Freitag, 4. Oktober 2024

Geh deinen eigenen Weg!

 

 

Einst lebte in Polen der für seine Weisheit berühmte Rabbi Hafez Hayyim. Eines Tages besuchte ihn ein amerikanischer Tourist, der mit dem Rabbi über die großen spirituellen Fragen sprechen wollte: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, und was ist die beste Art zu leben. Der Amerikaner betrat ein winziges Haus, in dem sich außer etlichen Büchern nur ein Tisch und eine Bank befanden. "Aber Rabbi!" rief der Mann. "Wo sind denn Ihre Möbel?" "Wo sind denn Ihre?" fragte Hafez Hayyim. "Meine?" sagte der Mann. "Ich bin doch nur auf der Durchreise." "Das bin ich auch", sagte der Rabbi.

Wir glauben, ein Ziel zu haben. Das Ziel heißt "morgen" oder "nächstes Jahr", es heißt "ein neuer Job", "ein neues Haus". Sobald wir ein Ziel erreicht haben, stellt sich heraus, dass es nur eine Etappe war auf unserem Weg, der immer weitergeht. Vielleicht sind die Ziele gar nicht so wichtig, vielleicht ist der Weg selbst viel wichtiger? Und ist es wirklich "dein eigener" Weg oder folgst Du den Geboten und Verboten, die andere Dir wie Steine auf den Weg gelegt haben?

Es gibt noch ein paar Plätze in meinem Seminar

Den eigenen Weg gehen

17. - 20. Oktober 2024

Waldhof Freiburg

Weitere Informationen und die Anmeldung findest Du hier (klick)
 
Ich würde mich freuen, Dich zu sehen.
 
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Freitag, 27. September 2024

Eine heilsame Zukunft erschaffen

 

"Wir sind oft so fokussiert auf einen Plan oder ein Ziel, dass wir unser Eingebundensein in den großen Weltzusammenhang vergessen. Alles Seiende verändert sich unablässig aufgrund von zahllosen miteinander vernetzten Bedingungen, und die Veränderungen geschehen nicht schön geordnet nacheinander, sodass wir in Ruhe darüber nachdenken können, sondern gleichzeitig. Unser lineares Denken aber kann diese Gleichzeitigkeit nicht erfassen. Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard sagt: „Da wir intuitiv von Linearität ausgehen, missverstehen wir die komplexen Dynamiken ökonomischer und ökologischer Systeme und halten an der Illusion fest, wir könnten deren Zukunft vorhersagen und damit kontrollieren.“ 

Geht es nicht bei all unseren Bemühungen, die Zukunft zu unseren Gunsten zu manipulieren, um Kontrolle? Das Bedürfnis nach Kontrolle entsteht aus dem Wunsch nach Sicherheit, und die Tatsache der unablässigen Veränderung verunsichert uns verständlicherweise sehr. Wie viele teure und überflüssige Versicherungen werden deshalb abgeschlossen, Eheverträge werden juristisch wasserdicht ausgeklügelt. Aber weil das alles ja nicht hilft gegen die Angst vor der Unsicherheit, verschließen wir unsere Herzen und lassen andere Menschen und neue Erfahrungen nur nach genauester Prüfung hinein. Wir vergessen so leicht, dass auch wir eingebunden sind in das Ganze, wie scheinbar klein auch unser Spielraum sein mag. Wir nutzen das Kostbarste nicht, das wir haben: unsere Fähigkeit, Mitschöpfer einer heilsamen Zukunft zu sein. "

Wie wir eine heilsame Zukunft erschaffen können, lest ihr in meinem Beitrag für die Ursache\Wirkung "Die Zukunft ist bereits da" hier (klick).

