Grün. Sehr grün. Und nass. Noch nicht ausgeschlafen, die Bewohner. Ist halt keine Gärtnerin da oben, nur eine Dichterin.
Ich habe einen geheimen Garten. Kein Mensch, der von unten zu mir in den zweiten Stock hochschaut, ahnt, was hier oben los ist. Darüber bin ich sehr froh. Ich hatte bislang als Mieterin einen halbwegs guten Ruf, aber mein Garten würde den Ruf ruinieren, denn er entspricht in keiner Weise den unkrautbefreiten hoch ordentlichen Gärten meiner badischen Nachbarn. Da sind die Hecken gestutzt, die Rasen rasiert, jede Pflanze weiß, wo sie hingehört, und diese Pflanzen-Erziehung funktioniert vom Töpfchen an, was mich ratlos macht. Wir haben einen großen Steintrog am Hauseingang, den hat mein Vermieter kürzlich bepflanzt. Alle zwanzig Zentimeter eine Zwiebel. Da wird exakt strammgestanden! (Iris halt, mit denen kann er es machen. Sollte er mal bei Kapuzinerkresse probieren.)
Frau Irgangs Garten ist voll mit Kapuzinerkresse. Und Glockenblumen aller Arten, Duftwicken, Borretsch, Mohn, Moschusmalven, Ringelblumen, Nachtkerzen und Nachtviolen. Da gibt es - soll es geben, wird es geben - laut Samentüten wunderbare bienenfreundliche, schmetterlingsanziehende Sorten mit so schönen Namen wie Acker-Hundskamille, Sommer-Adonisröschen, Acker-Rittersporn, Strahlen-Breitsame, Saat-Wucherblume. Also, wuchern tun sie schon. Sonst aber tun sie vorerst nix.
Und deshalb bleiben (vorerst?) die Gäste aus, deretwegen die ganze grüne Veranstaltung doch stattfindet: die Haarstrang-Sandbiene zum Beispiel, die Gewöhnliche Löcherbiene, die Giersch-Sandbiene, die Zweizellige Sandbiene und die "lokal Blauschillernde Sandbiene", die ich gerne kennenlernen möchte. (Wie schillert man lokal?)
Meine Campanula Rotundifolia sieht aus, als habe sie sich die Haare gerauft (mag sie mich nicht? Ach, ach ...), und die Wilde Möhre hat einen Schopf, dem ein Friseurbesuch guttun würde. Die weiße Rose (okay, es gibt eine ältere Abteilung im Garten, die eher konventionell bestückt ist) wird von kleinen grünen Läusen aufgefressen, die Blüten der Bauernhortensie muss man mit der Lupe suchen, und die Pfingstrosen halten eisern ihre Blüten seit Wochen geschlossen. Alles ist nass. Und grün. Sehr grün. Grün soll ja heilsam und beruhigend sein. Ich hatte mir aber schon etwas Gefälligeres vorgestellt.
Ich streichle sie einzeln (ersetzt mir die Sitz-Meditation). Ich spreche mit ihnen, ich nenne sie: meine Süßen, meine Allerliebsten. Ein Wissenschaftler, ich glaube, von der University of Ohio, hat in Experimenten herausgefunden, dass Pflanzen, mit denen ihre Besitzer sprechen, gesünder sind und besser wachsen. Und wie sie wachsen, ich kann nicht klagen! Der Wiesensalbei kam an als fünf Zentimeter kleiner Zwerg und misst inzwischen vierzig Zentimeter. Was soll ich sagen: Er ist grün. Ich habe ihn ausgewählt, weil seine Blüte lila sein soll.
Mir macht aber etwas ganz anderes zu schaffen. Es gibt da diese hübschen paarweise aufgenommenen Fotos von Hunden und ihren Herrchen/Frauchen, die sich einander - wer da wem, ist nicht ganz klar - auf unheimliche Weise optisch angenähert haben. Ob das auch für Menschen und ihre Pflanzen gilt?
Zum Geburtstag schenkte mir eine Freundin einen Glücksklee mit der Bemerkung "Die werden so schön buschig". Ich hatte nach zwei Wochen einen Individualisten im Topf, aber vielleicht ist es auch ein Egoist. Wenn man von meinen Pflanzen und mir paarweise Fotos machen würde - in welchen Abgrund meiner selbst würde ich da blicken? All dies Unordentliche, Eigensinnige, so gar nicht Nett-Gefällige ...
Ich bin wirklich froh, dass kein Mensch ahnt, dass ich hier oben einen Garten habe.