Mittwoch, 30. September 2020

Corona als Zen-Meister, oder: Lob des Nicht-Wissens

Ein Leben im Zen ist eine Art Tanz: die mühelose Übereinstimmung mit dem Rhythmus des Universums. Nichts, was sich im Augenblick ereignet, wird  als unerwünscht zurückgewiesen; nichts, was sich nicht zeigt, wird ersehnt oder erzwungen. Alles wird hellwach als das erkannt, was es ist, wird akzeptiert und auf kreative, ganz persönliche Weise beantwortet. 

Wer im Zen lebt, steht sich selbst nicht mehr im Weg.

Corona ist ein Zen-Meister. Er zieht uns den Boden unter unseren liebgewordenen Gewohnheiten weg und interessiert sich nicht für unsere egozentrischen Hoffnungen und Pläne. Unsere Urlaubssehnsucht und der Wunsch nach Konzerten und Fußballspielen ist ihm herzlich egal. Ihm geht es, wie allen Meistern, ums Grundsätzliche: Er bringt uns bei, was Nicht-Wissen bedeutet.

Eigentlich hätten wir das längst lernen können. (Vielleicht ist der Meister auch deshalb auf den Plan getreten. Es wurde endlich Zeit für uns.) Das Nicht-Wissen war seit jeher unser stiller Begleiter; es folgte uns wie ein Schatten, düster und bedrohlich. Wir hatten uns angewöhnt, den Begleiter zu ignorieren. Wer will schon ständig mit dem Nicht-Wissen unterwegs sein. Da müsste man ja vor jedem Schritt zögern, ängstlich in jede Toreinfahrt spähen, und ob man überhaupt noch eine Straße betreten könnte, ist fraglich, käme man doch vielleicht morgens nicht mehr aus dem Bett, weil man nicht einmal wüsste, was man zum Frühstück essen möchte, geschweige denn, warum man wohin unterwegs sein sollte.

Und die ganze Zeit war das Nicht-Wissen unser wahrer Schatz.

Wussten wir, als wir uns für die Party zurechtmachten, dass wir in einer Stunde unserem künftigen Partner begegnen würden? Dass wir unseren Arbeitsplatz verlieren, unser Land verlassen und eine große Familie haben würden, obwohl wir alleine bleiben wollten? Wie gut, dass wir keine Ahnung von all dem hatten. Wahrscheinlich hätten wir mit unseren Grübeleien über Gefahren und Belohnungen das Ganze gründlich vermasselt. Wir hatten aber keine Gelegenheit zum Grübeln; das Leben nahm unser Leben in die Hand. 

Und so standen wir im Februar unvorbereitet vor diesem Ereignis namens Corona und machten uns - jede und jeder auf eigene Weise - daran, Antworten darauf zu finden.

 

Der englische Religionswissenschaftler Alan Watts, der sich viel mit Zen und dem Tao befasst hat, schrieb: "Letzten Endes müssen wir aus einer Quelle heraus, die jenseits all unseres Wissens und Im-Griff-Habens liegt, handeln und denken, leben und sterben. Gelingt uns das nicht, dann können wir noch so sehr sorgen und zögern, in uns hineinschauen und unsere Motive überprüfen, es wird uns nicht viel helfen. Daher sind wir ohne Rücksicht darauf, was am Ende herauskommt, zu einer Wahl gezwungen: entweder angstvoll gelähmt zu bleiben oder einen herzhaften Sprung in die Tat zu wagen."

Die meisten von uns wagen jetzt den Tanz mit den Energien des Universums, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Anfangs fühlt es sich mühsam an. Das Nicht-Wissen scheint wie ein Nebel zu sein, und wir hätten gerne den vollen Durchblick. Aber wir wissen nicht, was der Winter uns bringen wird. Weitere Einschränkungen, persönliche Verluste, oder ein ganz neues Lebensgefühl - eins, das ohne die Schwere des Grübelns auskommt, das Leichtigkeit hat und beflügelt?

Auf die Frage, was das Zen sei, sagte ein alter Meister unwirsch zum Schüler: "Geh weiter!" Alan Watts bemerkt dazu: "Die Anweisung, ohne Hintergedanken zu handeln, ist keineswegs bloß ein Rezept, an das wir uns oberflächlich halten können. In Wirklichkeit ist man zu dieser Art von Handeln erst fähig, wenn man begriffen hat, dass man gar keine Alternative dazu hat, und wenn man erfasst hat, dass man selbst das Unbekannte und nicht in den Griff zu Bekommende ist."

