Dienstag, 30. April 2019

Die Tempelkatze. Zum 'Tag der Arbeit'.


Ein Mann hatte einst eine Maus im Haus. Die Maus zerlegte systematisch das halbe Haus, nagte Kissen und Pantoffeln an, fraß die Vorräte in der Speisekammer. Der Mann stellte eine Falle auf, legte Käse hinein, aber die Maus war klug und mied die Falle. Der Mann kaufte eine Lebendfalle. Die Maus machte einen großen Bogen um das Ding. Der Mann streute Gift. Die Maus ließ es unberührt. 

Ein Freund lieh dem Mann seine Katze aus. Die Katze erblickte die Maus, die gerade blitzschnell in einem Loch verschwand, und raste los. Sie wirbelte durch das Haus, kratzte an den Möbeln herum, bis sich Splitter lösten, schlug ihre Krallen in die Kissen, dass die Federn flogen, und warf in der Speisekammer die Vorratsgläser vom Bord. Der Mann sagte verärgert zu seinem Freund: "Diese Katze macht mir mehr Ärger als die Maus", und gab die Katze zurück.

Da empfahl ihm ein anderer Freund, die Katze aus dem nahe gelegenen Zen-Tempel zu holen. Der Mann glaubte nicht an die Tempelkatze, aber einen letzten Versuch wollte er noch wagen. Ein Mönch brachte die Katze. Es war ein riesiges Tier, ziemlich dick, das sich gleich auf einem Kissen niederließ. Dort blieb die Katze mehr oder weniger in den nächsten Tagen liegen. Döste vor sich hin, aß ein wenig, döste weiter. Der Mann beschloss, die nutzlose Katze so schnell wie möglich loszuwerden. 

Die Maus hatte währenddessen bemerkt, dass von dieser Katze keine Gefahr ausging. Sie begann frech und vergnügt, wieder herumzustöbern und tanzte der Katze vor der Nase herum. Die blinzelte gelangweilt und döste weiter vor ihrem Napf mit Huhn in Gelee. Die Maus schlich sich heran. Huhn mit Gelee, das war doch besser als Pantoffeln und Federkissen. Verwegen tauchte die Maus ihre Schnauze in den Napf. Da sauste blitzschnell die Pranke der Katze herab. Ein Hieb genügte. 

Die Katze gähnte und schlief wieder ein.

(Ich wünsche Euch allen einen entspannten 'Tag der Arbeit'. Und einen stets klaren Blick, der erkennt, wann es an der Zeit ist, eine Maus zu töten. Eine reale oder eine symbolische.)

Sonntag, 21. April 2019

Japan #3: die Aufmerksamkeit


Ich stehe in einer öffentlichen Toilette in Tokio, habe mir die Hände gewaschen und finde weder ein Handtuch noch einen Lufttrockner. Noch weiß ich, die Touristin, nicht, dass die kleinen Handtücher, die überall verkauft werden, genau dieser Situation dienen. Neben mir eine Japanerin, die meine hilflosen Blicke bemerkt, in ihre Tasche greift und mir lächelnd und mit einer Verbeugung ihr blütenreines gefaltetes kleines Handtuch reicht.

Eine Frau aus meiner Gruppe vergaß ihren Schirm im Taxi. Als wir Stunden später zum Mittagessen in unserem Restaurant eintrafen, wurde ihr der Schirm überreicht. Eine Bekannte von mir verlor vor ein paar Jahren auf ihrer Rundreise die Handtasche. Als sie auf der Polzeistation gerade dabei war, den Schaden zu melden, kam ein Japaner zur Tür herein mit ihrer Handtasche. Nicht ein Yen fehlte.

Ich bin in Japan einer einzigartigen Kultur der Aufmerksamkeit und Fürsorge begegnet, die ich in keinem anderen Land der Welt erlebt habe.


