Donnerstag, 29. September 2022

Praxis mit Weihnachtsstern, 2. Jahr


Nun, meine Lieben, ist wieder Zeit, euren Weihnachtsstern auf Weihnachten vorzubereiten. Er/sie (eine Sternin gar?) soll doch im Advent schön rot sein. Deshalb hier noch einmal mein Erfahrungsbericht für alle tapferen Weihnachtssternbetreuerinnen und -betreuer. Nicht müde werden, Sternchen schleppen!

Übrigens: Mein Sternchen vom letzten Jahr ist ein ausgewachsener Prachtstern geworden. Dies ist das letzte Jahr, in dem ich ihn noch erröten lassen werde. Der Kerl wiegt so viel wie eine ausgewachsene Katze und passt jetzt schon kaum noch in seine Dunkelkammer. 

 ***

Im Dezember letzten Jahres kaufte ich einen kleinen Weihnachtsstern im Edeka. Es war der letzte im Regal, ein Sternchen im 10-cm-Topf für 99 Cent. Er tat mir leid. Alle Brüder und Schwestern aus dem Haus, der Kleine allein zwischen den obszön fleischigen Stängeln der Amaryllis, wo er irgendwie zurückgeblieben wirkte und nicht gerade zum Kauf einlud. Ich nahm ihn mit.

Sternchen gefiel es bei mir. Es wuchs. Ich topfte um. Sternchen war begeistert und wuchs schneller. Ich holte beim Edeka einen größeren Topf, der dreimal so viel kostete wie das Pflänzchen. Dazu beste torffreie Bio-Erde. Das Wachstum machte mich bange. Und irritierte mich: Die paar roten Blättchen waren längst von dicken grünen Blättern überwuchert. Was war los mit ihm? Falsche Pflege, falscher Standort? Ich konsultierte das weltweite Netz. Und erfuhr, dass der tropische Stern eine Kurztagspflanze ist und dem Photoperiodismus unterliegt. Vom 22. September an benötigt er acht Wochen lang täglich zwölf Stunden absolute Dunkelheit, um neue rote Blüten (die im Grunde Hüllblätter sind) zu entwickeln. "Wichtig ist", sagt das Netz, "dass man die Zimmertür nach Sonnenuntergang nicht mehr öffnet." Und fügt für uns Villenbesitzer hilfreich hinzu: "Ein ungenutzter Raum mit einer Außenjalousie, die sich zeitgesteuert herunterfahren lässt, eignet sich sehr gut."

Am 22. September trug ich Stern um 19 Uhr in mein kleines Kofferabteil unter der Dachschräge und wünschte ihm Gute Nacht. Am nächsten Morgen holte ich ihn um 7 Uhr wieder heraus und wünschte ihm Guten Morgen. Tag für Tag: Stern abends ins Dunkle betten, morgens in den Tag holen. Die Welt rutschte währenddessen in großer Geschwindigkeit in Richtung Chaos. Ich saß am Computer und sah ihr dabei zu; es gibt Grafiken dafür, die kennt inzwischen jeder. Die Überschriften lauten Inzidenz, Hospitalisierung, Impfstoffknappheit, Mutanten, vierte Welle. Beim Lesen von Online-Zeitschriften kann man ganz schnell mit der Welt zusammen abrutschen, und aus solchen Abgründen kommt man schwer wieder raus. Ich aber hatte einen Stern. Mit ihm zusammen bewegte ich mich durch die Tage der schlechten Nachrichten, die von zwei verlässlich aufgestellten Säulen zusammengehalten wurden: dem "Guten Morgen, Stern!" und dem "Gute Nacht, Stern!".

Allmählich fühlte ich mich aber doch etwas ermüdet. Nach einem Monat wurde ich mürrisch, weil auch nicht der kleinste rote Schimmer zu sehen war. Ein wenig Erfolg für meine Mühe hätte ich schon gern gesehen. Okay, sagte ich mir. In Grün ist er ja auch hübsch. (Ich will aber einen Roten ...!) Dann fuhr ich nach Salzburg, und als ich im Retreat auf meinem Kissen saß, fiel mir ein, dass ich den Stern im Kofferabteil vergessen hatte. Ach je. Ob er mir das wohl verzeihen würde? Ob er jetzt, drei Tage lang in Dunkelheit gesperrt, endgültig die Röte verweigern würde? Aus Hilflosigkeit? Aus Trotz? Am nächsten Montag holte ich ihn aus dem Verlies, er wirkte ungebrochen vital. Und war sehr grün.

