Nach dem Krieg lebten meine Mutter, mein Stiefvater und ich in einem Zimmer in einer alten Villa. Im ganzen Haus hatten sich solche nach dem Krieg Gestrandeten und Ausgebombten wie wir zusammengefunden. Zimmer an Zimmer, keine Bäder, Gemeinschafts-Toiletten auf dem Flur. Da schloss man sich einander an, man hatte ja ähnliche Schicksale. Meine Mutter wählte die Frau, die einen Stock über uns mit ihrem kleinen Sohn lebte. Frau Wende illustrierte Kinderbücher, und ich bekam von ihr Schätze, die, wie ich heute weiß, Belegexemplare waren: Bücher von Johanna Spyri, Bilderbücher und "Wir lesen die Uhr", das mich entzückte, weil auf dem Cover drehbare Zeiger aus Plastik waren. Am meisten liebte ich meine Anziehpuppe aus Pappe mit ihren Mäntelchen und Schühchen. Frau Wende entwarf auch Puppen für die Firma Schildkröt, und weil sie mich niedlich fand (ich war mal niedlich), dachte sie sich eine Puppe für mich aus und nannte sie Margrit.
Als die Puppe kam, war ich bitter enttäuscht. Sie hatte lange schwarze Zöpfe, aber ich hatte kein schwarzes Haar, und für Zöpfe war es zu dünn. Ich beklagte mich bei meiner Mutter mit den Worten: Das bin nicht ich. (Als Kind schon Zen praktiziert und erkannt, dass ein Abbild nicht die Sache selbst ist!) Trotzdem war ich aufgeregt und stolz, als MARGRIT im Schaufenster des örtlichen Spielwaren-Ladens saß.
Heute weiß ich, dass Ilse Wende-Lungershausen eine bekannte Illustratorin war, die unter anderem 1933 ein nationalsozialistisches Propagandabuch ihres Ehemannes Bernhard Wende illustriert hatte, aber das vertiefen wir hier nicht.
Die Puppen wurden mit einem Booklet beworben, und als ich neulich in einer Kiste stöberte, die ich jahrelang nicht geöffnet hatte, tauchte es auf. Die Prosa, die meiner Puppe und mir angedichtet wurde, will ich euch nicht vorenthalten, weil sie ein Ausdruck ist für die Erziehung, der wir Nachkriegskinder unterworfen waren. Ja, das hier war ernst gemeint.
"Mein liebes Kind, was wünschst du dir
zum Weihnachtsfeste denn von mir?"
fragt Großmama die Silvia,
und gleich ist auch die Antwort da:
"Ein Schildkröt-Püppchen wär für mich
die höchste Freude sicherlich,
weil schon das kleinste Püppchen man
nett kleiden und auch baden kann."
Großmama lächelt still und geht. -
Zum Christfest war dann ein Paket
mit einer großen Puppe da,
wie Silvia noch keine sah,
ein Bilderbuch dazu, drin stand
nur dieser Satz von Omas Hand:
"Die größte, schönste MARGRIT ist
dein Lohn, weil du bescheiden bist!
Drum, liebes Kind,
merk dir geschwind:
Zeig stets dich voll Bescheidenheit,
sie ist des Kindes Ehrenkleid!"
Mit Ergriffenheit sehe ich, dass ich mit vier Jahren die größte und schönste Margrit war. Das war das erste und dann auch das letzte Mal in meinem Leben.
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