Samstag, 28. August 2021

Gehen

 

Mitte der 1990er Jahre sah ich einen Film mit dem Titel "The Heart of the World". Der britische Dokumentarfilmer Alan Ereira hatte ihn im Auftrag der BBC über die Kogi-Indianer in der kolumbianischen Sierra Nevada gedreht. Die Kogi hatten sich vor den spanischen Eroberern in die Höhenzüge der Sierra zurückgezogen und bewahren dort seit Jahrhunderten, abgeschottet von den Veränderungen in unserer Gesellschaft, ihre archaisch anmutende Lebensweise.

Ich sah Menschen, die ihr Garn spinnen, ihre Stoffe weben und diese Stoffe zu schlichten Hosen und Tuniken verarbeiten. Und ich sah, wie sie jeden Morgen ihr Land begehen, langsam und mit dem Ausdruck höchster Konzentration. Sie schauen nicht umher, sie plaudern nicht, sie sammeln nichts auf, sie wollen sich dabei nicht erholen. Sie sind vielmehr seit Jahrhunderten auf uralten heiligen Wegen unterwegs, aber sie haben kein Ziel, das sie erreichen wollen. Es geht ihnen um etwas viel Wichtigeres. Für die Kogi hat jede Pflanze und jedes Tier ihre und seine Mutter: in aluna, der Welt des Geistes, dem Bereich von Lebenskraft und Intelligenz, in dem sich die Zukunft vorbereitet.

Ein Mythos erzählt von dem Auftrag, der den Kogi am Beginn der Zeit gegeben wurde: "Ihr seid geschaffen, die Erde zu hüten und sie in Balance zu halten, geschaffen, für die Welt und das ganze All zu sorgen. Sammelt euren Geist und richtet ihn auf die Sorge für das Ganze." Die Kogi sammeln ihren Geist und begehen ihr Land, um die Erde im Gleichgewicht zu halten.

So könnten wir gehen, wenn auch nur einmal an jedem Tag. Schritt für Schritt. In dem Bewustsein, dass wir der Erde etwas zurückgeben können und müssen, um sie und das Ganze in Balance zu halten. Sodass die Mütter aller Pflanzen und Tiere genährt werden und starke und heilkräftige Kinder zur Welt bringen.


Freitag, 20. August 2021

Die Erntemondin in dunkler Zeit



Ich bin erschüttert darüber, was in Afghanistan gerade geschieht. Über die Art und Weise, in der meine beiden Länder - Deutschland und die USA - sich aus Afghanistan zurückgezogen und ihre Helfer aus zwanzig Jahren, die einheimischen Ortskräfte, zurückgelassen haben. In einer Arte-Reportage hier (klick)  erfahre ich, dass die Bundeswehr bereits Ende Juni ihr deutsches Personal ausgeflogen hat - einschließlich 22.000 Litern Bier! Für die Fässer war Platz in den Maschinen. Wahed dagegen, der als Dolmetscher für die Bundeswehr gearbeitet hat, mehrmals nach Deutschland eingeladen wurde und mit Orden dekoriert ist, musste mit seiner Familie in Kabul untertauchen und sagt im Film: "Die Deutschen haben uns benutzt und werfen uns auf den Müll."

Diese Menschen haben meiner Regierung vertraut; ihr naives Vertrauen wurde brutal enttäuscht und hat sie in Lebensgefahr gebracht. 

Gerade geht hinter den Tannen im Nachbargarten der fast volle Mond auf, riesig und orangefarben. Der Erntemond, harvest moon, der Mond, der der Erde am nahesten ist. Vor fast dreißig Jahren war ich im August in Warschau, eingeladen als Referentin zu einer internationalen Konferenz von transpersonalen Psychotherapeuten. Als der volle Mond am nächtlichen Sommerhimmel aufstieg, stand ich auf einem großen Platz in einem Park und sang mit Hunderten anderen ein Lied für die Erntemondin, die Mutter aller Monde, in der Zeremonie, die eine indigene amerikanische Therapeutin leitete. 

Dreißig Jahre später stehe ich auf meinem Balkon in einer anderen Stadt in einem anderen Land, und die Mondin ist wieder da, ist immer noch da.

Die Ureinwohner Amerikas sagen: Remember, remember. Because everything forgotten returns to the circling wind.

