoffentlich Oh, eine Katze! ruft; ein gutes Zeichen, er hätte auch einen Pantoffel werfen können. Türöffnende Kinder sind vielversprechend und heikel zugleich, sie rufen Nein, ist die süß!, was gut ist, aber Süßes ist unwiderstehlich, und so packen sie schnell zu und halten die Beute am Schwanz fest, das ist schlecht. 

Wenn der Mensch, was fast immer der Fall ist, einigermaßen anständig ist und von Katzen keine Ahnung hat, tritt die Katze zerstreut um sich blickend durch die Haustür in die Diele, als suche sie jemanden, den sie verloren hat. Der anständige Mensch ist gerührt über so viel Verlorenheit und lässt, obwohl ihm das in dem Moment nicht klar ist, in einer Ecke seines Herzens die Hoffnung zu, er sei ganz persönlich derjenige, der hier gesucht und endlich gefunden wurde. Der unter allen Nachbarn Auserwählte, der in Zukunft dieses weiche braungraue Fell und diese rosa Nase beherbergen darf, obwohl er sich nie eine Katze gewünscht hat, aber Wünsche können sich ja ändern. Er sieht verdutzt und ratlos und schon ein wenig verliebt der Katze zu, die mit hoch gestelltem Schwanz seinen Schrank umrundet, seine Topfpflanze beschnuppert und probeweise an den Teppichfransen häkelt, und schließt, es ist ihm gar nicht bewusst, die Tür hinter sich und dieser Überraschung, die das Leben ausgerechnet auf seiner Treppe abgelegt hat. Die Katze registriert im Augenwinkel befriedigt die geschlossene Tür, gähnt ausgiebig und springt mit einem Satz auf das Sofa. 

Drei Stunden später kauft der Mensch im Supermarkt ein halbes Dutzend Dosen Huhn mit Gemüse in Gelee.

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Donnerstag, 19. Dezember 2024

Der Frühstücksmann

 


Ich lag auf dem Rücken. Das hatte Gründe. In meinem linken Arm steckte eine Kanüle, und meinen Kopf hatte ich in eine halbwegs sinnvolle Lage auf das Kissen gelegt, weil ich ihn in den nächsten Stunden oder Tagen nicht verschieben wollte. Jede Umlagerung versetzte das Zimmer um mich herum in ein Kreisen und Wirbeln; meine Augen fanden nirgendwo einen Halt, und mein Mageninhalt wollte nicht bei mir bleiben. Ich befand mich in diesem Bett auf hoher See, unsichtbare Wellen schlugen über mir zusammen; da draußen musste irgendwo ein Orkan toben, den nur ich bemerkte. Wenn man seekrank ist, muss man sich flach legen und die Augen schließen. Die Position, in der ich mich befestigt hatte, war leicht nach rechts geneigt. Abgewandt vom Nachbarbett, das leer war, hin zur Tür, die ich nicht sehen konnte, weil sie sich hinter dem Schrank befand. Draußen war Hochsommer, drinnen war es heiß. Zwei Monate später würde feststehen, dass dies der heißeste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen gewesen war. 

Meine Welt war auf kleines Format geschrumpft. Weißes Bettzeug, das Schnurren des Ventilators, im Augenwinkel ein Glas Wasser. In dieser Liliputwelt aber war meine Freude rasant gewachsen. Offenbar hatte sie sich vorher zwischen E-Mails, Laptop und Bücherbergen eingesperrt gefühlt. Das war wohl doch nicht so ganz ihre Welt, was mir erst jetzt auffiel. In der weißen Kargheit hatte sie Raum, sich zu entfalten. Die einzige Geste, zu der ich fähig gewesen wäre, war ein Wedeln der rechten Hand. Also nichts, was sie verscheucht hätte, und so ließ sie sich auf meiner Reglosigkeit nieder, freudig, wie das so ihre Art ist. Sie fand die Bläschen im Kanülenschlauch lustig und die plötzlich in mein Leben getretene Zwangsruhe erholsam. Sie vermisste nichts und verlangte nicht nach Abwechslung und Bespaßung.

Um acht Uhr kam der Frühstücksmann. 

