Mittwoch, 31. Oktober 2018

Oh Oktober


Oh Oktober, du älterer Herr; die Art deines Auftritts im Jahr ist immer ungewiss, schwankend, abhängig von deiner Tagesform, wie es bei älteren Herren eben so ist. An einem Tag rennen sie zwanzig Kilometer, am nächsten liegen sie mit Rückenschmerz im Bett. Aber du hast dieses Jahr alle Kraft zusammengerafft und einen strahlenden Auftritt hingelegt. Wir wurden sorglos und heiter, holten noch einmal die Sandalen aus dem Schrank, spannten die Sonnenschirme auf und verspeisten letzte Eisbecher im Freien. Und erst, als du keine Kraft mehr hattest, sonnig und fröhlich zu sein, und Regen und Sturm erlaubtest, uns in die Häuser zu treiben, fiel uns wieder ein, dass du ja gar nicht der September bist. Und wir erinnerten uns wieder an den älteren Herrn, dem Blätterfall, Regenböen und erster Nachtfrost zustehen, ob uns das gefällt oder nicht.

Du warst ein Vorbild für uns. Das wollen wir älteren Damen und Herren uns merken: Das Sonnige, Leuchtende muss nicht zu Ende sein, nur weil es so im Kalender steht.

Donnerstag, 25. Oktober 2018

Diese leise sanfte Kraft


Ich gehe durch die Stadt, Stein rechts, Stein links, Stein unter mir, und überall lugt durch das Grau etwas zart Lebendiges. Etwas, das sich unbeirrt seinen Weg ins Licht bahnt und, dort angekommen, sofort zu blühen und zu wachsen beginnt. Diese leise sanfte Kraft unter dem Harten und Starren.

Vor ein paar Wochen fuhr ich meinen gewohnten Weg vom Biomarkt nach Hause, durch altvertraute Straßen. Alles bekannt, nichts Neues, nichts, was Begeisterung auslösen würde. Alltag eben. Am Zebrastreifen vor der Bushaltestelle musste ich anhalten, ein Mann überquerte die Fahrbahn, und auf einmal sah ich, was das für ein wunderbarer Mensch ist: Dieses Gesicht, in das sich das Leben eingeschrieben hat; diese Hände, die fest und zuverlässig die Einkaufstasche packten und ihren Inhalt sicher nach Hause bringen würden; dieser ganz und gar aus der Mode gekommene Anorak, der vielleicht von Körper zu Körper weitergereicht worden war, von jemandem einst in eine Kleidersammlung gegeben wurde, von einem anderen dort herausgefischt und der jetzt dort, genau vor mir, an einem Körper hing, der wie für den Anorak geschaffen war und mit diesem Körper den Zebrastreifen querte. Genau vor mir, die ich diesen großartigen Augenblick der Anoraküberquerung aus der ersten Reihe heraus miterleben durfte. Ich fuhr wieder an, und in den Scheiben der Autos, die mir entgegenkamen, spiegelte sich der Himmel, an dem ein paar Wölkchen lungerten, genau die richtige Anzahl pudriger Wölkchen, die einem blauen Himmel gut tut, aus einem offenen Fenster wehte "Brothers in Arms" von Dire Straits, ich parkte vor meinem Haus und konnte vor lauter Glück nicht aussteigen. Meine Füße hätten die Fülle einfach nicht tragen können.

Diese leise sanfte Kraft unter dem Harten und Starren.

Sonntag, 14. Oktober 2018

Gräsergedicht, an die Hauswand geschrieben


"Können wir ein Gedicht über das Innehalten, die Absichtslosigkeit, das einfache Sein schreiben?

Können wir etwas dazu malen?

Alles, was wir tun, ist ein Akt des Dichtens oder eine Malerei, sofern wir es mit Achtsamkeit tun.

Salatpflanzen ist Dichten. Der Besuch im Einkaufszentrum kann eine Malerei sein."

Thich Nhat Hanh

... und dann gibt es ja immer auch Gräser und Sonne, die ein Gedicht an eine Hauswand schreiben.

Muss man nur lesen können.

Montag, 8. Oktober 2018

Sommers Ende


Sommers Ende

Und wieder den Sommer nicht bestanden.
Schneller als wir wuchs das Korn.
Zur Feier des Juli starb das Gras
den Himmel lobte die Lerche.
Die Nacht schlug uns mit Duft und Sternen.
Wir schliefen nie. Wir schliefen immer.

Es war die Rose die sich entfaltete
es war die Kapsel des Mohns die brach.
Wieder vor der Wärme geflohen
Schatten aufgestellt
und in der hohen Stille des Mittags
die Ewigkeit unverändert überlebt.

Margrit Irgang

(Dieses und weitere 11 Gedichte in: Margrit Irgang "Leuchtende Stille", Herder Verlag)

Montag, 1. Oktober 2018

Auf Wiedersehen, September


Ich hätte nichts dagegen, dich wiederzusehen, genau so, wie du warst. Du bist ja immer ein Monat zwischen Noch und Schon, zwischen Sommer und Herbst. Das Noch war diesmal größer. Du hattest Sommerwärme und Farben zwischen Aprikose, Kürbisorange, Ocker, Waldgrün und Sattblau im Angebot. Die Straßenstände bogen sich unter dem Angebot, die Bauern wussten kaum, wohin mit der Überfülle, und ich kam von jeder Fotowanderung beladen mit Säcken voller Äpfel, Trauben, Pfirsiche, Kürbisse und Walnüsse nach Hause.   

Dann brachtest du die ersten Bodenfröste (schon!!!) und einen Gewittersturm, der die Zwetschgen vom Baum fegte, was uns nicht erfreute, aber okay, wir haben es dir nachgesehen. Du bist eben nicht der Juli; du musst der Zweibeinige sein, der du bist, mit einem Bein im Noch, mit dem anderen im Schon.

Wie gesagt: jederzeit gerne wieder, September.