Dienstag, 15. Juli 2025

Andrea Gibson, RIP

 


Andrea Gibson war eine der großen zeitgenössischen Dichterinnen der USA, Poet Laureate von Colorado und auch sonst vielfach ausgezeichnet. Vor vier Jahren bekam sie die Krebs-Diagnose, und wir konnten miterleben, wie sie sich durch Schmerzen und heftigste Behandlungen hindurcharbeitete und dabei immer leuchtender und liebender wurde: "Sometimes grief is the fastest way to the truth". 

Andrea hinterlässt ein unglaubliches Werk voller Schmerz und Freude. Man kann ihre Gedichte eigentlich nicht übersetzen, deshalb tue ich es hier nicht. Man sollte sie überhaupt nicht lesen, sondern hören. Schaut Euch das Video an, dann wisst Ihr, was ich meine. Es trägt den Titel "Every Time I Ever Said I Want to Die".

"A difficult life is not less worth living than a gentle one. Joy is simply easier to carry than sorrow, and your heart could lift a city from how long you’ve spent holding what’s been nearly impossible to hold.

This world needs those who know how to do that. Those who could find a tunnel that has no light at the end of it, and hold it up like a telescope to know the darkness also contains truths that could bring the light to its knees.

Grief astronomer, adjust the lens, look close, tell us what you see."

Auf ihrem Substack Account schrieb sie unter anderem "Love Notes From The Chemo Room". Jede und jeder von uns, die wir in schwierigen Umständen welcher Art auch immer leben, sollten ihn lesen, finde ich:  https://andreagibson.substack.com/. Andreas Gedichte und ihre Emotionalität gehen mir unter die Haut, und es gibt Tage, an denen ich sie nicht ertrage. Aber was für ein Wunder, dass eine solch hochbegabte Autorin ihre tiefsten Schmerzen und Freuden mit uns geteilt hat.

Andrea starb gestern, am 14. Juli, im Alter von 49 Jahren.

(Wenn bei Euch das Video nicht eingebettet wird: Hier ist es.)

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Sonntag, 13. Juli 2025

Dieser Löwe schläft nicht

 


Im Urwald schreien die Affen und Vögel, ab und zu kommt ein Wolkenbruch, und irgendwo, versteckt in einer Höhle, schläft ein Löwe.

Er schläft da genau fünf Minuten, aber dann wacht er auf. Das ist nicht verwunderlich. Wer wacht nicht auf, wenn er den fabelhaften Knabenchor Dagilélis aus Litauen hört, hier mit "The Lion Sleeps Tonight".

Alle, bei denen das Video nicht angezeigt wird, finden es hier:  https://www.youtube.com/watch?v=tGxyoRuslpA&list=RDtGxyoRuslpA&start_radio=1 

Ich wünsche euch sonnige Tage. Verschlaft sie nicht, der Sommer ist kurz.

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Sonntag, 6. Juli 2025

Eine Tasse Tee

 


"In unserer Alltagssprache reden wir vom 'Menschen ohne Tee in sich', wenn er für die Tragikomik des eigenen Erlebens unempfänglich ist." Kakuzo Okakura

Als ich in der Villa Massimo in Rom lebte mit einem Stipendium des Bundes-Innenministeriums, merkte ich nach zwei Monaten, dass diese Villa mit ihren zwölf Stipendiaten (samt Familien) trotz ihres herrlichen Gartens für mich alles andere als ein Refugium war. Ich musste etwas finden, das mir half, in meine Zen-Welt einzutauchen. Ich fand es in der Urasenke-Teeschule bei Teemeisterin Signora Michiko Nojiri. 

Jede Woche fuhr ich eine Stunde lang quer durch die Stadt - wer jemals in Rom mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren ist, weiß, dass das keine Freude ist -, um eine Stunde lang japanische Tee-Zeremonie zu üben. Und dann eine Stunde zurück in die Villa zu fahren. Man muss schon ein Nerd sein, um das zu tun. (Oder eine geduldige Zen-Schülerin.)

Chado, der "Weg des Tees", ist eine der Zen-Künste, und als solche ist ihr tiefstes Anliegen natürlich das Erwachen zu unserem Wahren Wesen. Das streng Ritualisierte der Zeremonie erfordert einen Teeraum mit Tee-Geräten, einen Gastgeber und Gäste, die Teil der Zeremonie sind. Das kann man zu Hause nicht aufrechterhalten, aber wie immer im Zen liegt das Wesentliche jenseits des Äußeren, genau gesagt: Die Form ist nur das Medium, das die Erfahrung ermöglicht. 