Er öffnete die Tür, die ich nicht sah, und blieb lächelnd neben dem Schrank stehen, den Kopf leicht geneigt. Er war lautlos hereingeschwebt. Von draußen brach ein Lärmschwall in meine Stille, er zog die Tür schnell zu. Es gibt das professionelle Lächeln, das hier viele hatten, aber seins meinte mich: Es erreichte die Augen. Guten Morgen, sagte er, klappte den Flügeltisch über mein Bett und stellte das Tablett darauf. Behutsam. Mit ruhigen Bewegungen. Er hob die Glocke über zwei eingepackten Brotscheibchen, einem Stückchen Butter in Aluminium und einem Schälchen Marmelade. 

Überschaubar, sagte er. 

Aber es wird mir serviert, sagte ich.

Er hakte die Lieferung an mich auf seiner Karteikarte ab, studierte sie und sagte nebenbei: Sie bekommen heute eine Mitbewohnerin. Ich habe sie gerade unten gesehen. Eine junge Frau. Keine Dame.

Sie differenzieren, sagte ich.

Er lächelte. Er war, schätzte ich, Mitte, Ende fünfzig. Welches Schicksal oder welcher Entschluss hatte ihn zum Frühstücksmann im achten Stock der Universitätsklinik gemacht? Er sollte inmitten von Büchern leben, in einem Raum, der erfüllt war von klassischer Musik, vielleicht von Düften aus der Küche, die an ferne Länder denken ließen. Bevor er ging, blieb er neben dem Schrank stehen, sodass ich ihn sehen konnte, legte den Kopf auf die Seite und sagte lächelnd: Guten Appetit.

Gegen Mittag kam die Nicht-Dame. Sie riss die Tür auf, warf ihre Sachen auf das Bett und stellte den Ventilator auf die höchste Stufe. So eine Scheiße, knurrte sie. Ich könnte jetzt baden gehen, stattdessen haben die mich hier eingeliefert. Ich wäre auch lieber am See, sagte ich. Sie hörte mich gar nicht, sie hatte mich nicht einmal angesehen. Als ich zwei Tage später entlassen wurde, hatte sie immer noch kein Wort mit mir gewechselt.

Am nächsten Morgen um acht kam der Frühstücksmann.

Warum kommen Sie denn so spät? rief die Nicht-Dame. Ich muss los, ich habe eine CT. 

Sie drängte sich an ihm vorbei und warf die Tür hinter sich zu. Er stand noch immer neben dem Schrank, legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich an. Er machte sehr klar, dass er dieser Frau nicht die Macht einräumte, sein Begrüßungs-Ritual zu stören. Dann drehte er das Tischchen über mich, stellte behutsam das Tablett darauf und hob die Glocke. Zwei frische Brötchen, zwei Scheiben Emmentaler, Marmelade, Butter. Sie hatten vegetarisch bestellt, sagte er, deshalb habe ich Käse gewählt.

Wir sahen einander an. 

Ich erkenne meinesgleichen, wenn ich ihm begegne. Dem Menschen, der keinen Smalltalk braucht, um zu kommunizieren. Der weiß, dass die wahre Begegnung zwischen zwei Menschen in Gesten und Blicken besteht, und dass man darüber kein Wort verlieren sollte.

Er hakte die Frühstückslieferung auf der Karteikarte ab und sagte nebenbei: Wenn Menschen krank sind, zeigen sie, wer sie wirklich sind. Aber das wissen Sie natürlich.

Die sozialen Masken fallen, sagte ich, und die Wut bricht heraus.
 
Und die Sanftheit, sagte er lächelnd. Aber das wissen Sie natürlich.
 
Erst jetzt fiel mir seine fahle Gesichtsfarbe auf. Sein Pullover hing formlos an ihm herab; sein Body Mass Index war vermutlich so unterirdisch wie meiner. Er blieb neben dem Schrank stehen, neigte den Kopf und lächelte. Dass er nicht "bis morgen" gesagt hatte, fiel mir erst am nächsten Tag auf, an dem eine Küchenhilfe die Tür aufriss und mein Tablett auf den Tisch am Fenster knallte.
 
Seine Sanftheit ist immer noch da.
 
