Freitag, 6. Dezember 2024

Jan-Philipp Sendker "Akikos stilles Glück"

 

Manchmal fällt mir in der Bücherei ein Buch auf, weil es so ein schönes Cover hat. Sendker? Nie gehört. Aber: Japan! Also mitgenommen. Angefangen zu lesen. Und nicht mehr aufgehört.

Akiko, eine dreißigjährige Buchhalterin in Tokio, ist mit ihrem stillen Leben zufrieden. Wie alle gut bezahlten Büroangestellten arbeitet sie bis acht Uhr abends, isst in einem Kaiten-Sushi eine Kleinigkeit und fällt müde ins Bett, Tag für Tag. Eines Abends begegnet sie ihrem alten Schulfreund Kento, der ein hochbegabter Pianist war, aber inzwischen seit Jahren seine Wohnung nur noch nachts verlassen kann. Ein Hikikomori, der - schätzungsweise gibt es eine Million von ihnen - die moderne Gesellschaft mit ihrem Lärm und ihrer Hektik nicht erträgt. Ein Hochsensibler. Die beiden nähern sich behutsam einander an. Zwei, die Stille lieben und am liebsten allein sind und sich doch danach sehnen, von einem anderen erkannt und gesehen zu werden als die, die sie sind.

Kento stellt Akiko zwei Fragen: Wer bist du wirklich? Und: Magst du dich? Auf langen Spaziergängen durch das nächtliche Tokio versucht sie, Antworten darauf zu finden. Und dann entdeckt sie beim Sichten der Schriftstücke ihrer verstorbenen Mutter etwas, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellt. Sie ist nicht die, die sie zu sein glaubte. Wie aber kann sie sich finden?

Jan-Philipp Sendker war jahrelang Asien-Korrespondent des "Stern". Wenn ich nicht wüsste, dass er Deutscher ist, hätte ich vermutet: Dies hat ein Japaner geschrieben, oder besser noch: eine Japanerin, denn wenige männliche Autoren können sich in eine weibliche Hauptfigur hineinversetzen - und das Buch ist in der Ich-Form geschrieben. Sendker hat ein feines Gespür für die Zwischentöne und Gesten, die in der japanischen Gesellschaft so ungemein wichtig sind. Es gibt Szenen in diesem Buch, die uns klar machen, was japanische Höflichkeit wirklich ist: Aufmerksamkeit und Wertschätzung für den anderen und seine Grenzen, die zu wahren in einem so dicht besiedelten Land absolut notwendig ist. Was aber eben auch die Einsamkeit in den Großstädten verstärkt.

Einmal fährt Akiko nachts mit dem Taxi durch Tokio, einfach so, und der Taxifahrer - einer von der alten Schule, weiße Handschuhe, wahrscheinlich, sage ich mal, Häkeldeckchen auf den Kopfstützen (ich liebe japanische Taxis!) - schaltet irgendwann den Taxameter aus. Die junge Frau und der alte Mann hören leisen Jazz aus der Anlage, und dann nimmt der Mann sie um Mitternacht mit in ein winziges Lokal, in dem die Taxifahrer des Viertels eine Pause einlegen. Und kein einziger Missklang ist zu hören, kein Mann versucht, die junge Frau anzumachen, alle sehen sie an und wissen: Hier ist eine Frau auf der Suche nach etwas, was sie in dieser Nacht nicht finden wird, und man kann ihr auch nicht helfen dabei, aber man kann ihr ein paar gegrillte Hühnerflügel und Edamame-Bohnen anbieten, mit denen sie diese Nacht überstehen wird.

Ein wunderbares Buch. Nachdenklich, melancholisch, tröstlich, voller Wärme und federleicht geschrieben. Wenn ihr jemanden kennt, der Japan liebt, die Stille und die Behutsamkeit zwischen Menschen - schenkt es ihr oder ihm zu Weihnachten. Oder euch selbst.

Jan-Philipp Sendker "Akikos stilles Glück", Blessing Verlag, 24 EUR.

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1 Kommentar:

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