Freitag, 26. November 2021

Unwahrscheinlich. Möglich. Erwartet.

 

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, einem Fischreiher im tiefsten Wald zu begegnen? Und wie groß die, dass die Fotografin ihre gute Kamera dabei hat genau in dem Moment, in dem ein Fischreiher sich auf einem Baum im tiefsten Wald niederlässt? Beides tendiert gegen null, würde ich sagen. Also gibt es von dem seltenen Ereignis nur ein Handy-Foto. Und ich denke über das Unwahrscheinliche nach, das eben dennoch hin und wieder eintritt und unserer Weltsicht ein neues Detail hinzufügt. Woraufhin es künftig vielleicht nicht zu den Wahrscheinlichkeiten, aber immerhin zu den Möglichkeiten zählt.

Also ging ich am nächsten Tag wieder in den Wald (mit der guten Kamera!) in der Hoffnung, den unwahrscheinlichen, aber jetzt eben doch möglichen Anflug des Fischreihers (mit der guten Kamera!) zu erwischen, um ein noch besseres, noch spektakuläreres Foto für den Blog zu machen. Der Kerl kam aber nicht.
 
Und ich sah vor lauter Hoffnung den Wald nicht mehr.
 
Wem predigt die Meditationslehrerin eigentlich immer: Keine Erwartungen haben! Keine Erwartungen haben! Keine Erwartungen .... 
 
Ich sollte der Frau mal zuhören.
 
 

Samstag, 20. November 2021

Schenkt Bücher!

 

Das gibt es: eine Weihnachtsgeschichte, die nicht kitschig ist. Zwei Freundinnen betreiben ein Café. Die eine ist alleinerziehende Mutter, die andere, Mutter von zwei Kindern, hat vor Jahren ihren Mann verloren. Jede kann sich auf die andere verlassen. Ich kenne wenige Bücher, die eine Frauenfreundschaft so selbstverständlich und einfach erscheinen lassen. Vor Jahren haben sie ein marodes Haus im Odenwald gekauft, das vorerst unbewohnbar ist. Es braucht ein neues Dach, und innen fehlt es ohnehin an allem. Das Haus ist ihr Traum von gemeinsamen Sommern mit den Kindern in der Natur, aber sie haben kein Geld für die Renovierung. Da taucht kurz vor Weihnachten ein Fremder im Café auf, der im Moment nicht weiß, wo er hingehört oder wohin er gehen will. Der Fremde sieht aus, als sei er es gewohnt, kräftig anzupacken ... Zsuzsa Bánk "Weihnachtshaus", S. Fischer Verlag

Eine starke Geschichte über zwei Außenseiterinnen. Sally, die Abiturientin, ist aus der Psychiatrie davongelaufen; sie hat die Lügen und Kompromisse in der Welt der Erwachsenen satt und stellt sämtliche Regeln in Frage. Sie landet auf dem Hof von Lissi, die anders ist als ihre Eltern und Lehrer. Lissi beurteilt sie nicht, stellt keine Fragen, sondern bindet sie ein in den täglichen Ablauf ihres Hofes. Sally erntet Kartoffeln, hilft bei der Traubenlese und lernt im Obstgarten die alten Sorten schätzen, die Lissi anbaut. Ehrliche körperliche Arbeit, die ihr guttut. Langsam und nicht ohne Schwierigkeiten nähern sich die beiden Frauen einander an; zwei zutiefst Verletzte, die auf der Suche sind nach einem Leben, in dem sie die sein dürfen, die sie sind. Ewald Arenz ist Lehrer, und mit Sally ist ihm eine großartige Protagonistin gelungen: eine Siebzehnjährige voller Widersprüche, Wut, Stärke und Liebe zum Leben. Ewald Arenz "Alte Sorten", Dumont Verlag 

 


 

