Sonntag, 30. Oktober 2022

Samhain

 


Das viele Leuchten und letzte Blühen auf den Feldern täuscht: Die Pflanzen haben ihre Kraft jetzt in die Wurzeln zurückgezogen und beginnen, sich auf die Winterruhe vorzubereiten. Samhain, das wichtige Fest der Kelten, an dem sie ihrer Toten gedachten, naht. An Samhain stand für die Kelten die Tür zur "Anderswelt" offen, die Zeit wurde auch die "dünne Zeit" genannt: Die Schleier, die für gewöhnlich unsere Wahrnehmung trüben, wurden als durchlässig angesehen. Manche hörten die Tiere sprechen, andere bekamen Botschaften von Verstorbenen. Es war eine stille Zeit der Einkehr und weit entfernt von "Halloween" und den Klingel-Orgien von Kindern, die nach Süßem schreien.

Mit Samhain begann für die Kelten ein neues Jahr, und dieses neue Jahr hat seine Wurzeln in der Tiefe, im Dunklen. Auch meine Seele sucht die Stille. Etwas in mir zieht sich zurück und braucht Schutz und Umhüllung. Die Seminar-Reisen sind für dieses Jahr beendet. Der Schreibtisch wird in den nächsten Monaten der Ort meiner inneren Reisen sein.

 


Wenn wir so weitermachen wollen wie in den letzten Monaten, verpassen wir den wichtigen Übergang in die andere Zeit. Erst einmal innehalten und schauen: Wie sieht die Natur jetzt aus, was tun die Tiere, was die Bäche und Flüsse? Wächst den Katzen nicht schon das Winterfell? Ja, eine neue Zeit beginnt, es ist unübersehbar, und auch wir müssen uns erneuern. Den Sommerkörper zurückrufen aus seinem Freiluft-Leben und ihm ein Winterfellchen wachsen lassen aus Stille, Gelassenheit, Einfachheit und innerer Ruhe. 

Und all das würdigen, was in den letzten Monaten gestorben ist, konkret und symbolisch. Ein geliebter Mensch vielleicht? Ein Tier, eine Pflanze, die eingegangen ist? Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat? Alles Verstorbene muss erinnert und dann verabschiedet und auf seinen Weg geschickt werden, damit wir frei werden und Raum schaffen für das, was auf uns wartet.




Tief unten in den Wurzeln der Pflanzen bereitet sich das neue Leben vor, das im Februar zur Lichtmesszeit hervorbrechen wird. Auch in uns wird das neue Leben reifen. Drei tiefe, stille und dunkle Monate lang.

 

Mittwoch, 26. Oktober 2022

Die Besucherin


 

Sie kam zu mir in einem Salatkopf. Eingehüllt in Schichten von Blättern, lag sie zusammengerollt ganz unten am Strunk. Eine schöne Art zu reisen, dachte ich, vor allem in dieser Jahreszeit. Welche Geborgenheit. Welche Dunkelheit und Stille in der Tiefe des Salatkopfes, die leichte Feuchtigkeit, die nicht Nässe ist, sondern nährendes Element. Keine meiner Reisen fand bisher auch nur annähernd in etwas statt, das ich mein Element hätte nennen können.

Mein  Messer hatte sie knapp verfehlt, auch sie atmete sichtbar auf. Das sah hübsch aus. Sie fuhr zwei Antennchen mit Knöpfchen an den Enden aus, um mal zu sondieren, in welcher Umgebung sie da gelandet war. Alles sehr hell auf einmal, trockene Atmosphäre, viel Holz und Metalliges, also ihr Element war das nicht. Das schien sie nicht zu stören, sie wurde neugierig. Entfaltete sich zu ganzer Kürze und schob sich sanft und beharrlich über die Landschaft aus Küchengerät, erklomm Löffel und Dosen und balancierte auf der Messerklinge. Was so ziellos aussah, war tatsächlich entschlossene Absicht. Das begriff ich erst, als sie sich auf dem Champignon niederließ. 

Reisen macht hungrig, ich kenne das. Kaum setzt sich der Zug in Bewegung, packe ich meinen Proviant aus, obwohl ich gerade gefrühstückt habe. Sie knusperte und raspelte an meinem Mittagessen mit einer Schnelligkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte. Ich hatte sie nicht direkt eingeladen, mein Mahl mit mir zu teilen, aber ich freute mich über die Gelegenheit, Gastfreundschaft zu zeigen.