Traditionelles Dinner in der Tempelherberge Fukishi-in

Im Shinkansen verbeugt sich die Schaffnerin, bevor sie ein Abteil betritt. Wenn sie es verlässt, dreht sie sich um und verbeugt sich erneut. Die Taxifahrer tragen weiße Handschuhe und haben ihre Sitze mit weißen Spitzenbezügen bespannt. Die Speisen werden so ästhetisch angerichtet, dass man sie kaum anrühren mag. Für den Hotelgast liegt der Yukata mit den Pantoffeln bereit, der Wasserkocher mit Teebeuteln und Kaffee. Die Toilettensitze sind beheizt (ich gebe zu: die japanischen Toiletten vermisse ich). Es ist die Genauigkeit und Schönheit im Allerkleinsten, die mich immer wieder begeistert. Und geradezu glücklich machen mich die Menschen, die leise, höflich und liebenswürdig sind. Man nimmt wahr, was gebraucht wird, und bezieht den anderen in seine Wahrnehmung mit ein. 

Bevor ich fuhr, las ich ein Buch über das zeitgenössische Japan. Der Verfasser machte sich gleich auf den ersten Seiten über westliche Menschen lustig, die nach Japan fahren, um das Zen zu suchen, denn das Zen spiele keinerlei Rolle im japanischen Alltag. Ich sehe das anders. Das formale Zen mit seiner stundenlangen Meditation im Zendo mag für die meisten Japaner unwichtig sein. Sie brauchen es auch nicht, denn der Zen-Geist ist überall im Land lebendig. 

Die klare Wahrnehmung, das Handeln aus der Erfordernissen des Augenblicks heraus. Die Wertschätzung alles Lebendigen und Schönen. Die Präzision und Genauigkeit. All dies belegen wir in westlichen Ländern mit dem Begriff "Zen" und bemühen uns darum, machen eine "Praxis" daraus und stellen fest, wie schwer es doch ist, unsere sozialen und emotionalen Prägungen zu transformieren.


Ich weiß um die Probleme des Landes. Die stets präsente Erdbebengefahr, die dazu führt, dass jedes Haus alle 30 Jahre abgerissen wird, um nach den neuesten Erdbeben-Standards wieder aufgebaut zu werden. Die Überalterung, der gnadenlose Konkurrenzdruck. Der Zwang, weit ins Pensionsalter hinein zu arbeiten, um die karge Pension aufzubessern (unsere Taxifahrer waren fast ausnahmslos alte weißhaarige Herren). Ich weiß, dass ich mir meine Pakete in einem präzisen Zeitfenster bis 22 Uhr liefern lassen kann, und dass der Paketbote dafür nur den Mindestlohn von 800 Yen erhält, was etwa 6 EUR entspricht. Ich habe gesehen, wie die makellos sauberen Hotelzimmer geputzt werden: Von fünf Mitarbeitern gleichzeitig, die in Windeseile auf dem Boden herumrutschen, jede Ecke polieren und vermutlich sehr dankbar sind, diesen Job überhaupt zu haben. Und ich weiß, was es mit den Gesichtsmasken auf sich hat: Ein japanischer Arbeitnehmer kann es sich nicht leisten, banale Krankheiten wie eine Erkältung zu bekommen, denn jeder Fehltag wegen leichter Krankheit wird ihm vom ohnehin nur 10 Tage dauernden Urlaub abgezogen.

Ich weiß das alles und liebe dieses Land dennoch.

Mein Herz ist nach Hause gekommen.

Ich hoffe, es hat Euch Freude gemacht, mir mir ein wenig durch Japan zu reisen.