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Freitag, 13. Dezember 2024

Margrit & MARGRIT


Nach dem Krieg lebten meine Mutter, mein Stiefvater und ich in einem Zimmer in einer alten Villa. Im ganzen Haus hatten sich solche nach dem Krieg Gestrandeten und Ausgebombten wie wir zusammengefunden. Zimmer an Zimmer, keine Bäder, Gemeinschafts-Toiletten auf dem Flur. Da schloss man sich einander an, man hatte ja ähnliche Schicksale. Meine Mutter wählte die Frau, die einen Stock über uns mit ihrem kleinen Sohn lebte. Frau Wende illustrierte Kinderbücher, und ich bekam von ihr Schätze, die, wie ich heute weiß, Belegexemplare waren: Bücher von Johanna Spyri, Bilderbücher und "Wir lesen die Uhr", das mich entzückte, weil auf dem Cover drehbare Zeiger aus Plastik waren. Am meisten liebte ich meine Anziehpuppe aus Pappe mit ihren Mäntelchen und Schühchen. Frau Wende entwarf auch Puppen für die Firma Schildkröt, und weil sie mich niedlich fand (ich war mal niedlich), dachte sie sich eine Puppe für mich aus und nannte sie Margrit.

Als die Puppe kam, war ich bitter enttäuscht. Sie hatte lange schwarze Zöpfe, aber ich hatte kein schwarzes Haar, und für Zöpfe war es zu dünn. Ich beklagte mich bei meiner Mutter mit den Worten: Das bin nicht ich. (Als Kind schon Zen praktiziert und erkannt, dass ein Abbild nicht die Sache selbst ist!) Trotzdem war ich aufgeregt und stolz, als MARGRIT im Schaufenster des örtlichen Spielwaren-Ladens saß.

Heute weiß ich, dass Ilse Wende-Lungershausen eine bekannte Illustratorin war, die unter anderem 1933 ein nationalsozialistisches Propagandabuch ihres Ehemannes Bernhard Wende illustriert hatte, aber das vertiefen wir hier nicht. 

Die Puppen wurden mit einem Booklet beworben, und als ich neulich in einer Kiste stöberte, die ich jahrelang nicht geöffnet hatte, tauchte es auf. Die Prosa, die meiner Puppe und mir angedichtet wurde, will ich euch nicht vorenthalten, weil sie ein Ausdruck ist für die Erziehung, der wir Nachkriegskinder unterworfen waren. Ja, das hier war ernst gemeint.

"Mein liebes Kind, was wünschst du dir
zum Weihnachtsfeste denn von mir?"
fragt Großmama die Silvia,
und gleich ist auch die Antwort da:
"Ein Schildkröt-Püppchen wär für mich
die höchste Freude sicherlich,
weil schon das kleinste Püppchen man
nett kleiden und auch baden kann."
Großmama lächelt still und geht. -
Zum Christfest war dann ein Paket
mit einer großen Puppe da,
wie Silvia noch keine sah,
ein Bilderbuch dazu, drin stand
nur dieser Satz von Omas Hand:
"Die größte, schönste MARGRIT ist
dein Lohn, weil du bescheiden bist!

Drum, liebes Kind,
merk dir geschwind:
Zeig stets dich voll Bescheidenheit,
sie ist des Kindes Ehrenkleid!"

Mit Ergriffenheit sehe ich, dass ich mit vier Jahren die größte und schönste Margrit war. Das war das erste und dann auch das letzte Mal in meinem Leben.

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Samstag, 3. August 2024

Eine Bahn-Geschichte


... und draußen fliegt die Landschaft vorbei


Nein, nicht die übliche Geschichte über blockierte Türen, Böschenbrand, in der Hitze verbogene Weichen und zwei Stunden Verspätung. Sondern eine darüber, wie man innerhalb von zehn Minuten Freude und Schmerz bereiten kann.

Fahrt nach Hohenau zu meinem Retreat im Intersein Zentrum. In Bayern und Baden-Württemberg beginnen die Ferien, halb Deutschland reist mit großen Koffern. Ich musste kurzfristig buchen und konnte einen der letzten Sitzplätze reservieren. Neben mir sitzt ein junger Business Man. Anzug, Apple Notebook, Smartphone, viel Papier. Zu viel Papier für einen Fensterplatz im ICE, also klemmt er einen Teil davon zwischen das hochgeklappte Tablett und den Vordersitz. Tippen, aufgeregtes Telefonieren, Tabellen ausfüllen, erneut tippen. Der arme Kerl, denke ich. So jung und schon ein Kandidat für späteren Herzinfarkt. Der Zug rollt in einen Bahnhof ein, und ihm fällt in letzter Sekunde ein, dass er aussteigen will. Er rafft sein Zeug zusammen und stürzt hinaus. Zwischen Tablett und Vordersitz klemmen die Tabellen. Ich stürze ihm hinterher und wedele mit den Papieren aus der Zugtür. Er ruft: "Oh nein, danke, danke, die sind wichtig!"

