Dienstag, 31. Dezember 2024

Willkommen, Jahr.


 Feuerwerk 2025. Spar-Version.  


Da bist du also. Unspektakulär über die Schwelle getreten, wie es deine Art ist. Das Spektakel über deine Ankunft haben wir ja selbst veranstaltet. Frisch siehst du aus. Die Jugend ist immer so verheißungsvoll. Alles ist noch möglich. (Genau: Alles! Weiß und Schwarz und alle Töne dazwischen.)

Noch kennen wir einander nicht, aber das wird sich ändern. Du und ich sind Kollegen in diesem weltumspannenden Unternehmen namens Leben, und Kollegen (ich gendere brav: Kolleg:innen) haben einander nicht ausgesucht. Wir müssen zusammenarbeiten, ob uns das passt oder nicht. Ob wir beide zusammenpassen, wird sich erst im Lauf der Zeit herausstellen. Habe ich je mit einem deiner Vorgänger zusammengepasst? War es nicht immer ein eher mühsames Zusammenraufen, ein Verhandeln und Diskutieren, ein emotionales Auf und Ab bei mir? (Hat Deinesgleichen Emotionen?)

Mir ist klar, dass wir ein Machtgefälle haben: Du hast weitgehend die Befehlsgewalt. Du legst mir das Zeug auf den Tisch, das ich abzuarbeiten habe in unserer befristeten Zusammenarbeit. Ihr mit euren Dreihundertfünfundsechzig-Tages-Verträgen verschwindet programmgemäß, während ich diese Firma nicht verlassen kann. Das heißt, ich könnte schon, aber ich will nicht. Ich gehöre zu den Altgedienten, die noch immer an ihrem Sessel kleben, und habe so viele von euch kommen und gehen sehen, dass ich vergleichen kann. Ihr seid ja praktischerweise durchnummeriert, und ich habe für gewisse Dinge ein gutes Gedächtnis. Deshalb behaupte ich, dass deine Kollegen mit den niedrigeren Nummern irgendwie freundlicher waren als dein Vorgänger, den wir gestern verabschiedet haben. Nicht so gestresst. Wir hatten mehr Spaß miteinander, scheint mir. Dein Kollege mit der Nummer 1975 zum Beispiel hat mich auf meine erste Auslandsreise nach Südfrankreich geschickt. Ein anderer, die Nummer 1981, hat mir meinen ersten Verlagsvertrag für ein Buch besorgt und Nummer 1988 hat mir ein einjähriges Sabbatical in Rom gewährt. 

Wie konnte es passieren, dass ihr solch eine Herausforderung geworden seid? Ihr knallt uns Riesenthemen hin, für deren Bewältigung wir alle gar nicht ausgebildet sind. Krieg, Klimaerwärmung, Ressourcenknappheit, Terrorismus, Armut. Wir sitzen in unseren kleinen Büros und sind hektisch am Recherchieren, wie wir denn was und wo und wie auf einigermaßen sinnvolle und möglichst heilsame Weise nicht einmal lösen, nein, sondern einfach nur in Schach halten können. Gibt es eigentlich eine Konzern-Zentrale, die euch all das mit auf den Weg gibt? Und wenn ja, wo sitzt die und wie kann ich mich dort beschweren?

Du stehst in der Hierarchie höher als ich. Klare Sache. Einerseits.

Andererseits bin ich nicht mehr sechzehn.

Mach dich darauf gefasst, dass ich mit fortschreitendem Alter ungehorsamer werde. Das heißt: Ich werde mir genau anschauen, was du mir auf den Tisch legst, und prüfen, ob es in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Kann ich eine Lösung finden für die Konflikte in Gaza? Nein. Aber zum Frieden in meinem Mietshaus kann ich etwas beitragen. Ich werde auch die Dringlichkeit der Forderungen selbst entscheiden. In Ruhe, und langsam. Da bleibt sicher so einiges liegen, aber weißt du was? Das Liegengebliebene hat die Tendenz, sich von selbst aufzulösen, und wenn nicht, ist es auf handliche Größe geschrumpft. Alles, was mal riesig aussah, wird irgendwann zu einer kleinen Figur, mit der man spielen kann. 

Noch etwas. Das Betriebsklima in unserem Welt-Konzern ist schleichend immer schlechter geworden. Wut, Angst, mürrische Mienen überall, Resignation. Ich sehe die Gründe dafür, ich verstehe sie. Aber als Seniorin in diesem Betrieb lasse ich mir von niemandem diktieren, wie ich auf all die Missstände und Defizite - wie gesagt, ich sehe sie - zu reagieren habe. Ich beantworte meine Frage von oben: Deinesgleichen hat keine Gefühle, die kommen von uns. Es wird also nur meine Mitmenschen irritieren und möglicherweise empören, wenn ich bei ihrem Geschrei nicht mitschreie, bei ihrer Wut nicht mitbrülle und ihre Hoffnungslosigkeit mit einem Lied besinge. Ich meine auch nach Jahrzehnten noch, dass meine Antwort für das Betriebsklima einen Unterschied macht. 

Willkommen also, Jahr. Schauen wir mal, wie wir beide zusammenarbeiten werden.

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