Ich habe kürzlich einen Post darüber geschrieben, dass ich immer häufiger sage "Ich weiß es nicht". Leider ist dies keine gute Zeit für das Nicht-Wissen (schrieb ich), denn die Menschen sehnen sich nach Gewissheiten, und die werden auch zuverlässig vom rechten politischen Rand bedient. Wer es nachlesen möchte: hier (klick).
Heute aber preise ich das Nicht-Wissen, diesen wunderbaren Zustand, in dem unser Geist leer ist von allem, was wir gelernt haben, was man uns eingetrichtert hat, was wir auf keinen Fall vergessen wollen, weil man uns gesagt hat, dass wir es nicht vergessen dürfen. Im Zustand des Nicht-Wissens haben wir sogar uns selbst vergessen, unsere Sorgen, unsere Pläne, unsere Grübeleien über die Zukunft (unsere Sehnsucht nach Gewissheiten ...). Fangen wir bescheiden an, üben wir das Nicht-Wissen erst einmal für zehn Minuten. (Zehn Minuten können sehr lang sein. 😉)
Im japanischen Zen gibt es den Ausdruck shoshin. Er bezeichnet den "Geist des Anfängers", der jeden Moment wie zum ersten Mal wahrnimmt, auch wenn der Moment ihm etwas präsentiert, was er scheinbar schon hundert Mal gesehen hat. Das aber ist ein Irrtum. Da alles mit allem verbunden ist und jede Veränderung im Ganzen Veränderungen in jeder Einzelheit verursacht, ist jeder Moment neu, anders, und nur der Geist, der im Nicht-Wissen verweilt, nimmt die feinen Nuancen der Veränderung wahr.
Henry David Thoreau versuchte sich in allerlei Berufen. Er war Lehrer, Landvermesser und kurzzeitig sogar Fabrikant. Nach diesen kurzen Ausflügen in die Welt der Erwerbstätigen zog er sich 1845 in eine selbst gezimmerte Hütte an den Walden Pond in den Wäldern Massachusetts zurück: "Ich zog in die Wälder, weil ich bewusst leben, mich nur mit den wesentlichen Dingen des Lebens auseinandersetzen und zusehen wollte, ob ich das lernen konnte, was es mich zu lehren hatte. Ich wollte nicht auf dem Sterbebett einsehen müssen, dass ich nicht wirklich gelebt hatte." In den folgenden zwei Jahren wanderte er durch die Wälder, lauschte dem Sturm und dem Regen auf dem Dach und schrieb seine Tagebücher, die zu Lebzeiten kein Mensch kaufen wollte und die heute zur Weltliteratur gehören.
Thoreau war ein Meister des Nicht-Wissens: "Erst wenn wir all unser Wissen vergessen, beginnen wir, etwas zu wissen. Wenn du die Farne kennenlernen willst, musst du deine Botanik vergessen. Du musst deine sogenannten Kenntnisse über sie loswerden. Du musst dir bewusst sein, dass kein Ding deiner Vorstellung von ihm entspricht. Dein Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich."
Müssen wir also jahrelang meditieren oder Achtsamkeit praktizieren, um in den seligen Zustand des Nicht-Wissens zu kommen? Nein: Unser Zustand muss ein anderer sein als gewöhnlich. Dieser Zustand ist das Staunen.
Staunen über das, was ich sehe, höre, rieche, schmecke. Ich habe mein Wissen darüber vergessen. Es ist ohnehin ganz neu, denn so hat es noch nie ausgesehen, geklungen, gerochen, geschmeckt. Wenn ich staune, verweile ich im Nicht-Wissen. Ich gebe kein Urteil ab, ich vergleiche nicht, ich belege meine Wahrnehmung nicht einmal mit einem Namen, also einem Etikett. Der Name bezeichnet das, was ich schon kenne. Das hier aber kenne ich nicht.
Staunen ist untrennbar verbunden mit Wertschätzung. Vielleicht stelle ich nach ein paar Sekunden oder Minuten fest, dass mir das, was ich wahrnehme, nicht recht gefällt. Kein Problem, dann gefällt es mir eben nicht. Wertschätzung bezieht sich nicht auf den Wert, den der Moment für mich hat. Sie feiert vielmehr den Moment selbst in seinen zahlreichen Facetten, sie feiert seine Lebendigkeit, die überraschende, erstaunliche Vielfalt des Lebens.
Als ich meinen Salatkopf aus dem Hofladen entblätterte, staunte ich nicht schlecht. Er war bewohnt. Na sowas. Das Leben ist voller Überraschungen.
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