Samstag, 27. Juli 2019

Begegnungen mit Hilde Domin. Zum 110. Geburtstag


Ich war Ende zwanzig, liebte die Gedichte von Hilde Domin, und weil ich damals noch das grenzenlose Vertrauen hatte, dass Autoren mit ihren Texten identisch sind, schickte ich ein paar meiner Gedichte an Hilde Domin. Eine Autorin, die von ihren eigenen Schmerzen und Zweifeln erzählte, schien mir vertrauenswürdig zu sein. Sie antwortete postwendend und lud mich zu sich nach Heidelberg ein. Ihre "Turmwohnung" am Grainbergweg ist legendär und wurde von ihr selbst und vielen Autoren, die sie dort besuchten, beschrieben. Ich dachte: Ein Nest für die verfolgte Jüdin, die Jahre im ungeliebten Exil in der Dominikanischen Republik verbringen musste. Ein Refugium für eine traumatisierte Seele.

Wir saßen auf unbequemen Gartenstühlen - ein bewusst hergestellter Hauch von Bohème in der von ihr geschaffenen Umgebung -, es gab ausgezeichneten Tee und wunderbare Petits Fours, und wir sprachen über Gedichte und das Schreiben im Allgemeinen. Plötzlich sprang sie auf, riss eine Tür auf und rief ihren Mann: "Walter, du musst unbedingt Margrit Irgang kennenlernen!" Erwin Walter Palm erschien im Bademantel, er war wohl gerade vom Mittagsschlaf erwacht. Es war mir peinlich, so viel Wirbel hervorgerufen zu haben. Später lernte ich, dass dies einfach die Art von Hilde Domin war: Spontan und unvorhersehbar sprang sie auf und folgte einer Eingebung, wie ein Vogel, der blitzschnell verschwindet und wieder auftaucht.

Sie mochte meine Gedichte und sagte schlicht: "Sie haben alles Wissen und Können, das eine Dichterin braucht. Ich kann nichts für Sie tun. Schreiben Sie! Und hören Sie nie wieder auf." Ich war enttäuscht, ich hatte mehr erwartet. Endloses Feilen an einem Wort, notfalls Kritik ("Ein Dichter würde das so nicht sagen"). In meinem Buch "Wunderbare Unvollkommenheit" habe ich fünfundzwanzig Jahre später diese Worte von Hilde Domin als die einer Zen-Meisterin beschrieben. Denn wir haben bereits alles, was wir brauchen, für das Schreiben wie für das Leben, und ein Lehrer kann höchstens unser Vertrauen in uns selbst stärken. Das hat Hilde Domin für die Schriftstellerin in mir getan.

Sie schenkte mir ihren Gedichtband "Die Rückkehr der Schiffe". Ich kann nicht sagen, dass wir in Kontakt blieben, dafür waren wir zu unterschiedlich, wesensmäßig und altersmäßig. Aber als ich im Jahr 1988 in der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom eintraf für meinen einjährigen Aufenthalt als Literatur-Stipendiatin, empfing mich die damalige Leiterin Elisabeth Wolken mit den Worten: "Sie sind uns schon als bezaubernde Person angekündigt worden von Hilde Domin." Sie hatte meine Arbeit, wie ich später erfuhr, im Auge behalten und im Hintergrund immer wieder etwas für mich getan. Inzwischen erschienen unsere Bücher im selben Verlag, dem Piper Verlag. Darüber ergab sich wieder Kontakt.

Mit Hilde Domin starb eine große Dichterin. Ich liebe die Einfachheit ihrer Gedichte, das Fehlen jeglichen Pathos und das stille Leuchten, das immer wieder durch den Schmerz hindurchscheint. Manchmal blättere ich durch die Bände, die ich vollzählig besitze, und fühle mich ihrer Heimatlosigkeit verwandt und ihrer Sehnsucht, zu bauen "... ein Haus / neben einem Apfelbaum / oder einem Ölbaum / an dem der Wind / vorbeigeht / wie ein Jäger, dessen Jagd / uns / nicht gilt."

Heute wäre sie 110 Jahre alt geworden.


Dienstag, 16. Juli 2019

Guten Morgen, Welt


"Südbadischer Morgenmond an Dachantenne", 16. Juli 2019, 4.46 Uhr

Es gibt noch Dinge, auf die man sich verlassen kann:

Alle vier Wochen wird der Mond rund und voll.

Und jeder Tag hat seinen Morgen. 

 

Donnerstag, 11. Juli 2019

Rilke: Schicksal


"Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht. Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, um so tiefer und um so unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es einen späteren Tages 'geschieht' (das heißt, aus uns heraus zu den anderen tritt), im Innersten verwandt und nahe fühlen. Und das ist nötig. Es ist nötig - und dahin wird nach und nach unsere Entwicklung gehen -, dass uns nichts Fremdes widerfahre, sondern nur das, was uns seit lange gehört. Man hat schon so viele Bewegungs-Begriffe umdenken müssen, man wird auch allmählich erkennen lernen, dass das, was wir Schicksal nennen, aus den Menschen heraustritt, nicht von außen her in sie hinein."

Rainer Maria Rilke an Franz Kappus