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Sonntag, 22. September 2024

Das Leben einer Schriftstellerin

 

Hin und wieder wird mir eine Art ehrenamtlicher Tätigkeit angeboten (übrigens habe ich bereits eine) mit den Worten: "Du hast doch Zeit, du kannst das machen." Im Erdgeschoss meines Hauses wohnte vor Jahren eine Frau (hauptberufliche Hausfrau), die verlangte, ich solle den gesamten Hausputz, der von den Mietern abwechselnd geleistet wird, übernehmen: "Ich habe keine Zeit dafür, aber Sie haben ja nichts zu tun." Nachdem ihr Mann, mein Stiefvater, gestorben war, verlangte meine Mutter von mir, zurückzukehren in meinen Heimatort (13.000 Einwohner), um mit ihr zu leben. Ich wohnte seit Jahren in München, hatte bereits ein paar Bücher veröffentlicht und meinen ersten Literaturpreis erhalten und bekam von ihr wöchentlich Ausschnitte aus der örtlichen Zeitung, in denen Autowerkstätten und kleine Handwerksbetriebe eine "Stenotypistin" suchten: "Hier findest du Arbeit. In München hast du ja keine und gehst vor die Hunde."
 
Ich kenne Schriftsteller-Kollegen und -Kolleginnen, die sich einen Büroraum gemietet haben, weil sie mit einem Büro endlich ernst genommen werden: Sie haben für alle sichtbar "Arbeit".
 
Ja, was tut eine Schriftstellerin bloß den ganzen Tag. Guckt aus dem Fenster, kaut am Bleistift? Macht sich einen Kaffee, surft im Internet? Manchmal sieht man sie - um zwei Uhr nachmittags! - über die Felder gehen. Mit der Kamera. Was hat Fotografieren mit Schreiben zu tun? (Sehr viel. Inzwischen gibt es sogar zwei Foto-Text-Bücher.) 
 
Also bitte: Wann arbeitet die denn!
 
Wäre ich Musikerin, würde man wenigstens was hören von mir. Wäre ich Malerin, würde ich vielleicht in farbbeklecksten Hosen herumlaufen. Aber die Stille, in der eine Autorin lebt, weckt Misstrauen. Wir sind wie die Katzen, die sich lautlos durch die Welt bewegen und in ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit alles bemerken, was um sie herum geschieht. Denen traut man auch nicht über den Weg.
 
Ich habe mal meine vierzehn Bücher samt Übersetzungen aufgebaut, aber in jeweils nur der ersten Auflage. Nicht fotografierbar: Dutzende Künstlerische Features aus dreißig Jahren, zwischen dreißig und neunzig Minuten lang. Essays, Artikel, Rezensionen, Kolumnen, Übersetzungen. 
 
Das Leben einer Schriftstellerin: Jeden Tag am Schreibtisch sitzen, ab sieben, spätestens acht Uhr. Und ich meine: JEDEN Tag. Der Sonntag ist der beste Arbeitstag. Schön ruhig und niemand klingelt, um mir einen Sack Kartoffeln oder eine Mitgliedschaft bei Wem-auch-immer zu verkaufen.
 
Würde ich den Beruf noch einmal wählen? Ja, das würde ich. Für eine Person, die Stille, das Alleinsein und die Feinheiten der Sprache über alles liebt, ist es der ideale Beruf. 

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Sonntag, 15. September 2024

Danish String Quartet

 


Der Herbst ist da, es regnet, es stürmt. Da brauchen wir dringend Energie. Ich habe vier fabelhafte Wikinger gefunden, mit denen könnten wir uns ums Feuer setzen. Na gut, es ist nur eine Lampe im Studio, aber was die vier Jungs auf ihren Saiten entfesseln! Die sitzen da so lässig herum in ihren Hemden, aber das täuscht: Zusammen sind sie weltberühmt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Rune Tonsgaard Sørensen: violin, harmonium. Frederik Øland: violin. Asbjørn Nørgaard: viola. Fredrik Schøyen Sjölin: violoncello. Zusammen: The Danish String Quartet.

Hier mit einem Traditional: Shine You no More.

Habt noch einen schönen Sonntag.

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Dienstag, 10. September 2024

Gedichte lehren zu leben


Gedichte raus, weg mit ihnen, überflüssiges Zeug ...?


Eine entfernte Bekannte fragte mich einmal, ob ich ihr ein paar gute Bücher empfehlen könne, sie läse gern. Ich fragte, welches Genre sie bevorzuge: Romane, Erzählungen, Gedichte ... Sie unterbrach mich und sagte geradezu mit Verachtung in der Stimme: "Um Himmels willen, bloß keine Gedichte! Das Zeug kann ich nicht lesen."