Ich sinke zurück in meinen Sitz und fühle mich ausgesprochen gut. Eine aufmerksame, hilfsbereite Frau bin ich, die für andere mitdenkt und sie nicht im Stich lässt. Ja, so sehe ich mich gern. Und dann, obwohl es da keinerlei Zusammenhang gibt, habe ich den Wunsch, die Toilette aufzusuchen.

Der Schalter steht auf Grün, aber die Tür geht nur einen Spaltbreit auf und wird sofort wieder zugeworfen. Allerdings nicht abgeschlossen. Ich probiere es noch einmal. Tür auf, zugeworfen. Zufällig - ich möchte hier ausdrücklich an Zufall glauben, obwohl ich sonst gerne erkläre, dass alles mit allem zusammenhängt und man deshalb von Zufall nicht sprechen kann -, also zufällig steht die junge Zugbegleiterin neben mir im Gang und telefoniert. Meine Ratlosigkeit angesichts der offenen und dennoch besetzten Toilette erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie beendet ihr Telefonat und drückt die Klinke. Die Tür geht kurz auf und wird sofort wieder zugeworfen. Aber jetzt haben wir beide einen Blick erhascht auf einen jungen schwarzen Mann, und die Zugbegleiterin wird auf der Stelle von einer Energie erfasst, die mir zeigt: Diese Situation kennt sie, die hat sie schon Dutzende Male erlebt. Sie klopft mit ihrem Handy an die Tür und ruft: "Kollege, sofort rauskommen, rauskommen habe ich gesagt!"

Er schleicht in den Gang. Siebzehn, achtzehn Jahre alt. In der Hand ein Stoffbündel. Abgerissene Hosen, schmutziges T-Shirt. "Ticket, Kollege!" ruft die Zugbegleiterin und hält ihn am Shirt fest. Langsam dreht er sich um und schaut mich an. Nicht sie. Mich. Ich habe einmal in einem Zoo eine Antilope gesehen, der die Trauer über die verlorene Savanne in den Augen stand. Sie schaute mit der Sanftheit, die man, denke ich, ganz am Ende hat, wenn man weiß, dass es nicht mehr gut werden wird und dass die Träume ausgeträumt sind. 

So schaut er mich an, der junge Schwarze.

Er sagt kein Wort. Kein einziges, die ganze Zeit über. Von meinem Sitz aus sehe ich die Zugbegleiterin erneut telefonieren. Der Zug läuft im Hauptbahnhof Darmstadt ein, sie weist auf die offene Tür, und er steigt aus. Steht mit seinem Bündel auf Gleis 2 in einer Stadt, die er noch nie betreten hat und in die er mit Sicherheit nicht wollte. Steht dort unbeweglich immer noch, als der Zug an ihm vorbei den Bahnhof verlässt. 

Sicher wäre doch irgendwann jemand anderes auf die Toilette gegangen, sage ich mir. Reiner Zufall, dass ich es war. Nur wäre dann vielleicht die Zugbegleiterin nicht in der Nähe gewesen. Und er hätte es geschafft. Unentdeckt dort hinzukommen, wo er hinwollte. Aber wollte er überhaupt irgendwo hin, außer in eine Art Sicherheit, die er in einem bürokratisch organisierten Land nicht finden wird?

Ich kann den Blick nicht vergessen. 

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Samstag, 1. Juni 2024

Werkbegegnung: Zur Sprache bringen



 "Werkbegegnung Pusteblume". 😊 Links: A.B., Zeichnung. Rechts: M.I., Fotografie.

 

Wenn Du zufällig in der Nähe von Schwäbisch Gmünd/Aalen lebst, sei herzlich eingeladen zu einem besonderen Event: einer Werkbegegnung von Kunst und Literatur mit meinem Künstler-Freund Alfred Bast und mir. 