Donnerstag, 18. April 2019

Japan #2: die Religion


 Bettelmönch in Ginza, Tokyo

Der Shintoismus - im Westen wird er als "Naturreligion" bezeichnet - ist allgegenwärtig in Japan. Ein roter Schrein an besonders schöner landschaftlicher Stelle ist fast immer ein Shinto-Schrein. An den Shinto-Schreinen geht es lebhaft zu. Viele Jugendliche tummeln sich dort, ziehen sich gegen eine Spende ein Orakel und lesen einander aufgeregt kichernd die Antwort vor. Verheißt das Orakel Positives, wird es mitgenommen. Ist man nicht einverstanden mit der Verheißung, hängt man den Zettel an den dafür vorgesehenen Ständer und übergibt das Orakel den Göttern. Diese sind zahlreich, freundlich und ausgesprochen lebensbejahend. Keine Lehre, die den Gläubigen zu etwas verpflichtet, keine strengen Rituale - kein Wunder, dass fast jeder Japaner ein unbeschwertes Verhältnis zum Shintoismus hat.



Es heißt, dass für Geburt und Heirat der Shintoismus zuständig ist, für den Tod der Buddhismus. Und da ich die strenge Zen-Ästhetik mit ihren Schwarz- und Naturtönen lieber mag als Rot und Gold, freute ich mich auf den heiligen Berg Koya-san, der über 100 buddhistische Tempel beherbergt und Okunoin, den größten Friedhof Japans.



Was für ein mystischer Ort. Unter uralten Zedern verwittern Grabsteine, mit Moos bepolstert. In absoluter Stille wandelt die Pilgerin (also ich) zum Heiligtum, dem Mausoleum von Daio Kokushi. Der Begründer des Shingon-Buddhismus soll dort seit 1184 Jahren in ewiger Meditation verweilen. In der atemberaubend schönen Laternenhalle brennen 10.000 Laternen Tag und Nacht und auf Ewigkeit. (Fotografieren leider, aber verständlicherweise verboten.) Und immer wieder leuchten im Waldesdunkel die roten Mützchen und Lätzchen der Jizo-Figuren auf. Jizo (im Zen bekannt als der Bodhisattva Kshitigarbha) gilt als Schutzgott der gestorbenen Kinder (ganz nebenbei auch: der Reisenden). Nach der japanischen Mythologie leben die Seelen gestorbener Kinder in einer Zwischenwelt. Jizo soll sie über den mythologischen Fluss geleiten, und damit Jizo ihr Kind auch findet, binden japanische Eltern den Figuren persönliche Lätzchen der Kinder um.



Was aber ist Shingon-Buddhismus? Da musste ich Wikipedia bemühen. Daio Kokushi, erfuhr ich, lehrte die Möglichkeit der Erleuchtung für jeden in diesem Leben, im Gegensatz zur damals herrschenden Auffassung, nach der man Äonen praktizieren musste. Das klingt zwar sehr nach Zen, ist es aber nicht. Die Erleuchtung im Shingon nämlich kann nur erlangt werden nach einer vorherigen Einweihung in geheime Lehren, die in einem Ritual vollzogen wird. Shingon ist, im Gegensatz zum Zen, eine Religion.



In unserer Tempelherberge bekamen wir ein köstliches veganes Abendessen serviert, und morgens um sechs nahm ich am Ritualgebet der Mönche teil. Die Gästezimmer ganz traditionell mit dem Futon auf Tatami-Matten, dem Yukata (Hausmantel) für den Onsen (das Badebecken mit sehr heißem Wasser) - und einem Fernseher. Nun ja,  auf dem Berg ist abends nichts los, das WLAN höchst unzuverlässig, man will sich seine kostbaren zahlenden Gäste nicht vergraulen ...

Wo aber versteckt sich eigentlich das Zen?


Ich habe acht Jahre im japanischen Zen praktiziert. Eine sehr wichtige Zeit für mich, für die ich immer dankbar sein werde. Ich habe aber auch erlebt, dass dem Titel Roshi, der einst eine hohe Stufe der Verwirklichung bezeichnete, die in langer mühsamer Praxis erworben und bestätigt werden musste, nicht immer zu trauen ist. In japanischen Tempeln wird der Titel Roshi zumeist vererbt vom Vater auf den Sohn, und die "Einführung in Zen" für Touristengruppen ist eine einträgliche Geldquelle (eine Stunde mit anschließender Tasse Tee für 5000 Yen pro Person, hörte ich - Irrtum vorbehalten, aber unwahrscheinlich). Ganz sicher gibt es noch Tempel, in denen ernsthaft Zen praktiziert wird. Ich habe sie nicht gesucht. Auch aus erwähnten Gründen habe ich mich einst entschlossen, mich Thich Nhat Hanh anzuschließen, diesem tief aufrichtigen Mönch und Meister.

