Mittwoch, 17. Juli 2024

Die Qual der Wahl


Nach welchen Kriterien triffst du deine wichtigen Entscheidungen?

Sagen wir mal, du hast endlich den Job deiner Träume gefunden. Sehr gut bezahlt, voller Möglichkeiten, dich kreativ zu betätigen, beste Aufstiegschancen. Allerdings lebst du in Berlin und müsstest beispielsweise in die Lüneburger Heide umziehen (tolle Firmen sitzen inzwischen oft auf dem Land). Dein Partner, deine Partnerin muss/will aber in Berlin bleiben. 

Wahrscheinlich besprichst du das Thema mit allen, die dir nahestehen. Der Vater rät zu (Karriere!), die Mutter und Freundin Hanna raten ab (Beziehung ist wichtiger als Karriere!). Du machst eine Liste mit dem Pro und dem Kontra, und beide Seiten sind gleich lang. Du bist so klug wie zuvor, grübelst und schläfst schlecht. Manche Menschen legen in solchen Momenten Tarot-Karten, werfen ein I Ging oder pendeln. Kann man machen, aber natürlich sind all diese Hilfsmittel nicht das, was zu sein sie behaupten: eine Vorhersage der Zukunft. Sie funktionieren vielmehr wie ein Spiegel: Sie zeigen dir dein eigenes tiefes Wissen über die Situation. Um dieses Wissen zu berühren, brauchst du aber keine Karten. Das schöne deutsche Wort un-Mittel-bar weist einen anderen Weg, den direkten.

Wenn ich eine schwierige Entscheidung treffen muss, setze ich mich auf mein Kissen und meditiere. So entsteht in meinem Geist ein weiter Raum der Stille und Leere, in dem sich jetzt eine andere, die wichtigste, Instanz zu Wort melden kann: mein Wahres Selbst, die Quelle, der Ursprung alles Seienden, das Göttliche - du kannst es aber auch ganz einfach Intuition nennen. Intuition ist kein Gefühl. Ihre Stimme ist leise, aber überzeugend, und sie zu hören erfordert Geduld. Die Antwort kommt in einem Bild, einem Satz, einer Ahnung, einer Gewissheit - und oft später und nebenbei, vielleicht wenn ich gerade koche, dusche oder mit jemandem im Gespräch bin. Ich halte inne und weiß: Das ist es. So mache ich es.

Nun weiß ich aber, dass nicht jede und jeder so viel Meditationserfahrung hat wie ich. Und ich weiß auch, dass manchmal die überzeugendste Antwort hinterher begrübelt und dadurch zum Verstummen gebracht wird. Gibt es denn eine Möglichkeit, durch Denken zu der besten Antwort zu gelangen?

Die amerikanische Philosophin Laurie A. Paul lehrt an der Yale University. Bei ihr habe ich diesbezüglich einen sehr guten Satz gelesen. Sie schlägt die Frage vor: 

"Will ich herausfinden, wie mich diese Entscheidung verändert?" 

Die Frage ist deshalb so gut, weil sie etwas klarmacht, was wir gern übersehen: Jede Entscheidung verändert uns. Wir wissen nicht, wie wir uns einfügen werden in die neue Firma, wir wissen nicht, wie man uns empfangen wird, ob wir zufrieden sein werden und ob die Fernbeziehung halten wird. Aber auch die Entscheidung, alles beim Alten zu belassen, verändert uns. Selbst wenn wir in unserem Beispiel in Berlin und im alten Job und in der gewohnten Beziehungsform bleiben, hat es das tolle Angebot und unsere Absage gegeben. Wir sind nicht mehr die, die wir waren, bevor das Angebot kam. Weil uns jeder Schritt, den wir unternehmen, verändert, können wir vorher nie mit Bestimmtheit sagen: Dies ist richtig, dies falsch.

Die Frage dagegen eröffnet uns einen Raum, der jenseits von Richtig und Falsch ist. In diesem Raum lebt die Neugier auf das, was wir sein könnten und noch nicht sind, aber vielleicht sein werden - durch diese Entscheidung, egal, ob dafür oder dagegen.

(Hier wird es eine kleine Sommerpause geben. Wir hören und lesen uns wieder, auf jeden Fall.)

