Als ich vor vierzig Jahren anfing zu meditieren, erzählte ich das erst mal niemandem. Leute, die Yoga, Meditation oder Tai Chi ("Was ist das denn?") praktizierten, galten damals als Freaks. Ich war bekannt als literarische Autorin, hatte bereits drei Bücher veröffentlicht und konnte mir vorstellen, was meine von Berufs wegen kritischen bis zynischen Kollegen und Kolleginnen von mir halten würden. Ein Jahr lang lebte ich als Literatur-Stipendiatin in Rom in der Villa Massimo. Zweimal während dieser Zeit verschwand ich mit einem gemurmelten "Bin in der Schweiz" für eine Woche zu einem Zen-Sesshin. Allmählich sickerte was durch. Der Kommentar eines Kollegen war bezeichnend für die Einstellung jener Zeit: "Ach so, du gehörst auch zu den Egoisten, die nicht interessiert sind an der Veränderung der Gesellschaft."
Vor ein paar Wochen sprach ich mit einer Person, die von Meditation ebenso wenig hielt wie mein damaliger Kollege. Ihr Argument war ein anderes: "Das ist doch nur eine Mode-Erscheinung, die sich in Kürze von selbst erledigen wird."
Aha. Dann wollen wir uns mal mit der Frage beschäftigen: Warum überhaupt Meditation? Wofür dient sie, was bewirkt sie, haben diese Egoisten, die auf ihren kleinen Kissen an die Wand starren, stichhaltige Argumente für ihre seltsame stille Beschäftigung?
Fangen wir groß an: Mit der Bedeutung der Meditation für die Gesellschaft. Professor Dr. Thomas Metzinger - ein Zen-Praktizierender und Intellektueller, der ganz bestimmt nicht bekannt ist für schöne Worte und heiteren Optimismus - spricht in diesem Video darüber, dass wir als Gesellschaft eine ethische Einstellung unseren eigenen geistigen Prozessen gegenüber finden und systematisch wertvolle geistige Zustände kultivieren müssen. Er spricht von der derzeitigen "Achtsamkeits-Zerstörungs-Industrie" und fragt, wie es mit der Würde der nicht-menschlichen Tiere bei uns bestellt ist. (Schlecht, sehr schlecht!)
"Spirituelle Leute wollen nicht glauben, sondern wissen" ist eine seiner bekannten Aussagen, die ihm von Seiten der Kirchen einigen Ärger eingebracht haben. Denn es geht ihm ausschließlich um eine säkulare Spiritualität, praktiziert als ein Erkenntnisprojekt, in dem wir lernen, radikal ehrlich mit uns selbst zu sein. Achtsamkeitspraxis ist für ihn "eine elementare Kulturtechnik wie Lesen oder Schreiben".
Nehmt Euch 48 Minuten Zeit, um diesen grundlegenden Vortrag zu hören.
Klug, fundiert, wichtig - und ziemlich nüchtern, nicht wahr? Nach diesem Vortrag stürzen sich vermutlich die Menschen nicht scharenweise in die Meditationshäuser, um endlich mit dieser wunderbaren Praxis anzufangen. Deshalb eine kleine, nicht unwesentliche Ergänzung aus meiner vierzigjährigen Sicht als Praktizierende und Lehrende.
Viele Menschen wenden sich der Meditation zu, weil sie ihren Stress abbauen, ruhiger und gesünder werden wollen. Das alles kann Meditation leisten, aber es ist im Grunde nur eine "Nebenwirkung" der Praxis. Metzinger zitiert gern Krishnamurti, dessen messerscharfer Intellekt dem seinen entgegenkommt. Ich durfte Krishnamurti zwei Sommer lang in Saanen in der Schweiz erleben. Ja, er war ein kompromissloser Denker - aber gleichzeitig ein Erleuchteter. Ich verwende bewusst diesen Begriff: Krishnamurti leuchtete. Er strahlte eine unbedingte Liebe aus, die nicht thematisiert wurde und keiner Worte bedurfte, aber jeden Einzelnen in dem riesigen Zelt nicht nur berührte, sondern nachhaltig verwandelte. Dasselbe habe ich bei Thich Nhat Hanh erlebt und später bei Adyashanti. Das Erwachen (ein Begriff, den ich bevorzuge) zu unserem Wahren Wesen ist immer mit Glückseligkeit und dem Gefühl tiefer Liebe für alles Seiende verbunden. Man muss das wenigstens einmal erlebt haben, um zu verstehen, in welch einem trostlosen Geisteszustand wir in unserem Alltag verharren.
Es sind nur wenige Menschen, denen es vergönnt ist, unablässig im erwachten Zustand zu verweilen. Man findet sie eher in Indien als bei uns; die westliche Lebensweise bietet keine gute Basis für das Aufrechterhalten dieses Zustands. Aber jeder und jedem von uns ist es möglich, immer wieder erneut einen Durchbruch zu erleben in die Glückseligkeit, Stille und Weite unseres Wahren Wesens. Ich weiß das aus eigener Erfahrung und habe es viele Male bei Teilnehmern in meinen Retreats erlebt. Mit jeder erneuten Berührung verändern wir uns auf eine so grundlegende Weise, wie wir uns das vorher nie vorstellen konnten; eine Veränderung, die anhält, auch wenn der Zustand der Glückseligkeit allmählich wieder dem Alltagsbewusstsein weicht.
Wenn ich dies einmal erlebt habe, stellt sich mir die Frage nicht mehr, ob meine Praxis wertvoll ist für die Gesellschaft. In der Verbundenheit gibt es keine "Gesellschaft" mehr. Da sind nur Wesen menschlicher und nicht-menschlicher Art, auf die mein Wahres Wesen seine Glückseligkeit, Stille, Weite und Liebe ausstrahlt. Und jede Handlung, zu der ich dann vielleicht inspiriert werde, wird heilsam sein.
Das ist der eigentliche Sinn jeder Meditationspraxis.