Das ist es, was Zen-Meister Corona lehren will: Du selbst bist ein großes Geheimnis. Vergiss alle Vorstellungen, die du von dir selbst hast. Lass dich ein auf das, was der Augenblick dir präsentiert, und antworte darauf ohne Zögern und Grübeln. Sei mutig und kreativ. 

Vielleicht wirst du überrascht sein über das, was du über dich herausfindest.


Samstag, 19. September 2020

Ma 間 - "Der Raum schreibt mit"


Ma: Der Moment zwischen Bienenanflug und -abflug, wenn der Raum noch von der Flügelbewegung schwingt.

Meine Zen-Praxis begann vor siebenunddreißig Jahren mit einer Schulung im "Weg des Pinsels", der Kalligrafie, dem sho-do. Damals lernte ich das japanische Prinzip des Ma kennen. In der Kalligrafie geht es nicht nur darum, das Zeichen korrekt und schön aufs Papier zu setzen. Das Papier selbst muss zum Leben erweckt werden, denn erst im Zusammenspiel der schwarzen Tusche mit dem weißen Untergrund entsteht die kraftvolle Spannung, die eine Kalligrafie auszeichnet. Ich wollte mir Ma in meine eigene Sprache übersetzen und sagte zu meinem Lehrer: "Der Raum schreibt mit?" Er stutzte,  lachte und rief: "Ja, ja, schreibt mit!"

Das Kanji für Ma 間 zeigt ein Tor, zwischen dessen Latten die Sonne (ursprünglich der Mond) hindurchscheint. Ma ist der scheinbar leere, tatsächlich aber belebte Raum, der die Dinge umgibt; mehr noch: Er ist der Grund aller Erscheinungen. Ma ist die Lücke zwischen den Trittsteinen, die zum Teehaus führen und den Schritt des Gastes lenken und verlangsamen. Es ist der Raum zwischen den drei Elementen in einem Ikebana-Gesteck, der die Pflanzen erst zur Wirkung kommen lässt. Es ist die Pause im Gespräch, in der die Gesprächspartner über das Gesagte nachsinnen und Inspirationen empfangen aus Ma.
 
Die japanische Kunst lebt von der dynamischen Balance zwischen Objekt und scheinbar leerem Raum, Aktion und Nichtaktion, Bewegung und Ruhe. Raum und Zeit gehören zusammen; im Japanischen wird Zeit ausgedrückt als "Raum im Fluss".



Ma: die unsichtbare Kraft, die das Sichtbare zur Erscheinung bringt.
 
Im Buddhismus findet das Prinzip Ma seinen höchsten Ausdruck im Begriff der "Leerheit". Im Herz-Sutra heißt es: "Form ist Leerheit, Leerheit ist Form. Form ist nichts anderes als Leerheit, Leerheit nichts anderes als Form". Die höchste Erkenntnis, populär ausgedrückt: das Erwachen, besteht darin, zu sehen, dass alle Phänomene (wir Menschen eingeschlossen) "leer" sind von einem eigenständigen Selbst. Positiv ausgedrückt: Alles ist mit allem verbunden, alles ist bedingt, tritt in Abhängigkeit voneinander in Erscheinung. Der scheinbar unbelebte Raum ist also der Raum der höchsten Potenzialität, aus ihm heraus entstehen alle Formen, in ihn hinein kehren sie irgendwann zurück.

Rabindranath Tagore schrieb: "Ich tauchte in die Tiefe des Ozeans der Formen in der Hoffnung, die perfekte Perle der Formlosigkeit zu gewinnen." Das ist Meditation, die zum Erwachen führt.

Auf jeder Ebene der Seinserfahrung, auch auf der alltäglichsten, ist Ma die Lücke, die Pause, der Moment des Innehaltens, in dem der unsichtbare Raum sich entfalten und äußern darf. Wer das Innehalten übt, beginnt die Sonne zu sehen, wo vorher nur Torlatten waren. 間 Aus der Raum-Zeit-Ebene Ma empfangen die Schamaninnen und Schamanen, die Heilerinnen und Heiler ihre Inspirationen.
 
