Dienstag, 16. November 2021

Die sanften Augen


"Denn es erstaunt sie, wie die anderen Menschen das jeden Tag aushalten, was sie sehen und mit ansehen müssen. Oder leiden die andren nicht so sehr darunter, weil sie kein anderes System haben, die Welt zu sehen?" Denkt Miranda in der Geschichte "Ihr glücklichen Augen" von Ingeborg Bachmann, die selbst kurzsichtig war und sich lebenslang weigerte, eine Brille zu tragen. In meinem Seminar in Salzburg sagte ein Teilnehmer (herzliche Grüße, A., wenn Du hier mitliest), dass er dank seiner eingeschränkten Sehfähigkeit nicht immer alles so genau und scharf sehen müsse, was ja manchmal gar nicht so schlecht sei. 

Das habe ich sofort verstanden, bin ich doch von Geburt an hochgradig kurzsichtig. Ich hatte damit kein Problem, aber meine Umwelt. In der Schule fiel ich gleich unangenehm auf, weil ich der Aufforderung, den Satz an der Tafel laut vorzulesen, nicht nachkam. Die Lehrerin wurde energisch und bestellte meine Mutter ein mit der alarmierenden Mitteilung: "Ihre Tochter hat schlechte Augen." Ich hatte gelernt, dass ein schlechtes Kind (die gab es damals zuhauf) ein böses Kind ist, also hatte ich wohl böse Augen, was mich sehr bedrückte. Ein Augenarzt wurde aufgesucht, und eine Woche später hatte ich eine Brille mit dicken Gläsern und blauem Gestell, obwohl mir das rote besser gefallen hätte. Meine Mutter war untröstlich; unvergessen ihre Bemerkung zu einer Nachbarin, während das bebrillte Kind daneben stand: "Womit habe ich es verdient, eine Brillenschlange zu haben?" Die Jungs in der Klasse johlten mir hinterher "Mein letzter Wille, ne Frau mit Brille!".

Solcherart sozialisiert, legte ich den Makel ab, als es endlich halbwegs vertrauenswürdige Kontaktlinsen gab. Auf einmal schaute die Umwelt auf mich mit Wohlwollen. Ich sah anscheinend endlich so aus, wie man es von einer jungen Frau erwartete. Für mich aber war es ein Schock. Ich fand mich in einer Welt der messerscharfen Kanten wieder, jedes Ding war klar vom anderen abgegrenzt, und ich war dieser Schärfe gnadenlos ausgesetzt, denn ich konnte nicht eben mal die Linsen absetzen wie früher die Brille. Die Brille war also ein Schatz gewesen, den ich nie gewürdigt hatte.

 


Seit ein paar Jahren trage ich die Kontaktlinsen nicht mehr. Jetzt habe ich wieder zwei Möglichkeiten, die Welt zu sehen. Scharf oder unscharf. Die Teile oder das Ganze. Ich kann mich jederzeit nach Belieben von der Schärfe der kantigen Welt erholen, wenn ich als Scharfblickende in ihr gerade nicht gebraucht werde. Kann die weichen Übergänge, die Verbundenheit, die Vieldeutigkeit der Formen wahrnehmen. Nicht einmal die Farben sind in meiner anderen Welt egoman. Sie behaupten nicht unbeugsam ihr Terrain, sondern fließen ineinander, vermischen sich zu neuen Farbtönen, zu Gemeinschaftsnuancen, die sie als Einzelne nie hervorgebracht hätten.

Ich habe zwei scharfe und zwei sanfte Augen. Beide brauche ich. Keines der Paare könnte mir allein die Wahrheit über die Welt präsentieren. Die aus beidem besteht, dem Ganzen und seinen Teilen.



Miranda bei Ingeborg Bachmann: "... und im Wienerwald sieht sie nicht die Bäume, aber den Wald, atmet tief ..."


1 Kommentar:

  1. Schrecklich, was Kinder oft aushalten müssen. Häme, böse Reime, dumme Sätze... oft nicht mal böse gemeint, aber so verletzend.
    Die Welt mit scharfen und sanften Augen sehen ... eine neuer Gedanke - ich muss das mal ausprobieren. Ab jetzt gibt es kleine Selbsttests.
    liebe Grüße von Ellen

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