Im Pfarrhaus im Banat leben Hannes, der deutsche Pfarrer, seine Frau Florentine und Sohn Samuel. In Rumänien herrscht Ceausescu. Inmitten von Verrat, Gewalt und Angst sind diese drei Menschen eine Insel der Ruhe und Stille. Wie Freund Bene sehr viel später über Samuel sagen wird: „Es war eine Schweigsamkeit, die aus langer Einsamkeit herrührte, und nur jemand, der mit dem Alleinsein vertraut war, erkannte sie.“ Iris Wolff findet wunderbare Bilder für Jahreszeiten und Landschaften; über das Banat sagt sie „diese Landschaft lässt dich, wie du bist“. In dem Buch „geschieht“ nicht viel, obwohl es Jahrzehnte einer Familie umfasst. Es ist vielmehr ein Lied über Weite und Stille, über Einsamkeit und Zärtlichkeit und die Notwendigkeit, Raum zwischen Menschen und Dinge zu legen, um sie besser sehen zu können. Große Lese-Empfehlung! Iris Wolff "Die Unschärfe der Welt", Klett Cotta

Einmal steht das Kind Edgar im Flur, späht durch ein Schlüsselloch und beobachtet seinen Vater im Musikzimmer, wie er sich vor einem imaginären Publikum verneigt. Das ist eine Schlüsselszene: Zwischen weit älteren Brüdern und einem kleineren Bruder ist Edgar ein Dazwischen-Kind. Edgar Selge schreibt über seine Kindheit in den 1960er Jahren aus der Perspektive der Gefühlswelt eines einsamen, die anderen gnadenlos genau beobachtenden Kindes. Der Vater ist Gefängnis-Direktor, ein verhinderter Konzert-Pianist, und alle in der Familie spielen ein Instrument. Gelegentlich werden ausgewählte Strafgefangene zu einem Hauskonzert eingeladen, dessen Langeweile sie nur mühsam überstehen. Edgar macht seinen Eltern keine Freude. Er stiehlt Geld, klettert nachts aus dem Fenster, um ins Kino zu gehen, und wird vom Vater systematisch verprügelt. Dieser dennoch geliebte Vater scheut auch nicht vor sexuellen Übergriffen zurück, und der erwachsene Sohn ringt noch immer mit dem Gefühlschaos, das in ihm angerichtet wurde: "Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt." Großartig wird die Atmosphäre der Nachkriegszeit gezeichnet, in der die alten Nazis immer noch das Sagen haben und der anerzogene Hass auf die Juden in beiläufigen Sätzen immer wieder hochkommt: "Wie soll er damit umgehen, dass er mehr gewusst hat, als er zugibt?" Edgar Selge ist einer meiner Lieblings-Schauspieler; ich freue mich, dass er auch richtig gut schreiben kann.  Edgar Selge "Hast du uns endlich gefunden", Rowohlt Verlag.

 


 

Erst mal die Nobelpreisträgerin: Olga Tokarczuk mit einem leichtfüßigen, klugen und eigenwilligen Roman über die alte Janina Duzsejko, die auf dem Berg im Winter die verlassenen Sommerhäuser der Städter betreut. Eine kratzbürstige, aber sehr sympathische Dame, die den Dichter William Blake verehrt, sich der Astrologie widmet (von der die Autorin einiges versteht) und Tiere mehr liebt als Menschen. Tokarczuk findet sehr schöne Bilder für Rehe, Hirsche, Hunde und Füchse. Dann geschieht ein Mord, und leider dann noch einer. Zwar weiß ich nicht, ob das nun wirklich nobelpreiswürdig ist, aber ich habe es gern gelesen. "Gesang der Fledermäuse",  aus dem Polnischen von Doreen Daume, Kampa Verlag

Ja, ich lese auch Krimis. Unter einer Bedingung: Die Bösewichter dürfen auf keinen Fall siegen. Und es muss eine Hauptfigur geben wie den kultivierten und unbestechlichen Chief Superinspector Armand Gamache von Louise Penny, der so altmodisch ist, an das Gute im Menschen zu glauben. Im Allgemeinen spielen die Romane von Louise Penny im kanadischen Dörfchen Three Pines, in dem eine hinreißende Truppe eigenwilliger Protagonisten zu finden ist, auf die ich hier nicht eingehen kann. Denn ich empfehle heute den 8. Fall von Gamache "Unter dem Ahorn", und der spielt im Kloster bei den schweigenden Mönchen, die gregorianische Choräle wie die Engel singen können, aber der Prior musste vielleicht genau deshalb sein Leben lassen. Die Mönche haben mit einer CD Ruhm geerntet und ihre Beschaulichkeit verloren, und jetzt steht die Frage im Raum: Sollen sie eine zweite CD aufnehmen, in die Welt hinaus gehen und dafür ihr Schweigegelübde brechen? Der kluge, nachdenkliche Armand Gamache ist der richtige Gesprächspartner für den Abt und die Mönche. Im Grunde ist dies kein Krimi, sondern ein philosophischer Roman über Musik, das Schweigen, das Seelenheil und die Frage, was wirklich zählt. "Unter dem Ahorn", aus dem kanadischen Englisch von Sepp Leeb, Kampa Verlag

