Ein Morgen im September. Über dem Kandel geht die Sonne auf, an einem perlmuttfarbenen Himmel. Seit einer Woche ist keine Wolke zu sehen, makellose Sommertage reihen sich aneinander. Auf Balkonen und Terrassen erblühen noch einmal die Sonnenschirme, die Eiscafés sind überfüllt, in der frühen Abenddunkelheit hört man Gelächter und Gläserklirren aus den Gärten. Ein letztes Mal packen meine Nachbarn die Strandtaschen und fahren mit den Kindern an den Baggersee. Aus weit geöffneten Autofenstern fliegt Musik vorüber. Die Schritte sind rascher geworden, etwas vibriert in der Luft, eine Erregung, die vom Kalender nicht vorgesehen ist: Noch einmal ist Sommer geworden, richtiger, heißer Sommer. Ein Geschenk aus Wärme und Licht ist über dem Land ausgeschüttet worden.
In den Nächten aber macht sich schon der Winter bereit. Er fängt mit seiner Arbeit immer in den Nächten an, für die Nacht reicht die Kraft des Sommers nicht mehr. Er ist müde geworden, der Sommer, seine Arbeit ist getan. Was er jetzt noch leistet, ist der letzte kleine Rest, der Überschuss, der noch nicht für das Keimen, Blühen und Erwärmen verbraucht worden ist. Den Sommer in seiner vollen Kraft hatten wir gar nicht so recht wahrgenommen. Er war uns fast ein wenig lästig geworden mit seinen nicht enden wollenden hellen Abenden, den Mücken und dem Geschrei der Frösche, und die Wohnungen hat er natürlich zu warm gemacht, und die Wiesen hat er versteppt. Aber ein sterbender Sommer, dem der Winter im Nacken sitzt, ist ein anderer Sommer. Einer, der uns ein wenig Schmerz bereitet mit seiner tapferen Widerständigkeit, seiner Weigerung, abzutreten und dem kalten Alten das Land zu überlassen.
Der Winter meines Lebens macht sich bereit in den Nächten, in denen ich liege und auf die Stille lausche. Die Stille in der Vorstadt nachts um drei ist absolut. Die Discobesucher sind heimgekehrt, die Früharbeiter noch nicht aufgebrochen. Die dritte Stunde der Nacht ist der Zustand zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht; ich liege und lausche und weiß, das ist jetzt mein Leben. Nicht mehr jung und noch nicht alt.
Und morgen vielleicht die Sonne über dem Kandel, in diesem späten Sommer, der noch nicht abtreten will.
(Aus: Margrit Irgang "Leuchtende Stille", Herder Verlag)
Schön und traurig gleichzeitig. Liebe Grüße von Karin
AntwortenLöschenIch empfinde es nicht als traurig. Der Herbst ist - konkret und symbolisch - meine liebste Zeit. Nicht so grell wie der Sommer, sanfter, gedämpfter.
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