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Samstag, 13. Juli 2024

Steffen Diemer, Fotograf der Stille

 


Zwanzig Jahre reiste der Fotoreporter Steffen Diemer durch die Krisengebiete der Welt und dokumentierte Krieg und Gewalt für Magazine wie Der Spiegel und National Geographic. Dann wurde vor seinen Augen ein Mensch, der ihm wichtig war, erschossen, und Steffen Diemer zog sich zurück nach Landau in die Pfalz. Bis heute versucht er, Geist und Seele von dem, was er gesehen und erlebt hat, zu heilen, und er tut das so, wie es alle Künstler tun: Er arbeitet in seinem Metier.

Als er nicht mehr wusste, wie es mit der Fotografie für ihn weitergehen sollte, trat eine uralte Technik in sein Leben: das Nassplatten-Kollodium-Verfahren. Eine anspruchsvolle Technik, die volle Konzentration erfordert - und sehr viel Zeit braucht, mitunter pro Arbeit drei Wochen. Denn jedes Motiv will genau gesehen und verstanden werden. Minimalistische Bilder entstehen, und jedes Bild gibt es nur ein Mal: Ein Zweig, eine Blüte, ein Stück Gemüse, zumeist auf schwarzem Glas und oft gerahmt auf antiken Stoffen. Es verwundert nicht, zu hören, dass Diemer fast vier Jahre in Japan gelebt hat.

In diesem berührenden Dokumentarfilm begleiten wir Steffen Diemer durch seine Arbeitstage. Gänge durch die Landschaft, heimkommen mit einem Zweig; warten mit der Uhr in der Hand, um den exakt richtigen Zeitpunkt für das Ende der Belichtung abzupassen. Und wir hören - und sehen - einem Künstler beim Nachdenken und schmerzhaften Erinnern zu.

Ein Film, der Stille, Ruhe, Schönheit und Trauer ausstrahlt. Große Empfehlung.

Für alle, deren Browser youtube-Videos nicht wiedergeben: hier entlang (klick)

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Dienstag, 9. Juli 2024

Im Rücken der Statuen



IM RÜCKEN DER STATUEN

da ist Gesicht.

Leg deine Hand auf den Stein
deine Hand hört die Zeit
das Unendliche spricht
in vergessener Sprache

Wir nennen sie: Verfall

Margrit Irgang


ALLE SPALLE DELLE STATUE

é li il viso.

Posa la tua mano sulla pietra
la tua mano ode il tempo
l'infinito parla
una lingua dimenticata

Noi la chiamiamo: dissoluzione

Margrit Irgang
(Trad.: Simona Venuti)


Als ich vor vielen Jahren für ein sorgloses Jahr in der Villa Massimo in Rom lebte, der deutschen Residenz für bildende Künstler, Komponisten und Schriftsteller (und ja, alle in weiblicher und männlicher Gestalt), begann ich zu fotografieren. In der Jahresausstellung der Villa zeigte ich auf einer großen Wand meine vergrößerten Schwarz-Weiß-Fotos und die Gedichte, auf Deutsch und, übersetzt von Simona, auch auf Italienisch.

Eine immer noch wichtige Arbeit über Veränderung und das, was bleibt. Denn nichts vergeht, es wechselt nur seine Gestalt.

Daran sollten wir uns gerade jetzt ab und an erinnern.

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Mittwoch, 3. Juli 2024

Kategorische Urteile

 

Als ich jung war, wusste ich noch genau, was richtig ist und was falsch. Also welche Schuhe zu welchem Outfit zu tragen sind oder wie man ein bestimmtes Getränk richtig zubereitet und trinkt (mit oder ohne Strohhalm oder aus der Flasche). Alles andere war, um es im heutigen Sprachgebrauch auszudrücken, ein No-Go. Mit zunehmendem Alter weiß ich immer weniger; mir erscheint das Leben in seiner Gesamtheit eher unüberschaubar und uneindeutig. Jedes Phänomen, das sich zeigt, ist auf zumeist nicht nachvollziehbare Weise verknotet mit anderen Phänomenen. Mir fällt auf, dass ich auf Fragen immer häufer antworte: "Ich weiß es nicht." Mir fällt auch auf, wie befreiend sich das für mich anfühlt. Ich muss nicht auf alles eine Antwort haben (tatsächlich nehmen die Fragen für mich im selben Maß zu, wie die Antworten abnehmen).