 

"Zur Sprache bringen" - Dichtung, Kunst und Bilder
Lesung und Gespräch

16. Juni 2024, 14.30 Uhr
Kunstraum Hohenstadt


Abtsgmünder Straße 5
73453 Abtsgmünd-Hohenstadt

 

Was Dich erwartet? Wir wissen es selbst noch nicht. Alfred und ich sind neugierig und folgen weder in unserer Arbeit noch in unserem Leben festen Vorstellungen, Erwartungen oder Überzeugungen. Wir sind mehr daran interessiert, mit offenen Sinnen wahrzunehmen, was um uns herum geschieht. Uns von der sich unablässig verändernden Natur und den Begegnungen mit Menschen inspirieren und berühren zu lassen. Und das Empfangene setzen wir dann um - in Bilder, in Skulpturen, in Sprache, in Sprach-Bilder.

Es wird also um Wahrnehmung gehen, um Farben und Formen und Rhythmus und Klang, um Sehen und Lauschen, um Begegnung und Austausch. Wie Alfred sagt: "Kommunikation ist das Herz der Kunst".

Alfred und ich haben schon etliche Projekte miteinander realisiert. Sein Werk finde ich sehr inspirierend. Schau mal hier auf seine Website (klick).

Ich würde mich freuen, Dich in Hohenstadt zu sehen.

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Samstag, 25. November 2023

Catwalk

 

Sie steht an der Bordsteinkante, die rechte Vorderpfote erhoben, zögernd. Auf der anderen Straßenseite liegt ihr Zuhause oder der geheime Mäusefundplatz, jedenfalls will sie dort hin. Behutsam macht sie einen Schritt auf die Straße und weicht sofort zurück. Der Verkehrsstrom auf der Hauptstraße in meinem Vorort strömt ununterbrochen, da findet auch eine Katze keine Lücke. Klugerweise hat sie sich am Zebrastreifen vor der Bushaltestelle postiert, wo ein Fußgänger halbwegs sicher sein kann, nicht sofort über den Haufen gefahren zu werden. Ich bleibe stehen.

Katze scheint zu überlegen, ob sie sich unter die Kategorie Fußgänger einordnen darf. Ich will sie nicht zu einem Ja ermuntern, das dürfte übel ausgehen. Kein Autofahrer guckt nach unten, auch Menschen werden hier elegant umfahren, vornerum und hintenrum, vor allem Mopeds und Radler sind da sehr routiniert. Von links donnert ein Lkw heran, von rechts der abendliche Strom der Pendler aus der Stadt. Katze, sage ich, das wuppen wir gemeinsam.

Ich trete ruhig und langsam auf den Zebrastreifen, Katze eng an meinem linken Bein, und strecke dem heranrasenden Audi gebieterisch den Arm entgegen: Junge, hier geht eine kleine Katze, die du ohne meine Begleitung, da gehe ich jede Wette ein, glatt übersehen hättest. Stell dir vor, was das für Scherereien gegeben hätte, totes Tier, muss man beiseiteschaffen, lästige Zeitverschwendung, zu Hause wartet die Frau mit dem Abendessen, du darfst mir dankbar sein. Hinter der Scheibe tippt sich der Audifahrer an die Stirn. Katze springt mit einem Satz auf den Gehsteig und ich bin sicher, ich höre sie aufatmen.

Vor der Bushaltestelle gegenüber applaudiert eine alte Frau.


Mittwoch, 29. März 2023

Straßen im Frühling

 

Vor dem Szene-Café sitzen sie auf dem Boden in der Sonne, die Rücken an der Hauswand, aufgereiht wie Tauben auf dem Dach. Mit nickenden pickenden Köpfen hacken sie in ihre Laptops. Zwischen sich Teller und Becher mit Proviant aus dem Café, das Gesundes, Veganes, Frisches anbietet. Studentenleben 2023.

Sie haben sich aus der Winterwolle geschält und zeigen Farbe. Eine junge Frau mit Haaren wie eine Feuersbrunst, baumelnde orientalische Ohrringe. Ein junger Mann im bodenlangen schwarzen Ledermantel, eine rote Lederkappe auf dem Kopf. An der Hauswand sitzen ein langer violetter Tüllrock, ein Poncho, eine Haremshose. Ich muss öfter durch diese Straße gehen, hier verkehren die Individualisten. Nur wenige Schritte weiter, vor der Uni-Bibliothek, wieder das einheitliche Grau-Blau der Jeans-Fraktion.