 


Die acht Wochen neigten sich dem Ende zu. Am 18. November - ja, ich habe das Datum notiert - holte ich morgens den Stern aus der Dunkelheit, und die Hüllblätter waren von einem rosaroten Schimmer überzogen. Ich jubelte. Jetzt ging alles sehr schnell. In den nächsten Tagen errötete er immer mehr, wuchs dabei natürlich weiter und sieht jetzt aus wie eine junge Punkerin, die sich in den Haarschopf oben knallrote Stellen gefärbt hat, während unten die Eigenfarbe stehenblieb.

Mir erzählen ja immer wieder Menschen, dass sie es nicht schaffen, sich täglich zur Meditation auf ein Kissen zu setzen. Vielleicht probieren sie es im nächsten Jahr mal mit der Weihnachtsstern-Praxis. Immer dieselben Handgriffe in derselben Weise um dieselbe Zeit auszuüben, hat etwas enorm Beruhigendes. Es gibt dem Tag eine Struktur, man lernt den Zustand seines Geistes kennen, kann das Loslassen aller Wünsche und Vorstellungen üben und gewinnt eine neue geliebte Freundin. Eine Punkerin. Das Leben ist voller Überraschungen.


Sonntag, 25. September 2022

Lebensbücher

 

Es gibt Bücher, die mir Spaß machen, mir eine gute Geschichte erzählen, die mich mit ihrem literarischen Stil begeistern, und solche, die mich klüger und kreativer machen. Und es gibt die Lebensbücher: Die Bücher, zu denen ich ein Leben lang greife, die mich immer und unter allen Umständen in meinen innersten Kern zurückführen. Die sechs wichtigsten möchte ich Euch hier vorstellen, jedes mit einem kurzen Zitat.

Joseph Campbell "Die Kraft der Mythen" ist ein Schatzbuch, das ich nie "auslese". Campbell, der Mythenforscher und Hochschulprofessor, war ein erleuchteter Weiser. Seine Erfahrung der Transzendenz ist in jedem Satz spürbar. Er ist bewandert in allen Kulturen und allen Religionen und findet den gemeinsamen Urgrund hinter den zahllosen Erscheinungen. Das Buch ist voller Bilder von Kunstwerken, Höhlenzeichnungen, Bauten. "Man muss ja sagen zu diesem Wunder des Lebens, wie es ist, nicht unter der Bedingung, dass es sich an die eigenen Regeln hält. Andernfalls gelangt man niemals in die metaphysische Dimension."

C. G. Jung "Erinnerungen, Träume, Gedanken". Ein Lesebuch mit genau dem Inhalt, den der Titel verspricht. Der beste Einstieg in die analytische Psychologie, lebendig und leicht verständlich. Hier lernt man Jung auch als den Mystiker kennen, der er war. Faszinierend finde ich die Beschreibungen seiner spirituellen Erfahrungen. Warum ich Jung liebe und nicht etwa Freud? Deshalb: "Es ist die Aufgabe des Einzelnen, von allen anderen unterschieden auf eigenen Füßen zu stehen."

Peter Handke "Dialoge an den Rändern". Das neueste seiner Journale (danke, Monika, für das Geschenk!) steht hier stellvertretend für die vorangegangenen. Ich liebe sie alle, lese sie immer wieder kreuz und quer, streiche an, lasse mich anregen zum Weiterdenken, zum Widersprechen, zum beigeisterten Zustimmen. Wem außer Handke gelingen Wortschöpfungen wie "Kuhweidenregenmusik" und "Zeitraumerblühen"? Mein derzeitiger Liebling die Frage: "Wohin des Nicht-Weges?"

Kakuzo Okakura "Das Buch vom Tee". Ein Buch der Sanftheit, der Stille, der Schönheit. Okakura meditiert über die japanische Philosophie des Tees, die zusammen mit der Ethik die gesamte japanische Auffassung von Mensch und Natur darstellt. Dieses Buch ist wie eine Insel im Meer meiner Bibliothek, still und abgeschieden steht es auf dem höchsten Regalbrett und hat mit seinen Nachbarn nichts zu tun. Ein Solitär, der mich mit seinen einfachen Worten in die Welt der Teehäuser versetzt. Ich las das Buch zum ersten Mal, als ich achtzehn war, und es sprach von mir, als einer taoistischen "Meisterin der Lebenskunst": "Bei der Geburt tritt sie in das Land der Träume ein und erwacht erst beim Tode zur Wirklichkeit."

Jiddu Krishnamurti "Einbruch in die Freiheit". Im Innendeckel des Buches steht die Jahreszahl 1980. Nachdem ich es gelesen - ach was, getrunken, mir einverleibt - hatte, fuhr ich in Krishnamurtis Sommercamp nach Saanen in die Schweiz. Das war sie, die Begegnung meines Lebens. Eigentlich hätte ich danach keinen Lehrer mehr gebraucht, aber ich merkte, dass ich eine Praxis haben wollte, um meine Erfahrung zu vertiefen, und Krishnamurti war kein Lehrer und hielt überhaupt nichts von Praxis. Dieses Buch ist für viele Menschen provozierend, denn es ist wie sein Autor absolut kompromisslos: "Freiheit ist ein Zustand des Geistes - die Freiheit, alles anzuzweifeln und in Frage zu stellen, und zwar so intensiv, aktiv und kraftvoll, dass sie jede Art von Abhängigkeit, Sklaverei, Anpassung und Anerkennung von sich wirft. Solche Freiheit bedeutet völlig allein zu sein."