Nachdem sie gegessen hatte, wickelte ich sie in ein Salatblatt und brachte sie in Nachbars Garten. Wir sollten das, was uns Freude macht, nicht für uns behalten, sondern mit anderen teilen.


Sonntag, 16. Oktober 2022

Eine Geschichte aus unserer Zeit

  

 Diese Behauptung stammt erkennbar aus einer längst vergangenen Zeit

 

Ich habe eine Geschichte gehört, die so vieles von dem ausdrückt, was uns gerade bedrückt. Eine Freundin von mir hat an einem Yoga-Retreat im Ausland teilgenommen. Gegen Ende der Woche stellte sich heraus, dass eine Teilnehmerin, die dauernd hustete, Covid hatte. Zwei andere hatten sich bereits angesteckt, darunter meine Freundin. Fieber, Schüttelfrost, Gliederschmerzen, das ganze Programm. Aber der Albtraum begann erst, denn die Abreise stand bevor.

Der Leiter des Retreats sagte, er könne die Verantwortung nicht übernehmen, die drei nach Hause fliegen zu lassen, und ordnete Quarantäne im Hotel an. Das verbot der Hotel-Besitzer verständlicherweise vehement. Die drei Infizierten riefen das Krankenhaus an und baten um Aufnahme, was empört abgelehnt wurde. Sie entbanden den Leiter von der Verantwortung und flogen in der bereits vorab gebuchten Maschine nach Deutschland. Dort kamen sie erst nach Mitternacht an, es gingen keine Züge mehr in die diversen Heimatstädte, sodass sie die ebenfalls vorab gebuchten Zimmer in einem Hotel bezogen. Am nächsten Morgen stiegen sie in ihre Züge (Schüttelfrost, Fieber, Gliederschmerzen) und fuhren nach Hause. Und fühlten sich nicht nur körperlich elend.

Eine einzige Person, die erste Infizierte, die sich anfangs weigerte, sich testen zu lassen, hat das ganze Gebilde wie ein Mikado-Haus zusammenfallen lassen. Die eine, auf die es angekommen wäre.

Wir möchten wieder wenigstens zeitweise ins Leben zurückkehren, im Chor singen, Yoga machen, Sport treiben. Endlich wieder mit Menschen zusammensein, nicht nur auf Monitore starren. Aber Menschen sind gefährlich. Diese Geschichte zeigt das Dilemma, in dem wir sind: Wir blenden die Möglichkeit aus, dass uns etwas heimsuchen könnte. Wer will sich ständig vor Menschen schützen und ihnen unter Vorbehalt begegnen. Wir wollen vertrauen und wir müssen vertrauen, sonst ist das Leben nicht lebenswert.

Aber weil wir vertrauen, haben wir keinen Plan B - und ich sehe auch nicht, wie ein solcher in dieser Situation hätte aussehen können. Fast alle Beteiligten haben sich bemüht, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Wo, außer unter einer Brücke, hätten die drei unterkommen können, bis sie irgendwann - nach Tagen oder, wenn sie Pech gehabt hätten, Wochen - wieder negativ gewesen wären? Und doch: In Flugzeug und Zug, im Speisesaal und Hotel saßen andere Menschen nebenan. Vertrauensvolle Menschen, die gerade wieder ins Leben zurückgekehrt waren.

Es gibt keine einfachen Lösungen. Zur Zeit weniger denn je. Es gibt nur die Verantwortung jedes Einzelnen. Deine. Und meine.

 

Sonntag, 9. Oktober 2022

Blühen bis zum Ende


So viele Farben im Moment im Wald und vor dem Wald, auf dem Acker, auf den Wiesen, auf dem Boden.



Es lohnt sich, mal hinunter zu gucken. Mal ins Unterholz zu spähen. Einen Busch beiseite zu schieben.




Ich will nichts aufheben, nichts einsammeln, nichts pflücken, dem Wald und seinen Bewohnern nichts stehlen. Ich will einfach schnuppern, schauen, staunen. Für das, was ich mitnehme, brauche ich weder Korb noch Beutel. Ich habe ja meine Nase, meine Augen.




Alles ist zerzaust, vom langen Sommer erschöpft. Aber sie geben nicht auf. Ringelblumen, Mohn, Margeriten, Büschelschön: Ihre Lebensaufgabe ist es, zu blühen. Also blühen sie bis zum Ende. Künstler eben. Wenn man eine Lebensaufgabe hat, gibt man das Leben nicht auf. Eigentlich alles sehr klar und einfach.