Jede Form von Poesie drückt Ma aus. Zwischen den Worten eines Gedichts, den Farben und Formen auf einer Leinwand, den Tönen eines Musikstücks lebt Ma - der unendlich belebte Raum, ohne den die Worte, die Formen und Töne keinen Sinn entfalten würden. Oder, wie es der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr ausdrückte: "Es ist ein 'Nichts', das schwingt."

Ma lehrt uns: Im Dazwischen geschieht das Wesentliche, und wir können uns darin schulen, es zu erfahren. Indem wir auf die Lücken zwischen unseren Gedanken achten (der Raum der Stille zwischen dem Geplauder wird mit zunehmender Übung immer länger), Gedichte lesen, meditieren, Musik lauschen. Vielleicht dem passenden schönen Lied von Konstantin Wecker: "Gefrornes Licht".(klick)

Montag, 14. September 2020

Der Sommer, der noch nicht abtreten will

Ein Morgen im September. Über dem Kandel geht die Sonne auf, an einem perlmuttfarbenen Himmel. Seit einer Woche ist keine Wolke zu sehen, makellose Sommertage reihen sich aneinander. Auf Balkonen und Terrassen erblühen noch einmal die Sonnenschirme, die Eiscafés sind überfüllt, in der frühen Abenddunkelheit hört man Gelächter und Gläserklirren aus den Gärten. Ein letztes Mal packen meine Nachbarn die Strandtaschen und fahren mit den Kindern an den Baggersee. Aus weit geöffneten Autofenstern fliegt Musik vorüber. Die Schritte sind rascher geworden, etwas vibriert in der Luft, eine Erregung, die vom Kalender nicht vorgesehen ist: Noch einmal ist Sommer geworden, richtiger, heißer Sommer. Ein Geschenk aus Wärme und Licht ist über dem Land ausgeschüttet worden.

In den Nächten aber macht sich schon der Winter bereit. Er fängt mit seiner Arbeit immer in den Nächten an, für die Nacht reicht die Kraft des Sommers nicht mehr. Er ist müde geworden, der Sommer, seine Arbeit ist getan. Was er jetzt noch leistet, ist der letzte kleine Rest, der Überschuss, der noch nicht für das Keimen, Blühen und Erwärmen verbraucht worden ist. Den Sommer in seiner vollen Kraft hatten wir gar nicht so recht wahrgenommen. Er war uns fast ein wenig lästig geworden mit seinen nicht enden wollenden hellen Abenden, den Mücken und dem Geschrei der Frösche, und die Wohnungen hat er natürlich zu warm gemacht, und die Wiesen hat er versteppt. Aber ein sterbender Sommer, dem der Winter im Nacken sitzt, ist ein anderer Sommer. Einer, der uns ein wenig Schmerz bereitet mit seiner tapferen Widerständigkeit, seiner Weigerung, abzutreten und dem kalten Alten das Land zu überlassen.

Der Winter meines Lebens macht sich bereit in den Nächten, in denen ich liege und auf die Stille lausche. Die Stille in der Vorstadt nachts um drei ist absolut. Die Discobesucher sind heimgekehrt, die Früharbeiter noch nicht aufgebrochen. Die dritte Stunde der Nacht ist der Zustand zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht; ich liege und lausche und weiß, das ist jetzt mein Leben. Nicht mehr jung und noch nicht alt.

Und morgen vielleicht die Sonne über dem Kandel, in diesem späten Sommer, der noch nicht abtreten will.

(Aus: Margrit Irgang "Leuchtende Stille", Herder Verlag)


Montag, 7. September 2020

Apollo5 "Scarborough Fair"


Ein etwas melancholisch gefärbter Montag. Seit Anfang März darf mein Chor (wie alle anderen Chöre) nicht mehr wie gewohnt proben. Gut, wir haben uns auf Zoom gesehen (aber nicht gehört); zur Klavierbegleitung unseres Chorleiters hat jede und jeder im eigenen Wohnzimmer solo vor sich hingesungen. Dreimal haben wir im Sommer zu je sechst im Garten einer Mitsängerin geprobt. Ein Konzert wurde abgesagt, ein geplantes im Herbst gleich gar nicht angekündigt. Das wird so weitergehen, bis in den Winter, vielleicht ins Frühjahr hinein. 

Ich habe gehört, dass die großen Spitzen-Chöre auf Grund dieser langen Probenpause vielleicht nie wieder ihre frühere Qualität erreichen werden. Ein Chor besteht ja nicht einfach aus hübschen Einzelstimmen, die notfalls ihre Stimmbildung selbst übernehmen können. Ein Chor ist ein homogenes Gewebe aus subtil ausbalancierten Klangfarben. 

