Dienstag, 10. September 2024

Gedichte lehren zu leben


Gedichte raus, weg mit ihnen, überflüssiges Zeug ...?


Eine entfernte Bekannte fragte mich einmal, ob ich ihr ein paar gute Bücher empfehlen könne, sie läse gern. Ich fragte, welches Genre sie bevorzuge: Romane, Erzählungen, Gedichte ... Sie unterbrach mich und sagte geradezu mit Verachtung in der Stimme: "Um Himmels willen, bloß keine Gedichte! Das Zeug kann ich nicht lesen."

Der baden-württembergische Schüler-Beirat hat vor ein paar Tagen einen Brief u. a. an Landeskultusministerin Schopper geschrieben. Die jungen Leute kritisieren die schlechte Unterrichtsausstattung und die steigenden Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer außerhalb der Schulstunden. Aber vor allem der Lehrplan stört: "In der Schule erhalten wir veralteten Unterricht, mit überholten Unterrichtskonzepten und aus der Zeit gefallenen Inhalten."

Das klingt erst einmal vernünftig. Schule muss mit der Zeit gehen und auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen eingehen. Aber was meinen die Schülerinnen und Schüler nun konkret? Ich zitiere hier Tagesschau online, weil man das im Original lesen muss:

"Als Beispiel für veralteten Unterricht nannte der Vorsitzende des Landesschülerbeirats, Joshua Meisel, den Deutschunterricht. 'Die Analyse von Gedichten ist etwas, das vielen Schülerinnen und Schülern aufstößt', sagte er. Diese sei für den Alltag der Schüler nicht relevant und sollte weniger intensiv behandelt werden. 'Stattdessen sollte man Inhalte integrieren, die man dringender braucht', sagte Meisel. So wäre aus Sicht des Schülervertreters ein stärkerer Fokus auf argumentatives Schreiben sinnvoll - auch um Fake News und Populismus besser erkennen zu können."

Es geht hier also um die Analyse von Gedichten, aber da ein Gedicht eben keine Argumente bietet, sondern ein künstlerischer Ausdruck von Wahrnehmungen, Gedanken und Erfahrungen ist, muss man diese besondere künstlerische Form erst mal lesen lernen. Da findet das Wesentliche nämlich nicht im Wort statt, sondern zwischen den Worten: In dem scheinbaren Leerraum, in dem Satz-Melodien vibrieren und ein Rhythmus weiterschwingt, sodass sich das Gebilde namens Gedicht in den Geist der Leserin einnistet und sich erst in ihm wahrhaft entfaltet.

Wird das im Deutsch-Unterricht nicht gelehrt? Dann ist der Unterricht wirklich für die Tonne. Aber ich kenne etliche engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die sich ganz bestimmt darum bemühen, Verständnis für Gedichte zu wecken. Ihr Schülerinnen und Schüler findet, dass das subtile Drehen und Wenden der sparsamen Worte in einem Gedicht für euer Leben nicht relevant ist? Das sehe ich aber ganz anders.

Wenn ihr glaubt, die Wahrheit über eine Behauptung zu kennen, weil ihr "argumentatives Schreiben" studiert habt, irrt ihr euch. Ihr werdet keinen Populisten und keine Fake News damit entlarven. Ein kluger Kopf reicht da nicht aus; er muss ausbalanciert werden durch einen klaren Blick, der Lügen durchschaut, und ein Herz, das fähig ist zur Empathie, und dieses wiederum wird geschult durch die zahllosen Schwierigkeiten und Schmerzen, die das Leben euch zufügt. 

Jene entfernte Bekannte war eine Frau, die, sagen wir mal, nicht durch besondere Feinfühligkeit auffiel. Sie verkündete gern Urteile, die sie für die Wahrheit hielt. Ich wunderte mich also nicht, dass sie mit Gedichten nichts anfangen konnte. Andererseits: Hätte man ihr rechtzeitig auf inspirierende Weise den Umgang mit Gedichten beigebracht, hätte sie das vielleicht anders geprägt.

Gedichte zu lesen heißt, leben zu lernen. Denn, noch einmal: das Wesentliche in einem Gedicht findet zwischen den Zeilen statt, wo das Wesentliche, also die Wahrheit, immer zu finden ist. In der Begegnung zwischen zwei Menschen, in der Pause zwischen zwei Sätzen, im Blick, in der wortlosen Geste. Wenn ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, die Menschen, mit denen ihr zu tun habt, nur nach ihren Worten einschätzt, werdet ihr - und damit die ganze Gesellschaft - sehr bald ein Problem haben. 

Und vor allem hättet ihr ein Problem mit eurem Liebesleben. Vorsicht, hier kommt ein Gedicht. Von Kurt Tucholsky - und den braucht man nicht einmal zu analysieren, um ihn zu verstehen:

Er war nicht der Mann für dieses Wesen.
Sie war ein Buch. Er könnt es nicht lesen.
Was dann zwischen Liebenden vor sich geht,
ist eine leere Formalität.

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1 Kommentar:

  1. Gedichte, nachdem ich als Kind/junger Teenager meine ersten eigenen verfasst hatte und tief beschämt wurde, haben mich sehr lange auch nicht mehr interessiert.
    Erst jetzt, mit fast 60, finde ich in ihnen Trost und Seelennahrung. Ich freue mich darüber, dass es anderen gelingt etwas auszudrücken wofür ich einfach keine Worte finde.
    Danke liebe Margrit! Gedichte zu lesen, heißt leben zu lernen 🤍

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