Nun ist dies aber keine gute Zeit für das Nicht-Wissen. Die Weltlage ist prekär und, ich sagte es bereits, unübersichtlich. An allen Ecken und Enden kann jederzeit etwas explodieren, und wegen der allseitigen Verwobenheit ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nicht nur die betreffende Ecke, sondern ein umfangreiches Ganzes dabei in die Luft fliegt.

Deshalb ist allenthalben die Sehnsucht nach klaren Urteilen groß. Wenn man zu wissen glaubt, was richtig ist und was falsch, kann man sich zumindest in seiner privaten Welt einigermaßen sicher fühlen. In allen Ländern gewinnen jene Parteien zunehmend an Einfluss, die kategorische und angeblich alternativlose "Wahrheiten" verkünden. Darüber wundern oder empören sich, je nach Temperament, viele Menschen. Ich wundere mich nicht, denn ich bin unterwegs. Im Supermarkt, in der Post, im Straßenverkehr. In der Welt der kategorisch verkündeten kleinen und ganz alltäglichen "Wahrheiten".

Obst-Abteilung im Edeka, ein Samstagmittag im Februar. Eine Kundin dreht unschlüssig ein winziges Schälchen Erdbeeren (aus Marokko) in der Hand und entschließt sich zum Kauf. Neben ihr ein Ehepaar in meinem Alter, das die sportliche Methode der Rüge beherrscht: Man wirft seine Bemerkung einem darauf eingespielten Partner zu, der sie im vorher berechneten Winkel zurückspielt auf die Person, der sie gilt. Die Frau, empört: "Erdbeeren im Winter, teuer eingeflogen - so was sollte verboten werden." Der Mann pariert: "Jawohl, kein Mensch braucht Erdbeeren im Winter." Die Erdbeer-Käuferin hat einen Anflug von Röte im Gesicht und flieht. Sie hätte in den Einkaufskorb der Tadlerin blicken sollen. In ihm hätte sie ein Netz Orangen gesehen (aus Spanien).

In meiner Stadt Freiburg fährt man Rad. Sogar der Oberbürgermeister zeigt sich auf Instagram beim morgendlichen Anradeln ins Rathaus. Autos sollen, so das Ziel der Stadtverwaltung, aus dem Stadtverkehr verbannt werden. Das finde ich gut. Leider ist der öffentliche Nahverkehr im Umland noch nicht so ganz in die Idee eingeweiht, er hinkt buchstäblich der Verkehrswende hinterher. Wer schön grün und draußen wohnt (wie ich), muss gelegentlich für ansonsten schwer erreichbare Ziele zu ungünstigen Zeiten sein Auto nutzen.

Ich stehe an der roten Ampel, neben mir hält ein Radfahrer. Plötzlich ein markerschütternder Krach: Der Mann hat seine Faust auf mein Autodach gedonnert. Jetzt springt die Ampel auf Gelb, und er spurtet los. Setzt sich direkt vor mich, obwohl rechts ein breiter, eigens angelegter Radweg mitläuft, bremst ab und beginnt, in der Mitte der einspurigen Straße gemütlich dahinzugondeln. Mit 20, wie mein Tacho verrät. Er fährt genüsslich und lang. In dieser Stadt ist er der Gute, und falls etwas passieren sollte zwischen seinen zwei Rädern und meinen vier, dann hat er vielleicht nicht unbedingt das Recht, aber alle Sympathien auf seiner Seite.

In dieser von mir sehr geliebten Stadt hat es das "Anti-Luxus-Kollektiv" auf Autos größerer Bauart abgesehen, vorzugsweise SUV. Sie ziehen nachts in kleinen Gruppen durch die besseren Viertel, schrauben die Ventilkappen der Reifen ab, drücken eine Linse hinein - ja, eine gewöhnliche Speiselinse, die kleinen grünen eignen sich gut -, schrauben die Kappen wieder auf, und während sie sich aus dem Staub machen, entweicht langsam die Luft aus den Reifen. Vor ein paar Tagen waren sie wieder unterwegs, nach eigenen Angaben haben sie an die 200 Autos fahrunfähig gemacht. In der Presse äußern sich aufgebrachte Wagenbesitzer, und ich sehe, dass es den einen oder anderen guten Grund gibt, in der Stadt ein schweres Auto mit hohem Einstieg zu fahren. Die hundertprozentig gehbehinderte alte Dame zum Beispiel hat einen; ihr Wagen, der für Notfälle einsatzbereit sein muss, stand auf dem Behindertenparkplatz, ihr Ausweis lag hinter der Windschutzscheibe. Oder der Arzt, der seine Patienten bei Hausbesuchen betreut und mehrere Pflegeheime anfährt, jeweils mit Koffern schwerer medizinischer Geräte.