An der Haltestelle der Straßenbahn steht ein junger Mann und umklammert einen Topf mit Katzengras, den er auf einer dieser Schaumstoff-Verpackungen abgestellt hat, in denen man Fast Food transportiert. Ich glaube, er liebt seine Katze mehr als sich selbst. Aber vielleicht kann die Frittierbox mit Ketchup und Mayo auch ein Ausdruck von Selbstliebe sein. 

(So wie die herrlichen Mandeln mit Vollmilch-Schokolade oder Himbeer- und Limonen-Überzug, die es in diesem kleinen Laden gibt, den ich jetzt, gerade jetzt, betrete.)

Der Obdachlose, der sonst immer seinen Recorder laut aufgedreht hat und die Passanten bevorzugt mit der Oper Carmen beschallt, ist offenbar zum Mittagessen gegangen. Statt seiner Person hat er neben dem einladend geöffneten Hut in einem Bilderrahmen ein Foto von sich hingesetzt. Ich verstehe das Geschäftskonzept: Du musst deine Kunden bei der Stange halten, sonst lassen sie ihr Geld bei der Konkurrenz.

Gedanken über Menschen in den Straßen im Frühling, die ich sehe, aber deshalb noch lange nicht kenne ...


Freitag, 25. November 2022

Unser konditionierter Geist

 

 Mann zu seiner Frau, vor der grünspanbeflockten und muffigen Mauer stehend: "Die Kerle mit den Spraydosen müssen einfach alles beschmutzen."


Nachdem die non-binäre Person Kim de l´Horizon den Deutschen Buchpreis erhalten hatte und auf Grund von Mord-Drohungen unter Personenschutz gestellt werden musste, veröffentlichte er/sie/es in der NZZ einen klugen Artikel, den man hier (klick) nachlesen kann. Kim de l`Horizon erzählt, wie er (ich erlaube mir, beim Maskulinum zu bleiben) auf einem U-Bahnsteig in Berlin von einem Mann zusammengeschlagen wurde mit den Worten "Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken, aber du bist mir einfach zuviel", und fragt: "Was habe ich euch getan? Was, ihr um euch schlagenden Männer, seht ihr in mir, das euch dermaßen bedroht?"

Was wir sehen, wenn wir uns von einem Anblick bedroht fühlen, ist unsere eigene Konditionierung. Wir sehen oder hören etwas, das so noch nie dagewesen ist. Unsere Sinne sind aufgewühlt und wissen nicht, wie sie das Gesehene oder Gehörte einordnen sollen. Wir finden keine uns beruhigende Antwort darauf; die Antworten, die wir schon immer hatten, passen nicht zu der neuen Situation. Weil es uns buchstäblich die Sprache verschlagen hat (die entsprechende Sprache entsteht erst, wenn das Neue Gewohnheit geworden ist), schlagen wir zu. Mit Worten oder Fäusten.

In den 1960er Jahren wurden die Beatles berühmt, von deren Musik ich begeistert war. Meine Eltern hassten die "Pilzköpfe" auf den ersten Blick. Mein Stiefvater brüllte, dass diese Affen hinter Gitter gesperrt werden müssten, so behaart wie die seien, und drehte, um "Eleanor Rigby" zu übertönen, die Egerländer Musikanten auf. Heute sehe ich auf Fotos vier liebenswerte, nette Jungs, die inzwischen vermutlich jede Mutter gern zu Schwiegersöhnen hätte (also, verglichen mit Kim de l'Horizon, nehme ich an). Hier ist dasselbe geschehen wie in dem Mann, der auf dem Berliner U-Bahnsteig ausrief, dass er "normale Schwuchteln mittlerweile schlucken" könne: Aus dem verstörend Ungewohnten ist mit der Zeit so etwas wie Gewohnheit geworden. Der Geist ist in einem mühsamen Prozess und keineswegs freiwillig vom Leben umprogrammiert worden, sodass der Mensch sich nicht mehr bedroht fühlen muss.

