Donnerstag, 25. Oktober 2018

Diese leise sanfte Kraft


Ich gehe durch die Stadt, Stein rechts, Stein links, Stein unter mir, und überall lugt durch das Grau etwas zart Lebendiges. Etwas, das sich unbeirrt seinen Weg ins Licht bahnt und, dort angekommen, sofort zu blühen und zu wachsen beginnt. Diese leise sanfte Kraft unter dem Harten und Starren.

Vor ein paar Wochen fuhr ich meinen gewohnten Weg vom Biomarkt nach Hause, durch altvertraute Straßen. Alles bekannt, nichts Neues, nichts, was Begeisterung auslösen würde. Alltag eben. Am Zebrastreifen vor der Bushaltestelle musste ich anhalten, ein Mann überquerte die Fahrbahn, und auf einmal sah ich, was das für ein wunderbarer Mensch ist: Dieses Gesicht, in das sich das Leben eingeschrieben hat; diese Hände, die fest und zuverlässig die Einkaufstasche packten und ihren Inhalt sicher nach Hause bringen würden; dieser ganz und gar aus der Mode gekommene Anorak, der vielleicht von Körper zu Körper weitergereicht worden war, von jemandem einst in eine Kleidersammlung gegeben wurde, von einem anderen dort herausgefischt und der jetzt dort, genau vor mir, an einem Körper hing, der wie für den Anorak geschaffen war und mit diesem Körper den Zebrastreifen querte. Genau vor mir, die ich diesen großartigen Augenblick der Anoraküberquerung aus der ersten Reihe heraus miterleben durfte. Ich fuhr wieder an, und in den Scheiben der Autos, die mir entgegenkamen, spiegelte sich der Himmel, an dem ein paar Wölkchen lungerten, genau die richtige Anzahl pudriger Wölkchen, die einem blauen Himmel gut tut, aus einem offenen Fenster wehte "Brothers in Arms" von Dire Straits, ich parkte vor meinem Haus und konnte vor lauter Glück nicht aussteigen. Meine Füße hätten die Fülle einfach nicht tragen können.

Diese leise sanfte Kraft unter dem Harten und Starren.

2 Kommentare:

  1. Du beherrscht sie - die Poesie des Augenblicks.
    wunderschön. Manchmal ist es, als flöge einen die Magie an...

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  2. So wunderbar Ihre Texte...immer wieder...ich möchte nach Jahren des Lesens Ihres Blogs und Ihrer Bücher einmal DANKE sagen für Ihr großzügiges Sichverschenken, dafür, dass Sie uns teilhaben lassen an Ihrer ganz eigenen Art mit der Zen-Brille (oder ganz ohne Brille...) in die Welt zu schauen und in Resonanz zu gehen. Danke

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