Rainer Maria Rilke "Das Buch der Bilder". Auch dieser Band ist stellvertretend für alle anderen gewählt. Über Rilkes Gedichte kann ich nichts sagen. Die lese ich mir selbst vor, stumm und leise flüsternd, und dann klingen sie in mir weiter. Rilke begleitet mich seit meiner Jugend. "Die Einsamkeit ist wie ein Regen. / Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen; / von Ebenen, die fern sind und entlegen, / geht sie zum Himmel, der sie immer hat. / Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt."

Meine Lebensbücher sind Bücher der Stille und der Freiheit, und deshalb erzählen sie vom großen Alleinsein. Denn wer in dieser Welt aus dem innersten Wesen heraus still und radikal frei leben muss, gehört nicht zu den Vielen. 

Was sind eure Lebensbücher? Schreibt doch in den Kommentaren, welche Autoren euch lebenslang begleiten. Tauschen wir uns ein wenig aus; über Bücher soll man nicht schweigen.


Sonntag, 18. September 2022

Das Glück

 

Ach, das Glück. Mein Duden Herkunftswörterbuch sagt dazu: "Die Herkunft des seit dem 12. Jahrhundert bezeugten Wortes, das sich vom Nordwesten her allmählich im deutschen Sprachgebiet ausgebreitet hat, ist dunkel." Das Glück kam also aus dem dunklen Norden und blieb dunkel, und da wundert es mich nicht, dass seiner Herkunft, Ankunft, Anwesenheit und Abwesenheit in unserem Leben so viele Märchen angedichtet werden. 

Es "kommt" also angeblich zu uns, und weil es kommen kann, "geht" es auch wieder nach eigenen Gesetzen. Es wird uns "geschenkt", also kann es auch "entzogen" werden. Wir wiederum "nehmen" es uns, "verlieren" es, manchmal "winkt" es von sehr weit her, und wir fragen uns, ob wir das Glück "verdienen". Und ständig sind wir auf der Suche danach. 

Außen. Immer im Außen.



 

Der Mythenforscher Joseph Campbell pflegte seinen Studenten zu empfehlen: "Follow your bliss." "Bliss" ist eben nicht "happiness", und die deutsche Übersetzung des Zitats, die ich immer wieder lese - nämlich "Freude" - ist zwar brauchbar, aber nicht die letzte Wahrheit. Es geht nämlich um Glückseligkeit, und die ist die Folge einer Erwachens-Erfahrung. Erwachen in meiner Definition ist nicht dasselbe wie die großartige Erleuchtung, die alte Zen-Meister als das "Durchtrennen aller Illusionen" bezeichnen. Es ist etwas viel Näheres und Alltäglicheres, das wir alle kennen. 

Wir können jederzeit erwachen zur Fülle dieses Augenblicks, wenn wir uns voll und ganz auf ihn einlassen, ohne dass sich irgendein Gedanke, ein Urteil, eine Meinung in unsere Erfahrung einmischt. Beginnen wir mit etwas, das wir als "schön" empfinden: das Spiel zweier junger Hunde, das Meer, aus dem die Sonne aufsteigt, das Gesicht der schlafenden Freundin, des Freundes. Nur Wahrnehmen, Spüren, mit ungeteilter Aufmerksamkeit, und was ist da? Bliss. Glückseligkeit.

Das Geheimnis ist: Wir haben in diesem Moment die absolute Dimension berührt, unser - wie es das Zen nennt - wahres Selbst, den Urgrund des Seins, aus dem wir kommen und in den wir irgendwann zurückkehren werden. Ich empfinde in solchen Augenblicken die Glückseligkeit nicht als meine persönliche Gefühlsregung, sondern als eine Eigenschaft der absoluten Dimension selbst, und große Lehrer wie Krishnamurti, Eckhart Tolle und Adyashanti bestätigen dies. Auf einmal ist der Zugang zu dieser immer anwesenden tiefen Glückseligkeit offen, sie offenbart sich mir als ein Grundton des Seins - und da ich untrennbarer Teil von ihr bin, als mein eigener Grundton. Und so sagt sie mir gleichzeitig: Ich bin immer da. Warum siehst du mich nicht immer, berührst du mich nicht, stimmst dich nicht auf mich ein?

Vergiss das "Glück". Follow your bliss, my friend.