Der baden-württembergische Schüler-Beirat hat vor ein paar Tagen einen Brief u. a. an Landeskultusministerin Schopper geschrieben. Die jungen Leute kritisieren die schlechte Unterrichtsausstattung und die steigenden Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer außerhalb der Schulstunden. Aber vor allem der Lehrplan stört: "In der Schule erhalten wir veralteten Unterricht, mit überholten Unterrichtskonzepten und aus der Zeit gefallenen Inhalten."

Das klingt erst einmal vernünftig. Schule muss mit der Zeit gehen und auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen eingehen. Aber was meinen die Schülerinnen und Schüler nun konkret? Ich zitiere hier Tagesschau online, weil man das im Original lesen muss:

"Als Beispiel für veralteten Unterricht nannte der Vorsitzende des Landesschülerbeirats, Joshua Meisel, den Deutschunterricht. 'Die Analyse von Gedichten ist etwas, das vielen Schülerinnen und Schülern aufstößt', sagte er. Diese sei für den Alltag der Schüler nicht relevant und sollte weniger intensiv behandelt werden. 'Stattdessen sollte man Inhalte integrieren, die man dringender braucht', sagte Meisel. So wäre aus Sicht des Schülervertreters ein stärkerer Fokus auf argumentatives Schreiben sinnvoll - auch um Fake News und Populismus besser erkennen zu können."

Es geht hier also um die Analyse von Gedichten, aber da ein Gedicht eben keine Argumente bietet, sondern ein künstlerischer Ausdruck von Wahrnehmungen, Gedanken und Erfahrungen ist, muss man diese besondere künstlerische Form erst mal lesen lernen. Da findet das Wesentliche nämlich nicht im Wort statt, sondern zwischen den Worten: In dem scheinbaren Leerraum, in dem Satz-Melodien vibrieren und ein Rhythmus weiterschwingt, sodass sich das Gebilde namens Gedicht in den Geist der Leserin einnistet und sich erst in ihm wahrhaft entfaltet.

Wird das im Deutsch-Unterricht nicht gelehrt? Dann ist der Unterricht wirklich für die Tonne. Aber ich kenne etliche engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die sich ganz bestimmt darum bemühen, Verständnis für Gedichte zu wecken. Ihr Schülerinnen und Schüler findet, dass das subtile Drehen und Wenden der sparsamen Worte in einem Gedicht für euer Leben nicht relevant ist? Das sehe ich aber ganz anders.

Wenn ihr glaubt, die Wahrheit über eine Behauptung zu kennen, weil ihr "argumentatives Schreiben" studiert habt, irrt ihr euch. Ihr werdet keinen Populisten und keine Fake News damit entlarven. Ein kluger Kopf reicht da nicht aus; er muss ausbalanciert werden durch einen klaren Blick, der Lügen durchschaut, und ein Herz, das fähig ist zur Empathie, und dieses wiederum wird geschult durch die zahllosen Schwierigkeiten und Schmerzen, die das Leben euch zufügt. 

Jene entfernte Bekannte war eine Frau, die, sagen wir mal, nicht durch besondere Feinfühligkeit auffiel. Sie verkündete gern Urteile, die sie für die Wahrheit hielt. Ich wunderte mich also nicht, dass sie mit Gedichten nichts anfangen konnte. Andererseits: Hätte man ihr rechtzeitig auf inspirierende Weise den Umgang mit Gedichten beigebracht, hätte sie das vielleicht anders geprägt.

Gedichte zu lesen heißt, leben zu lernen. Denn, noch einmal: das Wesentliche in einem Gedicht findet zwischen den Zeilen statt, wo das Wesentliche, also die Wahrheit, immer zu finden ist. In der Begegnung zwischen zwei Menschen, in der Pause zwischen zwei Sätzen, im Blick, in der wortlosen Geste. Wenn ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, die Menschen, mit denen ihr zu tun habt, nur nach ihren Worten einschätzt, werdet ihr - und damit die ganze Gesellschaft - sehr bald ein Problem haben. 

