Samstag, 3. August 2024

Eine Bahn-Geschichte


... und draußen fliegt die Landschaft vorbei


Nein, nicht die übliche Geschichte über blockierte Türen, Böschenbrand, in der Hitze verbogene Weichen und zwei Stunden Verspätung. Sondern eine darüber, wie man innerhalb von zehn Minuten Freude und Schmerz bereiten kann.

Fahrt nach Hohenau zu meinem Retreat im Intersein Zentrum. In Bayern und Baden-Württemberg beginnen die Ferien, halb Deutschland reist mit großen Koffern. Ich musste kurzfristig buchen und konnte einen der letzten Sitzplätze reservieren. Neben mir sitzt ein junger Business Man. Anzug, Apple Notebook, Smartphone, viel Papier. Zu viel Papier für einen Fensterplatz im ICE, also klemmt er einen Teil davon zwischen das hochgeklappte Tablett und den Vordersitz. Tippen, aufgeregtes Telefonieren, Tabellen ausfüllen, erneut tippen. Der arme Kerl, denke ich. So jung und schon ein Kandidat für späteren Herzinfarkt. Der Zug rollt in einen Bahnhof ein, und ihm fällt in letzter Sekunde ein, dass er aussteigen will. Er rafft sein Zeug zusammen und stürzt hinaus. Zwischen Tablett und Vordersitz klemmen die Tabellen. Ich stürze ihm hinterher und wedele mit den Papieren aus der Zugtür. Er ruft: "Oh nein, danke, danke, die sind wichtig!"

Ich sinke zurück in meinen Sitz und fühle mich ausgesprochen gut. Eine aufmerksame, hilfsbereite Frau bin ich, die für andere mitdenkt und sie nicht im Stich lässt. Ja, so sehe ich mich gern. Und dann, obwohl es da keinerlei Zusammenhang gibt, habe ich den Wunsch, die Toilette aufzusuchen.

Der Schalter steht auf Grün, aber die Tür geht nur einen Spaltbreit auf und wird sofort wieder zugeworfen. Allerdings nicht abgeschlossen. Ich probiere es noch einmal. Tür auf, zugeworfen. Zufällig - ich möchte hier ausdrücklich an Zufall glauben, obwohl ich sonst gerne erkläre, dass alles mit allem zusammenhängt und man deshalb von Zufall nicht sprechen kann -, also zufällig steht die junge Zugbegleiterin neben mir im Gang und telefoniert. Meine Ratlosigkeit angesichts der offenen und dennoch besetzten Toilette erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie beendet ihr Telefonat und drückt die Klinke. Die Tür geht kurz auf und wird sofort wieder zugeworfen. Aber jetzt haben wir beide einen Blick erhascht auf einen jungen schwarzen Mann, und die Zugbegleiterin wird auf der Stelle von einer Energie erfasst, die mir zeigt: Diese Situation kennt sie, die hat sie schon Dutzende Male erlebt. Sie klopft mit ihrem Handy an die Tür und ruft: "Kollege, sofort rauskommen, rauskommen habe ich gesagt!"

Er schleicht in den Gang. Siebzehn, achtzehn Jahre alt. In der Hand ein Stoffbündel. Abgerissene Hosen, schmutziges T-Shirt. "Ticket, Kollege!" ruft die Zugbegleiterin und hält ihn am Shirt fest. Langsam dreht er sich um und schaut mich an. Nicht sie. Mich. Ich habe einmal in einem Zoo eine Antilope gesehen, der die Trauer über die verlorene Savanne in den Augen stand. Sie schaute mit der Sanftheit, die man, denke ich, ganz am Ende hat, wenn man weiß, dass es nicht mehr gut werden wird und dass die Träume ausgeträumt sind. 

So schaut er mich an, der junge Schwarze.

Er sagt kein Wort. Kein einziges, die ganze Zeit über. Von meinem Sitz aus sehe ich die Zugbegleiterin erneut telefonieren. Der Zug läuft im Hauptbahnhof Darmstadt ein, sie weist auf die offene Tür, und er steigt aus. Steht mit seinem Bündel auf Gleis 2 in einer Stadt, die er noch nie betreten hat und in die er mit Sicherheit nicht wollte. Steht dort unbeweglich immer noch, als der Zug an ihm vorbei den Bahnhof verlässt. 

Sicher wäre doch irgendwann jemand anderes auf die Toilette gegangen, sage ich mir. Reiner Zufall, dass ich es war. Nur wäre dann vielleicht die Zugbegleiterin nicht in der Nähe gewesen. Und er hätte es geschafft. Unentdeckt dort hinzukommen, wo er hinwollte. Aber wollte er überhaupt irgendwo hin, außer in eine Art Sicherheit, die er in einem bürokratisch organisierten Land nicht finden wird?

Ich kann den Blick nicht vergessen. 

***

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