Das Buch "Abendflüge" von Helen Macdonald habe ich bereits empfohlen. Wer meine Rezension im SWR hören will: hier (klick) 

Ich würde mich freuen, wenn ihr hier in den Kommentaren schreibt, was ihr vielleicht von meinen Vorschlägen gelesen habt und wie es euch gefallen hat. Und auch, welche Buchtipps ihr weitergeben möchtet. Eröffnen wir doch ein kleines Büchergespräch.

 

Dienstag, 16. November 2021

Die sanften Augen


"Denn es erstaunt sie, wie die anderen Menschen das jeden Tag aushalten, was sie sehen und mit ansehen müssen. Oder leiden die andren nicht so sehr darunter, weil sie kein anderes System haben, die Welt zu sehen?" Denkt Miranda in der Geschichte "Ihr glücklichen Augen" von Ingeborg Bachmann, die selbst kurzsichtig war und sich lebenslang weigerte, eine Brille zu tragen. In meinem Seminar in Salzburg sagte ein Teilnehmer (herzliche Grüße, A., wenn Du hier mitliest), dass er dank seiner eingeschränkten Sehfähigkeit nicht immer alles so genau und scharf sehen müsse, was ja manchmal gar nicht so schlecht sei. 

Das habe ich sofort verstanden, bin ich doch von Geburt an hochgradig kurzsichtig. Ich hatte damit kein Problem, aber meine Umwelt. In der Schule fiel ich gleich unangenehm auf, weil ich der Aufforderung, den Satz an der Tafel laut vorzulesen, nicht nachkam. Die Lehrerin wurde energisch und bestellte meine Mutter ein mit der alarmierenden Mitteilung: "Ihre Tochter hat schlechte Augen." Ich hatte gelernt, dass ein schlechtes Kind (die gab es damals zuhauf) ein böses Kind ist, also hatte ich wohl böse Augen, was mich sehr bedrückte. Ein Augenarzt wurde aufgesucht, und eine Woche später hatte ich eine Brille mit dicken Gläsern und blauem Gestell, obwohl mir das rote besser gefallen hätte. Meine Mutter war untröstlich; unvergessen ihre Bemerkung zu einer Nachbarin, während das bebrillte Kind daneben stand: "Womit habe ich es verdient, eine Brillenschlange zu haben?" Die Jungs in der Klasse johlten mir hinterher "Mein letzter Wille, ne Frau mit Brille!".

Solcherart sozialisiert, legte ich den Makel ab, als es endlich halbwegs vertrauenswürdige Kontaktlinsen gab. Auf einmal schaute die Umwelt auf mich mit Wohlwollen. Ich sah anscheinend endlich so aus, wie man es von einer jungen Frau erwartete. Für mich aber war es ein Schock. Ich fand mich in einer Welt der messerscharfen Kanten wieder, jedes Ding war klar vom anderen abgegrenzt, und ich war dieser Schärfe gnadenlos ausgesetzt, denn ich konnte nicht eben mal die Linsen absetzen wie früher die Brille. Die Brille war also ein Schatz gewesen, den ich nie gewürdigt hatte.

 


Seit ein paar Jahren trage ich die Kontaktlinsen nicht mehr. Jetzt habe ich wieder zwei Möglichkeiten, die Welt zu sehen. Scharf oder unscharf. Die Teile oder das Ganze. Ich kann mich jederzeit nach Belieben von der Schärfe der kantigen Welt erholen, wenn ich als Scharfblickende in ihr gerade nicht gebraucht werde. Kann die weichen Übergänge, die Verbundenheit, die Vieldeutigkeit der Formen wahrnehmen. Nicht einmal die Farben sind in meiner anderen Welt egoman. Sie behaupten nicht unbeugsam ihr Terrain, sondern fließen ineinander, vermischen sich zu neuen Farbtönen, zu Gemeinschaftsnuancen, die sie als Einzelne nie hervorgebracht hätten.

