Mittwoch, 22. Mai 2024

komorebi 木漏れ日


Ich bin fasziniert davon, dass es in der japanischen Sprache Ausdrücke gibt für ganz bestimmte Stimmungen, Zustände oder Momente, die es in keiner mir bekannten westlichen Sprache gibt. Eins davon ist das Wort komorebi [木漏れ日]. Das Schriftzeichen enthält das Baumzeichen [], das Zeichen für Glanz, Filter, Leck [漏れる] und Sonne [].

komorebi ist das Licht, das durch die Baumkronen fällt, das Spiel von Licht und Schatten der Blätter auf dem Boden. Ich denke dabei an einen Nachmittag im Sommer. Heiße Siesta-Stille, ich liege auf der Wiese am Waldrand im Schatten einer Buche, ein leiser Wind streicht durch die Krone des Baumes, neben mir glitzert der Teich und auf mir und um mich herum wiegen sich die Blätterschatten.

Ist das nicht wunderbar? Mit einem einzigen viersilbigen Wort das Glück eines ganzen Sommernachmittags eingefangen. Jetzt wisst ihr, warum ein Haiku im Grunde unübersetzbar ist. Jedes Wort transportiert eine Fülle an Bedeutungen, Stimmungen, Wahrnehmungen. Manchmal spielt die Tageszeit eine Rolle, immer die Jahreszeit, zumeist das Licht, die Farben. 

Japanische Ausdrücke sind oft mehr Geste als Wort. Drücken Umfassendes und Gleichzeitiges aus, wo Worte mühsam hintereinander herstolpern, gefangen in der Linearität.

Schaut mal nach oben statt nach unten. Überlasst euch komorebi für ein paar Minuten ohne den Zwang, darüber nachzudenken und das Spiel von Licht und Schatten in Worte zu fassen. Für ein paar Minuten des Verweilens im reinen Sein.  

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Mittwoch, 15. Mai 2024

Der Wert der Arbeit


Guten Tag, meine Lieben. Heute möchte ich mit Euch etwas in eigener Sache teilen. Mich bewegt gerade die Frage: Wie viel ist unsere Arbeit wert? Ist es nicht absurd, dass zum Beispiel ein Bundesliga-Spieler sechsstellige Beträge "verdient", während eine Altenpflegerin von ihrem Gehalt kaum die Miete bezahlen kann? Wer also bestimmt den Wert einer Arbeit? Das sind wir selbst, als Gesellschaft und als Einzelne.

Vor elf Jahren habe ich beschlossen, einen Blog zu veröffentlichen. Ich wollte im weltweiten Netz eine Gegenstimme sein zu den Nachrichten über Gewalt, Krieg, Verbrechen und Katastrophen anderer Art. Mein Blog sollte zu einem Raum werden, in dem alles Platz hat, was uns stärkt, ermutigt, inspiriert. In diesen weiten offenen Raum lade ich seitdem Menschen ein, die im selben Geist wie ich leben und nach anderen Lösungen für unsere Probleme suchen. Menschen, die bewusst wahrnehmen, Achtsamkeit und Freundlichkeit schätzen, Klarheit und Poesie. Also Menschen wie Sie und Du.

Inzwischen sind 600 Posts online (einen Teil habe ich, weil nicht mehr aktuell, herausgenommen), die über 1000 Kommentare bekommen haben. Mein Blog wird in mindestens zwölf Ländern gelesen (meine Statistik vermerkt dazu "und etliche weitere") und hat täglich viele Hundert Aufrufe. Darüber freue ich mich sehr. 

All dies macht viel Arbeit. Ich schreibe nicht nur meine Texte, ich recherchiere Texte und Links, ich suche nach Musik und Videos, ich lese Bücher für Euch. Deshalb habe ich in den letzten Monaten darüber nachgedacht, den Blog zu schließen. Aber ich habe gemerkt, wie sehr ich an dieser Form des Schreibens hänge und dass ich die Kontakte mit Euch, die über den Blog entstehen, vermissen würde.

Inzwischen sind viele Blogger dazu übergegangen, eine Paywall einzurichten, sodass man die Texte nur in Form eines regelmäßig gezahlten Abonnements bekommt. Die meisten anderen bitten um Spenden. Und das tue ich nunmehr auch.

Im Buddhismus gibt es Dana, die praktizierte Großzügigkeit; buddhistische Lehrer in Asien arbeiten fast immer auf Spenden-Basis. Aber wir im Westen haben eine Bezahl-Kultur. Wir wollen wissen, "was das kostet", und dann entscheiden wir uns dafür oder dagegen. Damit geht unsere Freiheit und Eigenverantwortung verloren. Ein zu bezahlendes Abo würde weder zu mir noch zur Ausrichtung dieses Blogs passen.

Ich habe mich entschlossen, diesen Blog weiter zu führen, und er wird wie in den letzten elf Jahren frei zugänglich sein für jede und jeden. Aber wenn er Dir gefällt und Dich inspiriert und Du es Dir leisten kannst, freue ich mich sehr über eine Spende. Die Höhe entscheidest alleine Du, auch ein kleiner Betrag ist willkommen. Du wirst in Zukunft unter jedem Post den Spenden-Link sehen, außerdem ist er in der rechten Sidebar ganz oben, versteckt unter dem Sterntaler-Bild. Du findest alle Informationen, wenn Du unverbindlich auf den Link klickst.

Ich danke Dir, dass Du mir bis hierher zugehört hast. Und hier ist der Link (klick).