Diese beiden wie die anderen fanden ein Flugblatt an der Windschutzscheibe vor, in dem ihnen vorgeworfen wurde, einen "verbrecherischen Luxus-Konsum" zu pflegen und einen "Angeber-Schlitten" zu fahren: "Deshalb haben wir uns gezwungen gesehen, Ihren Luxuskarren zu entwaffnen."

Jetzt habe ich neue Fragen. Zum Beispiel diese: Wie wäre es, die Ereignisse in der "großen Politik" als Spiegel zu sehen für unsere kleinen alltäglichen kategorischen Urteile, die keinen Schimmer von Verständnis und Mitgefühl zeigen? Wie wäre es, in diesen Urteilen unsere Sehnsucht nach Gewissheiten zu erkennen und diese Sehnsucht zu spüren als das, was sie ist: ein fragiler Zustand, in dem wir uns ausgesetzt und hilflos fühlen? Was wäre, wenn wir erkennen würden, dass unsere kategorischen Urteile über andere uns zumindest vorübergehend das trügerische Gefühl der Macht und Stärke verleihen, das uns weder trägt noch nährt? Wie wäre es, zu erkennen, dass die Ereignisse in der "großen Politik" nicht nur ein Spiegel für uns sind, sondern ihren Ausgangspunkt an unseren Küchentischen und am Gemüsestand des Supermarkts haben? Weil - oh, wie wäre es, dieses Weil zu erkennen - wir mit jedem unserer kleinen gnadenlosen Urteile entsprechende Nervenbahnen in unserem Gehirn gestärkt und gekräftigt haben, sodass irgendwann, in einer Wahlkabine oder auf einer Demonstration oder einfach in der Begegnung mit einem Passanten, der nicht so aussieht wie wir, die Nervenbahnen ganz automatisch und autonom reagieren mit einem Verhalten, das diesen Nerven und uns sehr vertraut ist, denn wir haben es in vielen kleinen scheinbar unbedeutenden Momenten eingeübt?

Wie wäre das?
 

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Freitag, 28. Juni 2024

Retreat in Bayern



Wenn Du in ein Retreat gehst, gönnst Du Dir eine Auszeit. Du lässt den Alltag mit seinen Pflichten und kleinen und großen Problemen hinter Dir und fährst an einen Ort, der Dich nährt und Dir Kraft gibt, damit Du gestärkt in Deinen Alltag zurückkehren kannst. Solch ein Ort ist das Intersein-Zentrum im Bayerischen Wald, in dem ich im Juli wieder mein jährliches Retreat gebe. Und diesmal zu einem besonderen Thema:

20. - 24. Juli 2024

Erwecke deine schöpferische Kraft

Intersein-Zentrum, Hohenau

Mehr Informationen und Anmeldung hier (klick)

Keine Sorge, Du brauchst kein akademisch anerkanntes künstlerisches Talent, um Dich schöpferisch auszudrücken. Dein ganz eigener Beitrag zu einer lebenswerten, leuchtenden Welt könnte ein Garten sein, ein Produkt, ein Projekt. Oder - und das ist vielleicht der größte Wunsch - Du möchtest Dich selbst zu einem Menschen machen, der inspiriert ist und andere inspiriert.   

Schöpferische Kraft kommt aus der Quelle des Seins, die auch in uns ist. Thich Nhat Hanh hat sie "dein Wahres Selbst" genannt. Die Achtsamkeits-Praxis hilft Dir, den Weg frei zu machen zu der leisen Stimme, mit der Dein Wahres Selbst spricht. Wenn Du die Impulse und Ideen, die sie Dir schenkt, zulässt, wird Dein Leben magisch werden. 