Aber all dies ist im Grunde völlig unwichtig. Denn im Zen geht es um etwas anderes, und dieses Andere ist in Japan lebendig. Ein wenig mehr dazu im dritten und letzten Teil meiner Japan-Serie.


Dienstag, 16. April 2019

Japan #1: die Natur


In dem Film "Hanami" von Doris Dörrie sehnt sich Rudis Frau Trudi lebenslang danach, einmal den Fuji zu sehen. Als sie überraschend gestorben ist, fährt Rudi nach Japan, um stellvertretend für Trudi den Fuji anzuschauen. Aber Fuji-san, der Eigenwillige, verbirgt sich viele Tage im Nebel.

Ich habe mich fünfzig Jahre danach gesehnt, das Japan des Zen zu sehen. Als ich ankam, zeigte sich Fuji-san in ganzer Schönheit.


Ein sanfter Frühlingsregen in den Gärten des Heian-Schreins in Kyoto. Kleine Wege eröffnen immer neue Ausblicke, Teiche spiegeln den Himmel, Kirschblütenzweige neigen sich zum Boden, beladen mit winzigen rosafarbenen Blüten. Jede Blüte ein kunstvoll gefaltetes Origami. Leise Klänge zwischen den Bäumen: der "Frühling" aus den "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi. Die Kirschblüten sind überall das Ziel einer Pilgerreise. Ich sah Japaner in Kyoto auf Decken unter Bäumen sitzen und mit glücklichem Lächeln Reiskuchen verspeisen, während der Regen über ihre großen durchsichtigen Plastikschirme perlte. Jetzt habe ich auch den Sinn dieser allgegenwärtigen Schirme verstanden: Sie erlauben den Blick auf die Natur.


Garten im Tempel Taizo-in

Ach, die Zengärten. Ich hätte stundenlang sitzen und sie betrachten können. Der Geist beginnt zu fließen mit dem in Wellenbewegung gerechten Kies, er gleitet an Steinen vorbei, die groß erscheinen wie Felsen, umrundet sanft geschwungene Inseln aus Moos. Der Blick kann sich nirgendwo festhalten, kann sich nicht niederlassen zu irgendeiner Endgültigkeit, denn der Garten ist ein Abbild der Lehre Buddhas: Alles fließt, alles verändert sich unablässig. Glaube nicht an etwas Festes, Immerwährendes. Halte dich selbst nicht fest - auch du veränderst dich in jedem Augenblick. Irgendwo im Tempel erklingt eine tiefe Glocke, eine von den riesigen, die mit einem baumstammartigen Schlegel angestoßen werden, wozu man, wie ich aus Plum Village weiß, zwei Mönche braucht. Kräftige Mönche.


Daibutsu, Kamakura

Natürlich stellt man jedem Buddha jeden Tag frische Blumen vor die Füße, aber die Buddhas sitzen ja ohnehin immer in schönster Landschaft, umkränzt von Kirschblüten, im Herbst von flammenden Blättern. Der Japaner liebt die Natur und behandelt sie mit Zartheit. Und wenn er - was vermutlich für 99 % aller Japaner zutrifft - nicht in einem Tempel lebt, sondern so beengt, wie ein Japaner nun mal wohnen muss, dann hängt er sich eben ein paar Töpfchen vor die Tür.


Ich werde Euch mit zwei weiteren Beiträgen über Japan langweilen. Der nächste befasst sich mit Zen und Religion. Stay tuned!

Sonntag, 14. April 2019

Herzens-Heimat



Ryoan-ji im Frühlingsregen.

Mein Herz ist nach Hause gekommen.

(Bald mehr ...)