Donnerstag, 3. September 2020

Leicht werden, oder: Weniger ist mehr als genug


Gestern war ich - zum ersten Mal in diesem Jahr - längere Zeit in der Stadt. Ich erledigte ein paar Dinge, dann bummelte ich durch die Gassen. Es war voll. Menschen schoben sich hindurch (zeitweise setzte ich meine Maske auf), in den Straßencafés war kein Platz mehr frei. Aber: die Läden waren zwar gefüllt mit Ware, doch leer von Menschen. Und dann fiel mir auf, dass im Straßenbild die sonst üblichen prallen Einkaufstüten fehlten. 

Wenige Wochen Shutdown haben genügt, um das System der Verführung zum Konsum durch ein ständig nachgeschaufeltes brandneues Angebot zusammenbrechen zu lassen. Unsere Gesellschaft konnte ihre prekäre wirtschaftliche Balance nur so lange aufrechterhalten, wie wir alle bereit waren, uns ständig Neues zuzulegen. Aber die einstmals so schnell Verführten hatten Zeit zum Nachdenken. Zur Besorgnis der Politik und des Handels denken sie offenbar immer noch nach, trotz Mehrwertsteuersenkung. Vielleicht haben sie ja entdeckt, dass sie eigentlich schon alles Notwendige besitzen. Sie haben sogar die Wohnung voll mit Nicht-Notwendigem. Vielleicht haben sie entdeckt, dass auch das ältere Modell von diesem oder jenem Gerät noch gut genug ist. Und dass es Dinge gibt, die man selbst herstellen kann. Ausleihen. Tauschen.

Vielleicht haben auch einige Nachdenkliche entdeckt, dass es sich lohnt, statt billigem Ramsch gute Qualität zu kaufen. Ich mag kleine inhabergeführte Läden, die besondere Dinge anbieten und jetzt die ersten sind, die sterben. Aber gerade dort gibt es schon Initiativen, in denen man sich zusammenschließt, um die Miete zu reduzieren und gleichzeitig einander im Angebot zu ergänzen. Ich liebe Stoffe und Bücher (okay, Bücher ein wenig mehr). Gestern stand ich in Freiburg in der Salzstraße vor der altehrwürdigen Buchhandlung Zum Wetzstein, die sich kreativ neu erfunden hat: Sie residiert an ihrem alten Standort in einer Nische inmitten des (auch sehr edlen) Stoffladens Etoffe & Tessuti, zwischen den Stoffrollen im Eingangsbereich und der ratternden Nähmaschine im hinteren Bereich. Übrigens: in der Buch-Nische drängten sich die Kunden. Der Stoffladen war leer.

Das Konzept der Achtsamkeit beruht vor allem darauf, zwischen einen Reiz und unsere Reaktion darauf einen Raum zu schaffen, in dem der Automatismus ausgeschaltet ist. Das kann man fabelhaft üben bei einem Schaufensterbummel. Oh wie toll, das will ich haben! Innehalten. Pause. Nachdenken. Nachspüren. Dann vielleicht die Erkenntnis: So was Ähnliches habe ich doch schon.

In diesen wenigen Sekunden beruhigt sich der Geist, er zerrt uns nicht mehr hierhin und dorthin. Eine andere Instanz in uns, die fähig ist, den Geist zu beobachten, hat wieder die Macht übernommen. Auch die über unsere Geldausgaben. Wir könnten zum Beispiel das kleine vor dem Ruin stehende Theater durch unseren Besuch unterstützen, das Streichquartett, das Mini-Literaturfestival. Was man von dort mitbringt, beschwert einen nicht mit Einkaufstüten; man kommt nach dem Besuch noch prima drei Treppen hoch.

Kunst erschafft Freiheit und Leichtigkeit im Geist, sie lüftet durch, und Lüften ist in Corona-Zeiten, wie wir inzwischen alle wissen, lebensnotwendig.


1 Kommentar:

  1. Liebe Frau Irgang, in Gedanken bin ich mit Ihnen durch die Stadt spaziert u freue mich über Ihre Beobachtungen u Anstöße. So wohltuend! Danke u herzliche Grüße aus der Nähe von Trier

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