In meinem Retreat im Intersein-Zentrum möchte ich mich mit Dir auf die Reise zu Deiner Schöpferkraft machen. Ist sie dasselbe wie die allseits geforderte "Kreativität"? Nein, ganz und gar nicht - aber was ist der Unterschied und was zeichnet wahres Schöpfertum aus? Wir werden es gemeinsam herausfinden.

Ich würde mich freuen, Dich in Hohenau zu sehen.

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Freitag, 21. Juni 2024

Die Sonne wendet sich

 

Ein Feuerchen, das den Feen den Weg zu uns weist ...


Heute feiern wir den längsten Tag, also den höchsten Stand der Sonne. Und wenn wir noch eine klitzekleine innere Verbindung zu den alten Bräuchen unserer Vorfahren haben, entzünden wir ein großes Feuer und springen mutig darüber. Denn unsere Ahnen, die Kelten, glaubten, dass am Tag des höchsten Sonnenstandes die Feen der Menschenwelt ganz nahe kommen. Und damit sie sich den Menschen furchtlos nähern und von ihnen bemerkt werden konnten, mussten vorher die bösen Geister in der Aura der Menschen im Feuer verbrannt werden. 

Für unsere Vorfahren war die Sommersonnwende ein Fest der Freude und des Dankes an die Natur, die sie so üppig beschenkt hat. Sie sammelten die Sommerkräuter, die jetzt ihre höchste Kraft haben: Holunder, Johanniskraut, Arnika, Beifuß, Ringelblume und Schafgarbe. Auch das Kräuterbüschel wurde kurz ins Feuer gehalten, um ihm die Feuerkraft mitzugeben. Dann wurde es im Haus an den Balken gehängt und getrocknet, um im Winter zu heilendem Tee aufgegossen zu werden.

Und wir? Leider haben wir vergessen, das Licht zu feiern, als es seinem Höhepunkt zustrebte. Wir hätten genügend Zeit gehabt, immerhin sechs Monate lang. Aber wir waren zu beschäftigt mit Dingen allerhöchster Dringlichkeit, und außerdem hat es ja dauernd geregnet. Und jetzt - ja, heute Nacht, man fasst es nicht - beginnt sie schon, die dunkle Zeit. Ach was, eigentlich ist sie schon da, jedenfalls in unserem Gefühl und unseren mürrischen Mienen: diese schreckliche Düsternis, die Kälte, die uns in die Knochen kriecht. Wir frieren uns schon mal ein.

Aber es ist nicht zu spät, sie alle zu feiern, die wir zu lange als selbstverständlich hingenommen haben: die Himbeeren, Erdbeeren, den Spargel und Rhabarber, den Schnittlauch und die Petersilie, die Mohnblumen, Ringelblumen, Margeriten, die Gräser und Bäume, die Bienen und Wespen und Schmetterlinge. Wir feiern die Fülle, mit der die Natur uns beschenkt, einfach so, und unser Einsatz war nicht mehr als ein wenig Gießen, Düngen und Umgraben (oder ein paar Euro für den Bauern im Hofladen).

Übrigens: Erst in dem Moment, in dem die Sonne im Jahreslauf am Niedersinken ist, beginnt das große Reifen in der Natur. Erst in den kommenden Wochen röten sich die Himbeeren, werden die Johannisbeeren süß, duftet betörend der Jasmin. Die Rosensträucher biegen sich unter der Last der Blüten, wie es bald auch die Apfel- und Birnbäume tun werden, von den Rebstöcken ganz zu schweigen.

Vielleicht sollte man sich das mal merken: Erst wenn die Lebensbahn sich dem Ende zuneigt, beginnt die eigentliche Ernte.

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Mittwoch, 19. Juni 2024

Wie Hochsensible die Welt wahrnehmen


Das Thema Hochsensibilität wird von den Medien immer öfter aufgegriffen, und ich bin jedes Mal glücklich, wenn diese Persönlichkeits-Eigenschaft, mit der ich selbst lebe, auf seriöse Weise dargestellt wird. Hochsensible - ich bevorzuge allerdings den Begriff Hochsensitive - haben ein hoch erregbares Nervensystem, das auf Reize schneller und intensiver reagiert als das von Nicht-Hochsensitiven. Wir vertragen im Allgemeinen keinen Lärm und andere grelle Sinnesreize, und ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt oder der Hauptbahnhof in der Ferienzeit ist für uns eine Herausforderung. Weil Hochsensitive viel allein sein müssen, um ihre Energien wieder aufzuladen, werden sie leider oft mit Autisten verwechselt. Wir sind aber geradezu das Gegenteil. Während ein Autist Mühe hat, die Gefühlsregungen anderer Menschen nachzuvollziehen, lesen wir jede Regung im anderen, reagieren auf jede kleinste Geste und schwingen uns empathisch in unsere Mitmenschen ein. Wobei wir leider oft vergessen, unsere Grenzen zu wahren, und uns damit heillos überfordern.