Wir neigen alle dazu, unser Mögen oder Nichtmögen als Maßstab für unsere Antworten zu nehmen. Die ernüchternde Wahrheit ist: Für den großen Zusammenhang ist es völlig egal, ob etwas uns gefällt oder nicht. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, wählen wir für uns persönlich natürlich das, was wir mögen. Ich zum Beispiel esse lieber ein Gemüse-Curry als einen Schweinebraten. Also koche ich mir Gemüse-Curry. Aber auch unser Mögen und Nicht-Mögen sind nur Konditionierungen, die vom Leben allmählich und unausweichlich umprogrammiert werden. 

 


 Wohin des Wegs? Hängt ganz von Deinem Geist ab.


Im Magazin Ursache\Wirkung Nr. 119 mit dem Thema "Zukunft gestalten" schrieb ich über eine kleine alltägliche Begebenheit: "Kürzlich stand ich vor einem Schaufenster, neben mir ein älteres Paar, das sich über die Preise für die ausgestellte Mode erregte - in sächsischem Tonfall. In mir kochte Widerwillen hoch. Sächsisch! Ich wusste sofort, was diese Emotion ausgelöst hatte: Meine Eltern hatten aus einem mir unbekannten Grund eine Abneigung gegen Menschen aus Sachsen, die sie bei jeder Gelegenheit äußerten. In jenem Moment vor dem Schaufenster schlug also ein Erbe aus der Kindheit zu, aber ich erkannte die Ursache und konnte ruhig innerlich konstatieren: Ah, Sachsen. Ich hatte die Emotion im Augenblick ihres Entstehens abgefangen, bevor sie sich in meinem Geist zu einer kompletten Geschichte mit Meinungen, Urteilen und am Ende gar daraus folgenden Handlungen entwickeln konnte."

Wir dürfen uns keine Illusionen darüber machen, wie sehr wir alle konditioniert sind. Die Gegenwart enthält die Vergangenheit, und wenn wir das nicht hellwach beobachten, schleppen wir die Vergangenheit weiter in die Zukunft, die dann nicht neu sein wird, sondern eine Variante des immer Gleichen. Deshalb: Wachsam bleiben. Den Geist hüten. 

Die Filmemacherin und Autorin Mo Asumang, deren respektvolle Art, Fragen zu stellen, ich sehr schätze, hat für 3Sat einen guten Film über Homophobie und Queerness-Feindlichkeit gedreht. Hier (klick) kann man ihn sehen.

 

Mittwoch, 26. Oktober 2022

Die Besucherin


 

Sie kam zu mir in einem Salatkopf. Eingehüllt in Schichten von Blättern, lag sie zusammengerollt ganz unten am Strunk. Eine schöne Art zu reisen, dachte ich, vor allem in dieser Jahreszeit. Welche Geborgenheit. Welche Dunkelheit und Stille in der Tiefe des Salatkopfes, die leichte Feuchtigkeit, die nicht Nässe ist, sondern nährendes Element. Keine meiner Reisen fand bisher auch nur annähernd in etwas statt, das ich mein Element hätte nennen können.

Mein  Messer hatte sie knapp verfehlt, auch sie atmete sichtbar auf. Das sah hübsch aus. Sie fuhr zwei Antennchen mit Knöpfchen an den Enden aus, um mal zu sondieren, in welcher Umgebung sie da gelandet war. Alles sehr hell auf einmal, trockene Atmosphäre, viel Holz und Metalliges, also ihr Element war das nicht. Das schien sie nicht zu stören, sie wurde neugierig. Entfaltete sich zu ganzer Kürze und schob sich sanft und beharrlich über die Landschaft aus Küchengerät, erklomm Löffel und Dosen und balancierte auf der Messerklinge. Was so ziellos aussah, war tatsächlich entschlossene Absicht. Das begriff ich erst, als sie sich auf dem Champignon niederließ. 

Reisen macht hungrig, ich kenne das. Kaum setzt sich der Zug in Bewegung, packe ich meinen Proviant aus, obwohl ich gerade gefrühstückt habe. Sie knusperte und raspelte an meinem Mittagessen mit einer Schnelligkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte. Ich hatte sie nicht direkt eingeladen, mein Mahl mit mir zu teilen, aber ich freute mich über die Gelegenheit, Gastfreundschaft zu zeigen.

Nachdem sie gegessen hatte, wickelte ich sie in ein Salatblatt und brachte sie in Nachbars Garten. Wir sollten das, was uns Freude macht, nicht für uns behalten, sondern mit anderen teilen.