Montag, 1. Mai 2023

Tolerieren - oder zulassen?

 Tolerieren? Zulassen? Aussiedeln?

 

Gestern las ich mal wieder Zeitung. Eine Zeitung, irgendeine; die Formulierung, die mir auffiel, ist überall zu finden. In dieser Tageszeitung wurde ich mehrfach aufgefordert, etwas zu tolerieren: die Flüchtlinge, die andere Lebensweise der Flüchtlinge, den Lärm aus der Kneipe, solange er nicht nach zehn Uhr anhält, die Kinder in der Nachbarschaft, gewisse Grenzwerte an Luftverschmutzung und Wasserbelastung ("Ihr Körper kann das tolerieren"). In der Wochenend-Beilage mit den bunt-vermischten Themen empfahl eine Ehe-Beraterin, "die kleinen Eigenheiten des Partners großzügig zu tolerieren".

Ich möchte mit niemandem verpartnert sein, der meine Eigenheiten großzügig toleriert. Ich möchte dem Paar aus Ghana, das weiter unten im Flüchtlingsheim lebt und mit seinen beiden Kleinen auf dem Weg zur Bushaltestelle ist, nicht vermitteln, dass ich es toleriere. Ich möchte auch meinen Körper nicht zur Toleranz ungesunder Verhältnisse erziehen.

Weil die Haltung der Toleranz besagt: Also eigentlich mag ich dich und dies und jenes nicht so recht, eigentlich würde ich mir wünschen, dass du und dies und jenes ganz anders sind (so, wie ich bin und wie ich es gut finde), aber nun ja, ich will großzügig (zeitweise, abschnittsweise, vorerst) über deine Unvollkommenheit hinwegsehen und dich tolerieren.

Toleranz enthält den feinen Hauch der Herablassung. Des Rechthabens. Toleranz ist Trennung: Ich fühle mich getrennt von der Person oder Situation, die Eigenschaften hat, die mir unangenehm sind - aber ich bin auch getrennt von mir selbst, denn das Tolerieren befreit mich keineswegs von dem unbehaglichen Gefühl, das von dem zu Tolerierenden in mir ausgelöst wurde. Toleranz ist Neinsagen. Und das ist nicht das kraftvolle Nein, das wie ein reinigendes Gewitter ist, sondern ein kraftloses Nein, das schwächt.

Neulich bekam ich von Amts wegen die Nachricht, dass ich als Fahrerin meines Pkws bei einer Geschwindigkeitsmessung den Toleranzbereich um zehn Kilometer pro Stunde überschritten hätte. Das war teuer. Auch der Toleranzbereich der meisten Menschen ist nach meiner Erfahrung ziemlich klein, und wenn man ihn überschreitet, bekommt man so richtig Ärger.

Wagen wir das Experiment, die Haltung der Toleranz durch etwas Radikales zu ersetzen: das Zulassen dessen, was anders ist als wir, anders denkt, anders lebt? Das Andere, das so sein darf, wie es ist: bunt, interessant, vielleicht unbegreiflich, vielleicht herausfordernd. Zulassen heißt: die Vielfalt feiern, das Variantenreiche, genau das, was ich nicht bin. Ohne den Wunsch, den anderen und das andere nach meinen Vorstellungen hinzubiegen.

Zulassen ist eine liebevolle Geste. Und weil ich auch mir selbst gegenüber liebevoll bin (ich toleriere mich ja nicht - ich lasse mich zu, mit all meiner Unvollkommenheit), wird das Zulassen nie zur Zumutung. Wer liebevoll mit sich selbst umgeht, definiert klug das, was wichtig und notwendig ist, um das eigene Wohlbefinden zu erhalten, und handelt danach. Da wir ja liebevoll Zulassende sind und im Bewusstsein der Nicht-Trennung leben, wissen wir, dass unsere eigene Freude, Kraft, Zuversicht, Freiheit und unser Frieden unerlässlich sind für die Freude, Kraft, Zuversicht, Freiheit und den Frieden in der Gesellschaft. 

Zulassen ist Jasagen, auch wenn wir manchmal liebevoll Nein sagen müssen.

 

3 Kommentare:

  1. Liebe Margit, Deinen Kommentar finde ich sehr gut.
    Tatsächlich liegt in diesem Tolerieren, eine Überheblichkeit, manchmal auch Gleichgültigkeit.
    Gitti

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    1. Ja, nicht wahr? Und es ist auch bezeichnend für unsere Gesellschaft, dass dieser Unterton nicht bemerkt wird.

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  2. Stimmt Toleranz hat immer einen faden Beigeschmack, denn Toleranz heißt Duldung. Es ist kein uneingeschränktes ja. Aber dennoch ist Toleranz besser als Ablehnung, für mich.

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