Ich habe zwei scharfe und zwei sanfte Augen. Beide brauche ich. Keines der Paare könnte mir allein die Wahrheit über die Welt präsentieren. Die aus beidem besteht, dem Ganzen und seinen Teilen.



Miranda bei Ingeborg Bachmann: "... und im Wienerwald sieht sie nicht die Bäume, aber den Wald, atmet tief ..."


Samstag, 13. November 2021

Restgold

 

Wir tasten uns hier seit Tagen durch fetten Nebel, verkrochen in Mantelkrägen und Wollmützen. Die Heizung hat die Entwicklung verschlafen und döst im Sommermodus vor sich hin. Wie gut, dass ich diese fingerlosen Handschuhe habe wie die Marktfrauen auf dem Münchner Viktualien-Markt; eigentlich zum Fotografieren, aber sie bewähren sich auch beim Tippen.

Mein Lieblingsbaum im Park franst in Windeseile aus. Die kahle Stelle oben umkränzt er mit güldenem Laub. Er erinnert mich an jene Männer mit der vorzeitigen Glatze, die dann am unteren Rand, wo noch was wächst, besonders viel stehenlassen in der Hoffnung, vom oberen Nichts abzulenken. 

Was man so denkt im Novembernebel.

Und dann bin ich nach Hause gegangen und habe weitergelesen. Für euch natürlich, denn in Kürze gibt es hier meine Weihnachtsausgabe der Buchtipps zum Verschenken und Selberlesen. Die wird üppig!


Dienstag, 9. November 2021

Oben und unten


Ein junger Mann hat Muße. Ein Student vielleicht, ein Freiberufler, der sich seine Zeit einteilen kann, ein Angestellter in der Mittagspause. Es ist einer der letzten warmen Herbsttage; er ist besonders warm in dieser so südlichen Stadt, und die Menschen sitzen auf den Plätzen und vor den Cafés, trinken Kaffee, essen Eis. Dieser Mann hat sich einen ungewöhnlichen Platz für seine Mußestunde ausgesucht; er wollte eher liegen als sitzen, und dort oben liegt er ungestört. Niemand wird ihm diesen Platz streitig machen. Er hat sich eine Zeitung gekauft und liest in all der Ruhe, die er hat oder sich einfach mal genommen hat, den Kopf auf seinen Rucksack gebettet. 

Auf halber Höhe der großen Treppe steht die Fotografin und findet das Bild interessant. Dieses auf dem Knie liegende Bein genau zwischen den beiden Lampenmasten, die nach oben ansteigende Treppe, die von der Mauer aufgefangen wird und nicht im Nichts endet. Der Mann dort oben ist perfekt gerahmt, er fällt nicht aus dem Bild und sicher auch nicht von der Brücke. Diese grafisch so schön ausgewogene Komposition, die ihr der Augenblick beschert, ohne dass sie hier irgendetwas manipulieren müsste, gefällt ihr. Sie drückt auf den Auslöser.

Dann dreht sie sich um und schaut nach unten, und in diesem Augenblick geht sie vorbei:


 

Ihr Rucksack wird nicht als Kopfkissen dienen; in ihrer Kultur und der prekären Stellung, die sie in dieser südlichen Stadt hat, empfiehlt es sich nicht, sich auf einem Brückengeländer in der Sonne zu aalen. Sie ist auf dem Weg zum Markt, um heimisches Gemüse zu finden, oder etwas, das ähnlich aussieht wie die Farben und Formen auf den Märkten zuhause und mit den gewohnten Gewürzen zu etwas annähernd Vertrautem zusammengemischt werden kann. Oder sie ist auf dem Weg in eine Unterkunft, die der Mann auf der Brücke nie gesehen hat, nie betreten wird, von der er allenfalls gelesen hat, mit Mitgefühl vielleicht, ja, ganz sicher mit Mitgefühl.  

Zwei Lebenswelten, die sich nicht begegnen können, weil der eine oben ist und die andere unten. Verbunden nur durch den Blick der Fotografin. Die in der Mitte zwischen beiden steht.

Vielleicht sollte man da öfter stehen, in der Mitte. Man sieht mehr.


Donnerstag, 4. November 2021

Voces8 "May it Be"

 

 

... may it be you journey on

when the night is overcome

you may rise to find the sun ...


Voces8 singen "May it be" von Enya

Für euch zum Wochenende. Vielleicht findet ihr die Sonne.