3sat hat jetzt einen besonders guten und fundierten Film vom ORF übernommen: "Wie Hochsensible die Welt wahrnehmen".

Interviewt werden Hochsensible aus allen Lebensbereichen: Eine Managerin, eine Beraterin, eine Musikerin, ein Künstler, eine Lehrerin, eine Schauspielerin und sogar ein Polizeidirektor. Wie nehmen sie die Welt wahr, wie leben sie? Philipp Yorck Herzberg, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, bringt das Wesentliche auf den Punkt: "Die Kunst ist, die Nische zu suchen, die zur eigenen Persönlichkeit passt."

Jede und jeder zeigt in diesem Film das Symbol, das für ihn oder sie Hochsensibilität an besten repräsentiert. Wir sehen etliche Schmetterlinge, Muschel, Mimose, Meeres-Schildkröte, Bonsai und sogar einen Drachen. Ich verrate euch mein Symbol: Es ist die Katze. Wer je mit einer Katze gelebt hat, weiß: Sie sieht und hört alles, auch wenn sie scheinbar schläft. Sie hat ungeheuer feine Antennen für die Gedanken und Gefühle des Menschen, der ihr begegnet, und lässt sich durch keine netten Worte und kein Lächeln täuschen. Als Symbol für meine Hochsensibilität habe ich sie vor allem deshalb ausgewählt, weil sie wie ich eine Einzelgängerin ist, die Menschenmassen meidet, sich anderen nur sporadisch anschließt und am liebsten alleine und in der Stille auf leisen Pfoten ihrer Wege geht.

Der Film ist bis Mitte August in der 3sat-Mediathek zu sehen und lohnt das Anschauen (auch für Nicht-Hochsensible!): Hier (klick)

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Mittwoch, 12. Juni 2024

Die Liebeserklärung


 

"Am Zeitungsstand im Supermarkt standen die Leser bei ihrer kostenlosen Morgenlektüre. Auch der kleine Junge war da, der damals in meinem Viertel wohnte. Er blätterte in einem Comic-Heft. Die Frau, die zu ihm gehörte, las eine der bunten Illustrierten. Der Junge war ein Sonnenschein, der allen Menschen zulächelte. Ich lungerte in der Kosmetikabteilung herum, um mich von dem Kind noch ein wenig bescheinen zu lassen.

Der Kleine, der auf dem Boden kniete, sah zu der Frau auf. Von seinem Blickwinkel aus sah er zweifellos kein Gesicht, sondern eine Illustrierte mit Beinen. Schmeichelnd fragte er: 'Oma?' Die Frau überflog die Affären der Prominenz. Länger als zehn Minuten konnte sie das kaum tun, sonst hätte sie die Zeitschrift kaufen müssen. 'Oma', sagte der Junge, 'ich möchte dir was sagen.' Die Frau blätterte. 'Oma', sagte das Kind, 'ich hab dich lieb.'

Die Frau gab einen routiniert klingenden Laut von sich, ein seit Jahrhunderten bewährtes „Hmm“, das aufdringliche Kinder abwimmelt. Etwas aber musste durch das Papier gesickert sein, eine Energie, die sich zwischen Seitensprüngen und Scheidungsgerüchten hindurchgeschlängelt hatte. Verwirrt hielt die Frau im Lesen inne und schaute sich um auf der Suche nach dem, was da in ihr Leben gekommen war. Unter ihr wendete sich der Junge befriedigt wieder dem Comic zu. Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte. Die Frau sah ratlos die Illustrierte an, schlug sie enttäuscht zu und stellte sie zurück ins Regal."

Die Welt ist voll von nicht empfangenen Liebeserklärungen. Pass auf, dass Du die an Dich gerichteten nicht verpasst.