Und vor allem hättet ihr ein Problem mit eurem Liebesleben. Vorsicht, hier kommt ein Gedicht. Von Kurt Tucholsky - und den braucht man nicht einmal zu analysieren, um ihn zu verstehen:

Er war nicht der Mann für dieses Wesen.
Sie war ein Buch. Er könnt es nicht lesen.
Was dann zwischen Liebenden vor sich geht,
ist eine leere Formalität.

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Donnerstag, 5. September 2024

Seminar in Freiburg


Einst lebte in Polen der für seine Weisheit berühmte Rabbi Hafez Hayyim. Eines Tages besuchte ihn ein amerikanischer Tourist, der mit dem Rabbi über die großen spirituellen Fragen sprechen wollte: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, und was ist die beste Art zu leben. Der Amerikaner betrat ein winziges Haus, in dem sich außer etlichen Büchern nur ein Tisch und eine Bank befanden. "Aber Rabbi!" rief der Mann. "Wo sind denn Ihre Möbel?" "Wo sind denn Ihre?" fragte Hafez Hayyim. "Meine?" sagte der Mann. "Ich bin doch nur auf der Durchreise." "Das bin ich auch", sagte der Rabbi.

Wir glauben, ein Ziel zu haben. Das Ziel heißt "morgen" oder "nächstes Jahr", es heißt "ein neuer Job", "ein neues Haus". Sobald wir ein Ziel erreicht haben, stellt sich heraus, dass es nur eine Etappe war auf unserem Weg, der immer weitergeht. Vielleicht sind die Ziele gar nicht so wichtig, vielleicht ist der Weg selbst viel wichtiger? Und ist es wirklich "dein eigener" Weg oder folgst Du den Geboten und Verboten, die andere Dir wie Steine auf den Weg gelegt haben?

Ich lade Dich herzlich ein zum Seminar

Den eigenen Weg gehen

17. - 20. Oktober 2024

Waldhof Freiburg

Weitere Informationen und die Anmeldung findest Du hier (klick)

Ich würde mich freuen, Dich im Oktober im Waldhof zu sehen.

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Sonntag, 1. September 2024

Das Leben ist ein vorübergehender Zustand


Obwohl ich die Sendung "Sternstunde Philosophie" eigentlich regelmäßig anschaue, ist mir dieses Gespräch mit der Schriftstellerin Gabriele von Arnim entgangen. Am Freitag Abend entdeckte ich es, und am Samstag Mittag schrieb mir ein Freund eine Mail mit der dringenden Empfehlung, es anzuschauen. (Ich liebe Synchronizitäten!) Es ist ein Gespräch über Schmerz, Verlust, Überforderung und Liebe. Sehr aufrichtig, sehr tiefgehend. Schaut euch das Gespräch an, es lohnt sich.



Nachdem ich den Film gesehen hatte, fiel mir auf, dass ich euch das Buch, von dem im Gespräch die Rede ist, nie vorgestellt habe. Meine Besprechung ihres darauf folgenden Buches "Der Trost der Schönheit" findet ihr hier (klick).

"Das Leben ist ein vorübergehender Zustand". Zu einer solchen Erkenntnis kommt man vielleicht erst, wenn das, was man immer für selbstverständlich gehalten hatte, nicht mehr möglich ist. Der Mann von Gabriele von Arnim hat einen Schlaganfall am Abend des Tages, an dem sie ihm gesagt hat, dass sie mit ihm nicht mehr leben kann. Einen Mann in hilfloser Lage kann sie nicht mehr verlassen. Was sie da noch nicht weiß: Er wird zehn Jahre lang ein Pflegefall sein, ein Mann, der weder gehen noch sprechen kann. 

Sie brauchte Jahre, um nach seinem Tod über diese Zeit zu schreiben, und sie tut es mit einer manchmal erschreckenden, aber faszinierenden und berührenden Aufrichtigkeit. Berichtet von Schuldgefühlen, Verzweiflung und Überforderung und sagt: "Ich war wie zerfleddert". Und doch ist dies ein Buch der Liebe, Fürsorglichkeit und des Trostes. Wir alle erleben ja immer wieder kleine und große Verluste, und ich meine, dieses Buch ist ein guter Begleiter durch eine solche Zeit, eben weil es keine Ratschläge erteilt und keine Lehren anzubieten hat.

"Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" gibt es jetzt als Taschenbuch bei Rowohlt. Eine Lese-Empfehlung von mir.

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Samstag, 24. August 2024

I Feel the Earth Whisper


"Black Forest", aus "Waldeinsamkeit"


Die Natur ist bedroht, ihr Feind ist der Mensch. Wir wissen das, wir hören und lesen es jeden Tag in den Medien. Warum haben all diese Statistiken, Mahnungen und Aufrufe so wenig Erfolg? Weil sie abstrakt bleiben; Zahlen und Drohungen erreichen unser Gefühl nicht. Wir brauchen Appelle, die unmittelbar unsere Sinne ansprechen. Mit anderen Worten: Wir brauchen die Künstler.

Im Frieder Burda Museum in Baden-Baden habe ich die schöne Ausstellung "I Feel the Earth Whisper" gesehen. Die beiden Künstler, die mir am besten gefallen haben, stelle ich euch hier vor.

Der Amerikaner Sam Falls hat seinen Raum "Waldeinsamkeit" genannt. Was geschieht im Wald, wenn wir ihn in Ruhe lassen? Er hat im Schwarzwald eine riesige Leinwand ausgelegt, sie mit Blumen, Gräsern und Zweigen bestückt und mit natürlichen Pigmenten bestreut. Licht, Sonne und Regen arbeiteten an der Leinwand, "fotografierten" die Objekte und schufen das Bild, das ihr oben seht. Es ist nicht nur atemberaubend schön, es macht auch nachdenklich, denn es erzählt von der Vergänglichkeit. Wir sehen nicht die Objekte selbst, wir sehen das, was sie beim Sterben hinterlassen haben. Es gibt sie nicht mehr, und doch haben sie einen "bleibenden Eindruck" hinterlassen. Und so ist die Arbeit von Sam Falls (es gibt noch mehr Bilder und Skulpturen von ihm zu sehen) ganz nebenbei und ohne dies zu thematisieren spirituell. 




Der zweite Künstler der ausgestellten vier, der mir Freude gemacht hat, ist der Brasilianer Ernesto Neto. Sein Beitrag für die Ausstellung "The Birth of Contemporous Blue Tree" in der dreizehn Meter hohen Eingangshalle war in ihrer schieren Größe, der Lebendigkeit und Farbenfreude für mich unmöglich zu fotografieren. Neto hat ein Zelt erschaffen, einen "Raum der Harmonie und Heilung", dessen Mittelpunkt eine monumentale Baum-Skulptur aus handgehäkelten brasilianischen Baumwollstoffen ist. An ihr und um sie herum hängen ebenfalls gehäkelte Körbe, die mit duftenden Kräutern und Gewürzen gefüllt sind.



"Zeitgenössische Kunst will über die Oberfläche hinausgehen", schreibt Neto. "Sie strebt nach Transparenz, Einheit in der Vielfalt, sie ist naturgemäß symbiotisch. Sie achtet Zerbrechlichkeit, sie will die Welt mit sorgsamer Aufmerksamkeit und Liebe berühren. Sie weiß, dass Poesie hier ist, jetzt, im stillen Gesang unseres Atmens."



Der Raum hat eine unglaublich warme, bergende Qualität. Umhäkelte Meditationskissen laden dazu ein, sich niederzulassen. Trommeln, Flöten und Klangschalen liegen herum, auch mein Lieblings-Instrument, die Handpan, die hier zu spielen ich euch aber nicht empfehle. Es ist so eine billige Pfanne aus dem Online-Versand, und die Umhäkelung tut ein Übriges dazu, den Sound zu ersticken.

Aber wie schön zu sehen, dass die Menschen die Einladung zum Mitmachen annehmen. Sie probieren die Instrumente aus, riechen an den Kräuterkörben und sind glücklich, dass man endlich in einer Ausstellung mal was anfassen darf. Als ich ging, fiel eine Kindergruppe ein, im wahrsten Sinne des Wortes, und verwandelte das Zelt mit Trommeln, Flöten und Klangschalen in eine schamanistische Zeremonien-Hütte. Und ich sah: Genau so ist dieses Kunstwerk gedacht, so hat Neto es sich vorgestellt. Als einen Raum der Begegnung, der Freude, des Spiels.