Donnerstag, 9. Mai 2024

Chapelle Notre-Dame-du-Haut Ronchamp



Ich war sehr jung. Es war Sommer, mein Freund und ich waren unterwegs nach Spanien, und weil ich in irgendeiner Zeitschrift ein Bild von einer atemberaubend schönen Kapelle gesehen hatte, die, wie ich fand, auf dem Weg lag (was ein Irrtum war), suchten wir in der Franche-Comté nach dem Wunder, und als er (nicht ich) schon ungeduldig wurde, sahen wir sie, hoch oben auf einem Hügel. Le Corbusiers Chapelle Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp.

Ich wollte nicht mehr weg. Diese Stille. Das Licht. Die Farben. Das, dachte ich, ist Architektur, in der ich atmen kann. Er aber wollte nach Spanien. Ich kaufte eine Ansichtskarte, die bis heute in meinem Besitz ist, und fasste den Entschluss: Da will ich noch mal hin.

Es dauerte fast fünfzig Jahre. Am Sonntag war ich noch einmal dort. Weil man seine Entschlüsse umsetzen soll, solange man noch Zeit dafür hat.



Auf dem Hügel stand bereits eine unbedeutende Kapelle, die im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde. Ein fortschrittlicher Dominikaner wollte Le Corbusier gewinnen, eine moderne Kapelle zu bauen, aber der Atheist lehnte ab: Er hatte keine Lust, "für eine tote Institution" zu arbeiten. Irgendwie gelang es, Le Corbusier 1950 auf den Hügel zu locken, und als er dort oben stand und in die Weite blickte, war er gewonnen.

Die Kapelle ist gebaute Poesie. Das Mauerwerk besteht aus den Abbruchsteinen der alten Kapelle, Zement und Stahl. Le Corbusier: "Große Kunst entsteht aus einfachen Mitteln." Das frei schwingende Dach ist dem Panzer einer Krabbe nachgebildet, der Innenraum nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet, denn die Kapelle ist ausschließlich mit Tageslicht beleuchtet. Wenn die östliche Kapelle im Tagesverlauf dunkler wird, wird die westliche heller. "Raum, Licht und Ordnung. Das sind die Dinge, die Menschen genauso brauchen wie Brot oder einen Platz zum Schlafen."

Natürlich rief der Bau Empörung hervor, vor allem bei den Vertretern der Kirchen, aber auch bei Kunsthistorikern. Von "neuem Irrationalismus" war die Rede und von der "Abweichung vom richtigen Weg". 



Ich sitze in leuchtenden Farben. Die Glasbausteine hat Le Corbusier selbst bemalt; sie zeigen Motive aus der Natur, immer wieder das Meer und eine Hommage an seine Mutter Marie. Die gewölbte Wand eines Seitenaltars ist in einem so intensiven und gleichzeitig sanften Rot gehalten, dass meine Kamera bei der Wiedergabe versagte. Dieser Altarraum mit seiner bergenden Geste ist für mich ein intimer weiblicher Ort, ein Uterus.



Unterhalb der Kapelle erbaute der Architekt Renzo Piano das Kloster der Clarissen, das 2011 eingeweiht wurde und ebenfalls heftige Kritik auslöste, weil das Neue und vielleicht auch das Schlichte in einer Welt der Übereinkünfte und des So-war-es-schon-Immer eine Provokation ist. Das Kloster schmiegt sich unauffällig in den Berg, ich hätte es fast übersehen. Es gibt ein Nähatelier, eine Bibliothek, das Refektorium, Gästezimmer und zwölf Zellen, die ich natürlich nicht besuchen durfte. Sie alle haben Bett, Schreibtisch und Stuhl aus Zedernholz. Die Böden sind in warmem Orange gehalten. Gibt es irgendwo auf der Welt ein moderneres, ästhetischeres Kloster als dieses? Auch Piano spielt mit Oberlichtern, und ich hatte das Glück, einen Moment aufleuchtender Sonne in der Kapelle zu erleben. 

Wie fruchtbar es doch ist, vom "richtigen Weg" abzuweichen und etwas zu erschaffen, das die sogenannten Vernünftigen als "irrational" ansehen. 

Le Corbusier war mehr Künstler als Architekt (ein Metier, das er übrigens nie studiert hatte). Deshalb wusste er etwas, das Ingenieuren möglicherweise entgeht: "Der gegenwärtige Moment ist kreativ, er erschafft mit unerhörter Intensität."

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Freitag, 3. Mai 2024

Fallende Kirschblüten



Fallende Kirschblüten     散る桜     chiru sakura
auch die blühenden sind  残る桜も nokoru sakura mo
fallende Kirschblüten    散る桜     chiru sakura

Ryôkan

(Aus dem Japanischen von Munish Bernhard Schiekel)

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Ein Haiku über die Vergänglichkeit alles Seienden. Wenn in Japan die Kirschen blühen, versammelt sich die halbe Nation unter den Bäumen, breitet Decken aus und hält Picknick. Japaner wissen, wie schnell die Kirschblüten welken, deshalb müssen sie mit Dankbarkeit gefeiert werden - jetzt, an diesem Tag, in diesem Moment. Denn  nur, wer das Blühen von ganzem Herzen gefeiert hat, kann auch das Verwelken annehmen. 

Und das ist eine Aussage nicht nur über Kirschblüten.

Auf der Homepage meines Dharma-Freundes Munish Schiekel finden sich viele Gedichte, Haikus und andere lesenswerte Texte. Hier mal stöbern (klick).