Ein junger Mann hat Muße. Ein Student vielleicht, ein Freiberufler, der sich seine Zeit einteilen kann, ein Angestellter in der Mittagspause. Es ist einer der letzten warmen Herbsttage; er ist besonders warm in dieser so südlichen Stadt, und die Menschen sitzen auf den Plätzen und vor den Cafés, trinken Kaffee, essen Eis. Dieser Mann hat sich einen ungewöhnlichen Platz für seine Mußestunde ausgesucht; er wollte eher liegen als sitzen, und dort oben liegt er ungestört. Niemand wird ihm diesen Platz streitig machen. Er hat sich eine Zeitung gekauft und liest in all der Ruhe, die er hat oder sich einfach mal genommen hat, den Kopf auf seinen Rucksack gebettet.
Auf halber Höhe der großen Treppe steht die Fotografin und findet das Bild interessant. Dieses auf dem Knie liegende Bein genau zwischen den beiden Lampenmasten, die nach oben ansteigende Treppe, die von der Mauer aufgefangen wird und nicht im Nichts endet. Der Mann dort oben ist perfekt gerahmt, er fällt nicht aus dem Bild und sicher auch nicht von der Brücke. Diese grafisch so schön ausgewogene Komposition, die ihr der Augenblick beschert, ohne dass sie hier irgendetwas manipulieren müsste, gefällt ihr. Sie drückt auf den Auslöser.
Dann dreht sie sich um und schaut nach unten, und in diesem Augenblick geht sie vorbei:
Ihr Rucksack wird nicht als Kopfkissen dienen; in ihrer Kultur und der prekären Stellung, die sie in dieser südlichen Stadt hat, empfiehlt es sich nicht, sich auf einem Brückengeländer in der Sonne zu aalen. Sie ist auf dem Weg zum Markt, um heimisches Gemüse zu finden, oder etwas, das ähnlich aussieht wie die Farben und Formen auf den Märkten zuhause und mit den gewohnten Gewürzen zu etwas annähernd Vertrautem zusammengemischt werden kann. Oder sie ist auf dem Weg in eine Unterkunft, die der Mann auf der Brücke nie gesehen hat, nie betreten wird, von der er allenfalls gelesen hat, mit Mitgefühl vielleicht, ja, ganz sicher mit Mitgefühl.
Zwei Lebenswelten, die sich nicht begegnen können, weil der eine oben ist und die andere unten. Verbunden nur durch den Blick der Fotografin. Die in der Mitte zwischen beiden steht.
Vielleicht sollte man da öfter stehen, in der Mitte. Man sieht mehr.
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