Ich stehe in einer öffentlichen Toilette in Tokio, habe mir die Hände gewaschen und finde weder ein Handtuch noch einen Lufttrockner. Noch weiß ich, die Touristin, nicht, dass die kleinen Handtücher, die überall verkauft werden, genau dieser Situation dienen. Neben mir eine Japanerin, die meine hilflosen Blicke bemerkt, in ihre Tasche greift und mir lächelnd und mit einer Verbeugung ihr blütenreines gefaltetes kleines Handtuch reicht.
Eine Frau aus meiner Gruppe vergaß ihren Schirm im Taxi. Als wir Stunden später zum Mittagessen in unserem Restaurant eintrafen, wurde ihr der Schirm überreicht. Eine Bekannte von mir verlor vor ein paar Jahren auf ihrer Rundreise die Handtasche. Als sie auf der Polzeistation gerade dabei war, den Schaden zu melden, kam ein Japaner zur Tür herein mit ihrer Handtasche. Nicht ein Yen fehlte.
Ich bin in Japan einer einzigartigen Kultur der Aufmerksamkeit und Fürsorge begegnet, die ich in keinem anderen Land der Welt erlebt habe.
Traditionelles Dinner in der Tempelherberge Fukishi-in
Im Shinkansen verbeugt sich die Schaffnerin, bevor sie ein Abteil betritt. Wenn sie es verlässt, dreht sie sich um und verbeugt sich erneut. Die Taxifahrer tragen weiße Handschuhe und haben ihre Sitze mit weißen Spitzenbezügen bespannt. Die Speisen werden so ästhetisch angerichtet, dass man sie kaum anrühren mag. Für den Hotelgast liegt der Yukata mit den Pantoffeln bereit, der Wasserkocher mit Teebeuteln und Kaffee. Die Toilettensitze sind beheizt (ich gebe zu: die japanischen Toiletten vermisse ich). Es ist die Genauigkeit und Schönheit im Allerkleinsten, die mich immer wieder begeistert. Und geradezu glücklich machen mich die Menschen, die leise, höflich und liebenswürdig sind. Man nimmt wahr, was gebraucht wird, und bezieht den anderen in seine Wahrnehmung mit ein.
Bevor ich fuhr, las ich ein Buch über das zeitgenössische Japan. Der Verfasser machte sich gleich auf den ersten Seiten über westliche Menschen lustig, die nach Japan fahren, um das Zen zu suchen, denn das Zen spiele keinerlei Rolle im japanischen Alltag. Ich sehe das anders. Das formale Zen mit seiner stundenlangen Meditation im Zendo mag für die meisten Japaner unwichtig sein. Sie brauchen es auch nicht, denn der Zen-Geist ist überall im Land lebendig.
Die klare Wahrnehmung, das Handeln aus der Erfordernissen des Augenblicks heraus. Die Wertschätzung alles Lebendigen und Schönen. Die Präzision und Genauigkeit. All dies belegen wir in westlichen Ländern mit dem Begriff "Zen" und bemühen uns darum, machen eine "Praxis" daraus und stellen fest, wie schwer es doch ist, unsere sozialen und emotionalen Prägungen zu transformieren.
Ich weiß um die Probleme des Landes. Die stets präsente Erdbebengefahr, die dazu führt, dass jedes Haus alle 30 Jahre abgerissen wird, um nach den neuesten Erdbeben-Standards wieder aufgebaut zu werden. Die Überalterung, der gnadenlose Konkurrenzdruck. Der Zwang, weit ins Pensionsalter hinein zu arbeiten, um die karge Pension aufzubessern (unsere Taxifahrer waren fast ausnahmslos alte weißhaarige Herren). Ich weiß, dass ich mir meine Pakete in einem präzisen Zeitfenster bis 22 Uhr liefern lassen kann, und dass der Paketbote dafür nur den Mindestlohn von 800 Yen erhält, was etwa 6 EUR entspricht. Ich habe gesehen, wie die makellos sauberen Hotelzimmer geputzt werden: Von fünf Mitarbeitern gleichzeitig, die in Windeseile auf dem Boden herumrutschen, jede Ecke polieren und vermutlich sehr dankbar sind, diesen Job überhaupt zu haben. Und ich weiß, was es mit den Gesichtsmasken auf sich hat: Ein japanischer Arbeitnehmer kann es sich nicht leisten, banale Krankheiten wie eine Erkältung zu bekommen, denn jeder Fehltag wegen leichter Krankheit wird ihm vom ohnehin nur 10 Tage dauernden Urlaub abgezogen.
Ich weiß das alles und liebe dieses Land dennoch.
Mein Herz ist nach Hause gekommen.
Ich hoffe, es hat Euch Freude gemacht, mir mir ein wenig durch Japan zu reisen.
Vielen Dank für diese sehr interessanten Einblicke. Mein Wunsch dieses Land kennen zu lernen ist groß!!
AntwortenLöschenliebe Grüße von Ellen
Danke für diese Texte. Auch mein Interesse an Japan wächst und ich würde gerne noch weitere Eindrücke lesen! Herzliche Grüße Julia
AntwortenLöschenLiebe Frau Irgang, ich verbeuge mich wie die Japaner vor den Sätzen, wie..." man nimmt wahr, was gebraucht wird, und bezieht den anderen in seine Wahrnehmung ein..oder die klare Wahrnehmung, das Handeln aus den Erfordernissen des Augenblicks heraus..."
AntwortenLöschenJa das ist Zen im Alltag. Ich liebe es so zu leben. Wenn ich "vom Weg" abkomme,meldet sich etwas in mir in Form von Unruhe.
Liebe herzliche Grüße Gitti
Genau - die Wahrnehmung wird immer feiner, und die leise Unruhe ist unser Kompass, der uns wieder ausrichtet.
LöschenWenn ich Deine Beschreibungen lese, erfüllt es mich mit Demut. So gut geht es uns hier und so schnell übersehen wir es...
AntwortenLöschenLiebe margrit, danke für deine Japanimpressionen. Ich habe in deinen Beschreibungen und Betrachtungen über das Land, die Menschen und die Kultur vieles von dem wiedergefunden, das mich bei meiner Reise zutiefst fasziniert und berührt hat.
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