Unsere Kultur verwelkt still und leise im Hintergrund. Auch das ist ein Grund zum Trauern.

Zum Trost die wunderbaren Apollo5 mit dem Folksong "Scarborough Fair", den ich früher mit meiner kleinen Folkgruppe so oft gesungen habe.

Donnerstag, 3. September 2020

Leicht werden, oder: Weniger ist mehr als genug


Gestern war ich - zum ersten Mal in diesem Jahr - längere Zeit in der Stadt. Ich erledigte ein paar Dinge, dann bummelte ich durch die Gassen. Es war voll. Menschen schoben sich hindurch (zeitweise setzte ich meine Maske auf), in den Straßencafés war kein Platz mehr frei. Aber: die Läden waren zwar gefüllt mit Ware, doch leer von Menschen. Und dann fiel mir auf, dass im Straßenbild die sonst üblichen prallen Einkaufstüten fehlten. 

Wenige Wochen Shutdown haben genügt, um das System der Verführung zum Konsum durch ein ständig nachgeschaufeltes brandneues Angebot zusammenbrechen zu lassen. Unsere Gesellschaft konnte ihre prekäre wirtschaftliche Balance nur so lange aufrechterhalten, wie wir alle bereit waren, uns ständig Neues zuzulegen. Aber die einstmals so schnell Verführten hatten Zeit zum Nachdenken. Zur Besorgnis der Politik und des Handels denken sie offenbar immer noch nach, trotz Mehrwertsteuersenkung. Vielleicht haben sie ja entdeckt, dass sie eigentlich schon alles Notwendige besitzen. Sie haben sogar die Wohnung voll mit Nicht-Notwendigem. Vielleicht haben sie entdeckt, dass auch das ältere Modell von diesem oder jenem Gerät noch gut genug ist. Und dass es Dinge gibt, die man selbst herstellen kann. Ausleihen. Tauschen.

Vielleicht haben auch einige Nachdenkliche entdeckt, dass es sich lohnt, statt billigem Ramsch gute Qualität zu kaufen. Ich mag kleine inhabergeführte Läden, die besondere Dinge anbieten und jetzt die ersten sind, die sterben. Aber gerade dort gibt es schon Initiativen, in denen man sich zusammenschließt, um die Miete zu reduzieren und gleichzeitig einander im Angebot zu ergänzen. Ich liebe Stoffe und Bücher (okay, Bücher ein wenig mehr). Gestern stand ich in Freiburg in der Salzstraße vor der altehrwürdigen Buchhandlung Zum Wetzstein, die sich kreativ neu erfunden hat: Sie residiert an ihrem alten Standort in einer Nische inmitten des (auch sehr edlen) Stoffladens Etoffe & Tessuti, zwischen den Stoffrollen im Eingangsbereich und der ratternden Nähmaschine im hinteren Bereich. Übrigens: in der Buch-Nische drängten sich die Kunden. Der Stoffladen war leer.

Das Konzept der Achtsamkeit beruht vor allem darauf, zwischen einen Reiz und unsere Reaktion darauf einen Raum zu schaffen, in dem der Automatismus ausgeschaltet ist. Das kann man fabelhaft üben bei einem Schaufensterbummel. Oh wie toll, das will ich haben! Innehalten. Pause. Nachdenken. Nachspüren. Dann vielleicht die Erkenntnis: So was Ähnliches habe ich doch schon.

In diesen wenigen Sekunden beruhigt sich der Geist, er zerrt uns nicht mehr hierhin und dorthin. Eine andere Instanz in uns, die fähig ist, den Geist zu beobachten, hat wieder die Macht übernommen. Auch die über unsere Geldausgaben. Wir könnten zum Beispiel das kleine vor dem Ruin stehende Theater durch unseren Besuch unterstützen, das Streichquartett, das Mini-Literaturfestival. Was man von dort mitbringt, beschwert einen nicht mit Einkaufstüten; man kommt nach dem Besuch noch prima drei Treppen hoch.

Kunst erschafft Freiheit und Leichtigkeit im Geist, sie lüftet durch, und Lüften ist in Corona-Zeiten, wie wir inzwischen alle wissen, lebensnotwendig.