Seit Rom habe ich eine tiefe Liebe zum Tee. Und damit meine ich nicht nur das Getränk selbst, sondern die Lebenshaltung, die für Japaner damit verbunden ist. 

Kakuzo Okakura war im 19. Jahrhundert ein Förderer der Künste in Japan und gründete sogar Kunsthochschulen. Später wurde er Direktor der ostasiatischen Abteilung des Museum of Fine Arts in Boston und lebte abwechselnd in Japan und den USA. Bei uns ist er vor allem durch "Das Buch vom Tee" bekannt geworden. Darin finden sich Sätze wie dieser: "Teeismus ist ein Kult, gegründet auf die Verehrung des Schönen inmitten der schmutzigen Tatsachen des Alltags."

Und so verehre ich das Schöne jeden Tag bei zwei, drei Tassen Tee. Am Vormittag, am Nachmittag, wie es gerade passt. Meine zwanzigminütige Teezeit ist das Reich der Schönheit; der Alltag findet dort nicht statt. Ich habe eine kleine feine Auswahl an Grüntees, die ich in zuverlässigen Tee-Geschäften kaufe. Meine Tees sind Diven. Jeder möchte eine andere Ziehzeit und schmeckt erst bei der richtigen Menge Blätter auf die richtige Menge Wasser, das die richtige Temperatur haben muss. Tee-Menschen sind ... speziell.

Aber bereits mit der Auswahl des Tees beginnt die Erschaffung der Schönheit. Jeder Handgriff wird bewusst ausgeführt. Ich gebe den Tee in den Becher, die Tasse oder das Kännchen (natürlich besitze ich eine kleine feine Kollektion hübscher Gefäße). Ich habe keine offene Feuerstelle, wie sie jeder klassische Teeraum hat, und keinen darüber aufgehängten Eisenkessel. Das stört mich nicht. Ich lausche meinem Wasserkocher, der sich, immer heftiger brodelnd, der vorher eingestellten Temperatur nähert, gieße Wasser auf die Teeblätter, stelle den Timer ein, und nach einer oder zwei Minuten setze ich mich an den Tisch, erschnuppere das Aroma und genieße. Kein Gedanke stört die Atmosphäre, keine weitere Handlung ist erforderlich. Nichts wird geplant, nichts erledigt. Handy und Laptop sind ausgeschaltet. Der Alltag ist weit weg. 

Ich trinke eine Tasse Tee. Das ist alles.



Diese kleine Alltags-Zeremonie kann bei dir auch ganz anders aussehen. Jedes Ritual muss zu dem Menschen, der es ausführt, passen; erst dann berührt es Herz und Geist und kann seinen Sinn erfüllen. Vielleicht hat dein Ritual gar nichts mit Tee zu tun. (Aber wenn es mit Tee zu tun hat: KEINEN TEEBEUTEL!) Vielleicht liest du ein Gedicht, eine Geschichte, hörst einen Song, eine Kantate. Es geht darum, in deinem Tag solche Inseln der Stille und Schönheit zu erschaffen. Auf solchen Inseln werden wir selbst still und von innen heraus schön, wir werden zu "Menschen mit Tee in sich". Und, in meinem Alter nicht zu vergessen: "Nur wer schön gelebt hat, kann auch schön sterben."

Das Buch von Okakura gibt es in zwei Ausgaben. Die linke aus dem Nikol Verlag, übersetzt von Tom Amarque, kostet 7 EUR. Die rechte aus der Insel-Bücherei, übersetzt von dem Japanologen Horst Hammitzsch und mit schönen Illustrationen versehen, kostet 15 EUR. Ich empfehle euch die Insel-Ausgabe, die Übersetzung ist poetischer und entspricht dem Tee-Geist mehr.

(Werbung) Wenn ihr online bestellen wollt, empfehle ich euch den gemeinwohlbilanzierten sozialen Buchversand Buch7, der soziale, kulturelle und ökologische Projekte unterstützt. Ihr werdet schnell und versandkostenfrei beliefert und ich erhalte eine (sehr kleine) Provision dafür. "Das Buch vom Tee" aus dem Nikol Verlag bestellen hier (klick).   "Das Buch vom Tee" aus der Insel-Bücherei bestellen hier (klick).

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