Heute will ich mich an diese heiße Sommernacht in Warschau erinnern, als wir die Mondin anriefen in einem Land, das seine Grenzen gerade erst geöffnet hatte und noch gezeichnet war von Unfreiheit und Unterdrückung. Ich will mich daran erinnern, dass die Weltgeschichte überraschende Wendungen nehmen kann.


Sonntag, 15. August 2021

Die Bedrohlichkeit des Pusteblumen-Schattens

 

 Ja, schön, aber der Schatten ....!

 

Die Gemüseabteilung im Supermarkt ist in meinem Vorort der Ersatz für den Marktplatz. Man trifft sich, tauscht sich über das Neueste aus. Letzte Woche - ich prüfte die Melonen auf ihren Reifegrad - hörte ich unfreiwillig mit. Zwei Frauen, etwa Ende Sechzig. Frau 1: Das ist aber schön, dass Ihr Mann aus der Klinik entlassen wurde. Frau 2: Ja, aber man weiß nicht, wie es weitergeht, er ist halt noch sehr schwach. Frau 1: Kann er wieder essen? Frau 2: Ja, aber Kartoffeln und Kohl verträgt er nicht, und Milch und Joghurt will er nicht. Frau 1: Sicher geht er wieder gern in seinen Garten? Frau 2: Ja, aber er schafft nicht mehr viel, und Bücken geht nicht mehr wie früher.

Ich habe eine familienlose Bekannte, die zwei kleine ererbte und vermietete Reihenhäuser besitzt und in einer Eigentumswohnung lebt. Sie würde gerne reisen, aber für große Reisen ist ihre Rente zu klein. Als ich ihr vorschlug, doch eins der Häuser zu verkaufen und in ihren vielleicht zwanzig Restjahren die Welt kennenzulernen, schaute sie mich fassungslos an: "Ja, aber die Häuser brauche ich zu meiner Sicherheit, wenn ich mal krank werde."

Ach, die Bedrohlichkeit des Pusteblumen-Schattens.

Natürlich ist das Pusteblümchen schön, ganz klar, aber schau dir mal an, was es für einen Schatten wirft. Schwarz. Kompakt. Da wird einem richtig mulmig. Bei dem Pusteblumen-Schatten an einem Hochsommer-Sonnentag.

Meine Mutter war eine Meisterin darin, auf die dunkle Seite der Ereignisse zu starren, und ich weiß, dass es gar nicht so leicht ist, solch eine Prägung aufzulösen. Aber nur Mut, es ist möglich. So eine Pusteblume ist ein zauberhaftes Gebilde. Sehr verletzlich und unbeständig, deshalb muss man es bewundern, solange es da ist (dafür hat man also etwa zwei Tage Zeit). Ein Windhauch nämlich, und die Schirmchen sind weg. Denn jedes ist ein perfekt von der Natur gebautes Flugobjekt. Da wurde doch selbst Ikarus neidisch.

Und wehe, jetzt sagt einer: Ja, aber aus jedem Schirm entsteht so ein furchtbarer Löwenzahn ...

 

Montag, 9. August 2021

Meine Blüten-Küche


Was Bienen mögen, dürfen auch Menschen essen. Alle Wildpflanzen, die ich auf meinem Balkon gesät habe, kann ich essen. Morgens auf dem Porridge, mittags auf dem Salat oder der Suppe, abends auf dem Brot. Einige schmecken lieblich-süß, andere leicht scharf-pfeffrig, andere, naja, etwas fade. Hier eine kleine unvollständige Auflistung der essbaren Blüten:

 

 

 

Gänseblümchen - Ringelblume - Wilde Möhre - Kornblume - Acker-Stiefmütterchen - Duftwicke - Prachtnelke - Nachtviole - Rundblättrige Glockenblume - Rapunzel-Glockenblume - Moschusmalve - Wiesensalbei - Nachtkerze - Kapuzinerkresse - einige Taglilien - Veilchen - Gewürz-Tagetes - Lavendel - Rosen.

Von den meisten kann man auch die Blätter essen. Klein zupfen und über den Salat und die Suppe streuen. Oder eine Blütenbutter machen: Kleingeschnittene Blüten in zimmerwarme Butter einarbeiten, die Butter in Frischhaltefolie zu einer Rolle formen, in den Kühlschrank geben.

Hier noch ein paar feine Rezepte mit Blüten, sogar eine Quiche ist dabei: https://www.krautundrueben.de/essbare-blueten-rezepte-mit-salbei-loewenzahn-veilchen#rezept-butter

Guten Appetit.