Der Vollständigkeit halber seien die beiden von mir nicht vorgestellten Künstler/innen erwähnt: Bianca Bondi und Julian Charrière. Die Ausstellung ist noch bis 3. November zu sehen. Alle Informationen hier (klick)  Ein Audio im SWR über die Vorbereitungen hier (klick) 

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Sonntag, 18. August 2024

Das Ende des Wartens


An einer Haltestelle hat was zu halten. Ein Bus, ein Taxi, ein Freund, den wir gerufen haben, weil der Bus voll besetzt vorbeigefahren ist. Auf das, was da halten wird, warten wir. Ungeduldig. Wann kommt er denn? Wann denn endlich? (Schon zwei Minuten überfällig!)

Weg, bloß weg. Das ist ja der Charakter des Wartens: Wir sind an einem Ort, an dem wir eigentlich nicht sein wollen. Wir haben hier nichts verloren und suchen auch nichts. Dieser Ort ist eine unangenehme Zwischenstation zu unserem Ziel, das irgendwo dort hinten, dort drüben, dort oben liegt: im Später, im Anderswo. 

Der Nahverkehr ist auch nicht mehr das, was er mal war. Die sollen endlich wieder fähige Logistiker einstellen, die für durchgehende Verbindungen sorgen. Wo sind diese Leute abgeblieben? Nach Corona ins Home Office verschwunden, wie das Gastro-Personal? Wahrscheinlich ist der Busfahrer schuld. Plaudert mit allen, die bar ihr Ticket bezahlen, und überhaupt, diese Barzahler! Senioren natürlich. Die sollen zu Hause bleiben, wenn sie mit der Fairtiq App nicht klarkommen. 

Was ist das für ein Ort, an dem unsere Erwartungen an den örtlichen Nahverkehr wieder einmal und erwartungsgemäß enttäuscht werden? Wir haben keine Ahnung. Er interessiert uns nicht, wir haben ihn uns nicht ausgesucht. Ist er hübsch, hässlich, bunt, fröhlich, langweilig? Wir schauen auf die Uhr. (Schon drei Minuten überfällig!)

Man kann sich auf allerlei sinnbefreite Art die Zeit an einem Wartehäuschen vertreiben.

Meine Lieblings-Haltestelle liegt auf 900 m in der Bergwiese. Ich war ziemlich außer Atem, als ich sie erreichte. Im weiteren Verlauf verengt sich der Höhenweg zu einem steinigen Pfad, den Wanderer nur hintereinander erklimmen können. An dieser Haltestelle hält kein Bus mehr, aber die Wanderin hält an, um innezuhalten. Hier zeigt das Thema Warten eine neue Facette. Es erweist sich als das, was es auch im Tal ist: eine im Grunde überflüssige und kraftzehrende Haltung.

Ich setze mich ins Gras. Da sind Bienen, Käfer, der Klang der Mittagsglocken aus dem Unterdorf. Sogar der Sommer ist da, obwohl er in diesem Jahr so lange auf sich warten ließ. (Zwei Monate überfällig!) Ich packe mein Picknick aus. Ein kleiner Wind fingert am Butterbrotpapier herum. Aah, Kuhglocken! Und irgendwo muss ein Esel sein, oder ist das doch eine Tür, die in rostigen Angeln schwingt?

Während wir warten, verpassen wir die einzige Zeit, die es gibt: diesen Augenblick mit allem, was er um uns herum bereithält. Wir sehen, hören, riechen ihn nicht, uns entgehen seine Farben, seine Formen. Und was uns vor allem entgeht, ist die heitere Leichtigkeit, die uns der Augenblick schenkt, wenn wir ihn nicht mit Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen ausblenden. 

Bienen also, Käfer, Glocken aller Art. Mir fällt wirklich nichts ein, auf das ich hier warten könnte. 

Es ist einfach schon alles da.

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Samstag, 10. August 2024

Staunen & wertschätzen

 

Ich habe kürzlich einen Post darüber geschrieben, dass ich immer häufiger sage "Ich weiß es nicht". Leider ist dies keine gute Zeit für das Nicht-Wissen (schrieb ich), denn die Menschen sehnen sich nach Gewissheiten, und die werden auch zuverlässig vom rechten politischen Rand bedient. Wer es nachlesen möchte: hier (klick).