Dies ist der Beginn meines Essays "Schönheit liegt im Detail" aus der Ursache\Wirkung 116. Wie geht die Geschichte weiter? Das liest Du hier (klick)

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Donnerstag, 6. Juni 2024

Die Natur ist beseelt

 


Als ich das erste Mal in Plum Village war, sah ich mit Überraschung, dass die Nonnen Bäume umarmten. Auf diese Idee war ich bis dahin nicht gekommen, aber da es als eine Praxis betrachtet wurde, suchte auch ich mir einen Baum aus, der mich ansprach. Er hatte eine glatte Rinde und war so schlank, dass meine Arme ihn umfassen konnten. Welch eine Überraschung: Ich umarmte ein lebendes Wesen. Es pulsierte, es atmete, und ich atmete mit ihm.

Das war Anfang der 1990er Jahre, und ich traute mich nicht, über diese Erfahrung zu schreiben. Ich galt sowieso als eine Romantikerin, die eine "animistische Weltsicht" vertrat. Aber wie schnell haben sich doch die Ansichten geändert. Man darf heute sagen, dass die Natur beseelt ist, ohne seine Reputation in der akademischen Welt zu verlieren. Einer, der das auf sympathische und kluge Weise tut, ist der Biologe und Philosoph Andreas Weber.

In diesem Interview mit Olivia Röllin in der Sendung des Schweizer Fernsehens "Sternstunde Religion" spricht er davon, dass das Weltbild der Dualität an sein Ende gekommen ist. Den Begriff "Natur", der die Vorstellung eines Gegenübers erzeugt, ersetzt er durch "lebendige Wirklichkeit". Unsere Interaktion mit dieser Wirklichkeit ist ein "Prozess der gegenseitigen Durchdringung, die Individuen gebiert, die sich nach Entfaltung sehnen und dadurch auf andere Individuen angewiesen sind".

"Wir müssen wieder lernen, zu denken wie ein Berg", sagt er. Immer wieder radelt er in den Grunewald zu "seiner" Eiche, die er als eine Mentorin bezeichnet. Ich wünsche mir, dass viele Menschen dieses halbstündige Interview anschauen und vielleicht einen ganz neuen Zugang finden zu der lebendigen Wirklichkeit, von der wir alle ein Teil sind. Weber fasst seine Weltsicht in dem schönen Satz zusammen: "Gaia - die lebende Welt - ist ein Akteur geworden und hat eine politische Stimme. Sie antwortet uns, und wir können mit ihr Bündnisse schließen."

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Samstag, 1. Juni 2024

Werkbegegnung: Zur Sprache bringen



 "Werkbegegnung Pusteblume". 😊 Links: A.B., Zeichnung. Rechts: M.I., Fotografie.

 

Wenn Du zufällig in der Nähe von Schwäbisch Gmünd/Aalen lebst, sei herzlich eingeladen zu einem besonderen Event: einer Werkbegegnung von Kunst und Literatur mit meinem Künstler-Freund Alfred Bast und mir. 

 

"Zur Sprache bringen" - Dichtung, Kunst und Bilder
Lesung und Gespräch

16. Juni 2024, 14.30 Uhr
Kunstraum Hohenstadt


Abtsgmünder Straße 5
73453 Abtsgmünd-Hohenstadt

 

Was Dich erwartet? Wir wissen es selbst noch nicht. Alfred und ich sind neugierig und folgen weder in unserer Arbeit noch in unserem Leben festen Vorstellungen, Erwartungen oder Überzeugungen. Wir sind mehr daran interessiert, mit offenen Sinnen wahrzunehmen, was um uns herum geschieht. Uns von der sich unablässig verändernden Natur und den Begegnungen mit Menschen inspirieren und berühren zu lassen. Und das Empfangene setzen wir dann um - in Bilder, in Skulpturen, in Sprache, in Sprach-Bilder.

Es wird also um Wahrnehmung gehen, um Farben und Formen und Rhythmus und Klang, um Sehen und Lauschen, um Begegnung und Austausch. Wie Alfred sagt: "Kommunikation ist das Herz der Kunst".

Alfred und ich haben schon etliche Projekte miteinander realisiert. Sein Werk finde ich sehr inspirierend. Schau mal hier auf seine Website (klick).

Ich würde mich freuen, Dich in Hohenstadt zu sehen.

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