Sonntag, 28. Mai 2023

Die Zukunft ist bereits da


"Wir sind oft so fokussiert auf einen Plan oder ein Ziel, dass wir unser Eingebundensein in den großen Weltzusammenhang vergessen. Alles Seiende verändert sich unablässig aufgrund von zahllosen miteinander vernetzten Bedingungen, und die Veränderungen geschehen nicht schön geordnet nacheinander, sodass wir in Ruhe darüber nachdenken können, sondern gleichzeitig. Unser lineares Denken aber kann diese Gleichzeitigkeit nicht erfassen. 

Der buddhistische Mönch Matthieu Ricard sagt: „Da wir intuitiv von Linearität ausgehen, missverstehen wir die komplexen Dynamiken ökonomischer und ökologischer Systeme und halten an der Illusion fest, wir könnten deren Zukunft vorhersagen und damit kontrollieren.“ Geht es nicht bei all unseren Bemühungen, die Zukunft zu unseren Gunsten zu manipulieren, um Kontrolle? Das Bedürfnis nach Kontrolle entsteht aus dem Wunsch nach Sicherheit, und die Tatsache der unablässigen Veränderung verunsichert uns verständlicherweise sehr. Wie viele teure und überflüssige Versicherungen werden deshalb abgeschlossen, Eheverträge werden juristisch wasserdicht ausgeklügelt. Aber weil das alles ja nicht hilft gegen die Angst vor der Unsicherheit, verschließen wir unsere Herzen und lassen andere Menschen und neue Erfahrungen nur nach genauester Prüfung hinein. 

Wir vergessen so leicht, dass auch wir eingebunden sind in das Ganze, wie scheinbar klein auch unser Spielraum sein mag. Wir nutzen das Kostbarste nicht, das wir haben: unsere Fähigkeit, Mitschöpfer einer heilsamen Zukunft zu sein."

Dies ist ein Auszug aus meinem Artikel "Die Zukunft ist bereits da" in der Ursache\Wirkung Nr. 118. Ihr könnt ihn in ganzer Länge jetzt lesen hier (klick)

 


Dienstag, 23. Mai 2023

Eine Frage der Perspektive

 


Ein Grashalm kann mühelos den größten Berg überragen.

Alles eine Frage der Perspektive. 

(Dies ist für Dich, falls Du Dich im Leben eher als fragilen Halm denn als Berg fühlst.)

 


Freitag, 12. Mai 2023

Heimat

 

Heimat

Wo wir die Blumen gezählt haben

Wo uns der Vogelruf der ausbleibt
verstört

Wo die Liebe der Katze pünktlich ist
wie der Hunger
und uns nicht gilt

Wo wir einander nicht grüßen müssen
wenn einer schweigen will

Wo wir gelernt haben:
Was nicht gesehen wird
stirbt

Margrit Irgang

 

Montag, 1. Mai 2023

Tolerieren - oder zulassen?

 Tolerieren? Zulassen? Aussiedeln?

 

Gestern las ich mal wieder Zeitung. Eine Zeitung, irgendeine; die Formulierung, die mir auffiel, ist überall zu finden. In dieser Tageszeitung wurde ich mehrfach aufgefordert, etwas zu tolerieren: die Flüchtlinge, die andere Lebensweise der Flüchtlinge, den Lärm aus der Kneipe, solange er nicht nach zehn Uhr anhält, die Kinder in der Nachbarschaft, gewisse Grenzwerte an Luftverschmutzung und Wasserbelastung ("Ihr Körper kann das tolerieren"). In der Wochenend-Beilage mit den bunt-vermischten Themen empfahl eine Ehe-Beraterin, "die kleinen Eigenheiten des Partners großzügig zu tolerieren".

Ich möchte mit niemandem verpartnert sein, der meine Eigenheiten großzügig toleriert. Ich möchte dem Paar aus Ghana, das weiter unten im Flüchtlingsheim lebt und mit seinen beiden Kleinen auf dem Weg zur Bushaltestelle ist, nicht vermitteln, dass ich es toleriere. Ich möchte auch meinen Körper nicht zur Toleranz ungesunder Verhältnisse erziehen.

Weil die Haltung der Toleranz besagt: Also eigentlich mag ich dich und dies und jenes nicht so recht, eigentlich würde ich mir wünschen, dass du und dies und jenes ganz anders sind (so, wie ich bin und wie ich es gut finde), aber nun ja, ich will großzügig (zeitweise, abschnittsweise, vorerst) über deine Unvollkommenheit hinwegsehen und dich tolerieren.

Toleranz enthält den feinen Hauch der Herablassung. Des Rechthabens. Toleranz ist Trennung: Ich fühle mich getrennt von der Person oder Situation, die Eigenschaften hat, die mir unangenehm sind - aber ich bin auch getrennt von mir selbst, denn das Tolerieren befreit mich keineswegs von dem unbehaglichen Gefühl, das von dem zu Tolerierenden in mir ausgelöst wurde. Toleranz ist Neinsagen. Und das ist nicht das kraftvolle Nein, das wie ein reinigendes Gewitter ist, sondern ein kraftloses Nein, das schwächt.

Neulich bekam ich von Amts wegen die Nachricht, dass ich als Fahrerin meines Pkws bei einer Geschwindigkeitsmessung den Toleranzbereich um zehn Kilometer pro Stunde überschritten hätte. Das war teuer. Auch der Toleranzbereich der meisten Menschen ist nach meiner Erfahrung ziemlich klein, und wenn man ihn überschreitet, bekommt man so richtig Ärger.

Wagen wir das Experiment, die Haltung der Toleranz durch etwas Radikales zu ersetzen: das Zulassen dessen, was anders ist als wir, anders denkt, anders lebt? Das Andere, das so sein darf, wie es ist: bunt, interessant, vielleicht unbegreiflich, vielleicht herausfordernd. Zulassen heißt: die Vielfalt feiern, das Variantenreiche, genau das, was ich nicht bin. Ohne den Wunsch, den anderen und das andere nach meinen Vorstellungen hinzubiegen.

Zulassen ist eine liebevolle Geste. Und weil ich auch mir selbst gegenüber liebevoll bin (ich toleriere mich ja nicht - ich lasse mich zu, mit all meiner Unvollkommenheit), wird das Zulassen nie zur Zumutung. Wer liebevoll mit sich selbst umgeht, definiert klug das, was wichtig und notwendig ist, um das eigene Wohlbefinden zu erhalten, und handelt danach. Da wir ja liebevoll Zulassende sind und im Bewusstsein der Nicht-Trennung leben, wissen wir, dass unsere eigene Freude, Kraft, Zuversicht, Freiheit und unser Frieden unerlässlich sind für die Freude, Kraft, Zuversicht, Freiheit und den Frieden in der Gesellschaft. 

Zulassen ist Jasagen, auch wenn wir manchmal liebevoll Nein sagen müssen.