Heute aber preise ich das Nicht-Wissen, diesen wunderbaren Zustand, in dem unser Geist leer ist von allem, was wir gelernt haben, was man uns eingetrichtert hat, was wir auf keinen Fall vergessen wollen, weil man uns gesagt hat, dass wir es nicht vergessen dürfen. Im Zustand des Nicht-Wissens haben wir sogar uns selbst vergessen, unsere Sorgen, unsere Pläne, unsere Grübeleien über die Zukunft (unsere Sehnsucht nach Gewissheiten ...). Fangen wir bescheiden an, üben wir das Nicht-Wissen erst einmal für zehn Minuten. (Zehn Minuten können sehr lang sein. 😉) 

Im japanischen Zen gibt es den Ausdruck shoshin. Er bezeichnet den "Geist des Anfängers", der jeden Moment wie zum ersten Mal wahrnimmt, auch wenn der Moment ihm etwas präsentiert, was er scheinbar schon hundert Mal gesehen hat. Das aber ist ein Irrtum. Da alles mit allem verbunden ist und jede Veränderung im Ganzen Veränderungen in jeder Einzelheit verursacht, ist jeder Moment neu, anders, und nur der Geist, der im Nicht-Wissen verweilt, nimmt die feinen Nuancen der Veränderung wahr. 

Henry David Thoreau versuchte sich in allerlei Berufen. Er war Lehrer, Landvermesser und kurzzeitig sogar Fabrikant. Nach diesen kurzen Ausflügen in die Welt der Erwerbstätigen zog er sich 1845 in eine selbst gezimmerte Hütte an den Walden Pond in den Wäldern Massachusetts zurück: "Ich zog in die Wälder, weil ich bewusst leben, mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens auseinandersetzen und zusehen wollte, ob ich das lernen konnte, was es mich zu lehren hatte. Ich wollte nicht auf dem Sterbebett einsehen müssen, dass ich nicht wirklich gelebt hatte." In den folgenden zwei Jahren wanderte er durch die Wälder, lauschte dem Sturm und dem Regen auf dem Dach und schrieb seine Tagebücher, die zu Lebzeiten kein Mensch kaufen wollte und die heute zur Weltliteratur gehören.

Thoreau war ein Meister des Nicht-Wissens: "Erst wenn wir all unser Wissen vergessen, beginnen wir, etwas zu wissen. Wenn du die Farne kennenlernen willst, musst du deine Botanik vergessen. Du musst deine sogenannten Kenntnisse über sie loswerden. Du musst dir bewusst sein, dass kein Ding deiner Vorstellung von ihm entspricht. Dein Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich."

Müssen wir also jahrelang meditieren oder Achtsamkeit praktizieren, um in den seligen Zustand des Nicht-Wissens zu kommen? Nein: Unser Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich. Dieser Zustand ist das Staunen.

Staunen über das, was ich sehe, höre, rieche, schmecke. Ich habe mein Wissen darüber vergessen. Es ist ohnehin ganz neu, denn so hat es noch nie ausgesehen, geklungen, gerochen, geschmeckt. Wenn ich staune, verweile ich im Nicht-Wissen. Ich gebe kein Urteil ab, ich vergleiche nicht, ich belege meine Wahrnehmung nicht einmal mit einem Namen, also einem Etikett. Der Name bezeichnet das, was ich schon kenne. Das hier aber kenne ich nicht.

Staunen ist untrennbar verbunden mit Wertschätzung. Vielleicht stelle ich nach ein paar Sekunden oder Minuten fest, dass mir das, was ich wahrnehme, nicht recht gefällt. Kein Problem, dann gefällt es mir eben nicht. Wertschätzung bezieht sich nicht auf den Wert, den der Moment für mich hat. Sie feiert vielmehr den Moment selbst in seinen zahlreichen Facetten, sie feiert seine Lebendigkeit, die überraschende, erstaunliche Vielfalt des Lebens. 

Als ich meinen Salatkopf aus dem Hofladen entblätterte, staunte ich nicht schlecht. Er war bewohnt. Na sowas. Das Leben ist voller Überraschungen.

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