Samstag, 30. November 2024

Die Granatapfel-Meditation


 

Du brauchst eine tiefe Schüssel und ein gutes Messer. Ein gutes Messer ist scharf, aber sensibel. Es folgt dir bedingungslos und geht nicht seiner eigenen Wege. Mit diesem Messer setzt du in die Schale des Granatapfels rundherum vier Schnitte, aber nur so tief, dass gerade die Schale angeritzt wird. Du hast ein sensibles Messer, das kann so was. Dann ziehst du vorsichtig den Granatapfel über der Schüssel in der Mitte auseinander.

Hör dir das an: Es klingt, als würde etwas Gewaltiges, Hölzernes bersten. Ein Hochwald vielleicht, durch den ein Orkan fährt, oder ein Dachstuhl. Und wenn die Schnitte genau richtig gesetzt waren, nicht zu tief und nicht zu oberflächlich, öffnet sich das Wabengewebe mit allen intakten Perlen. Zwischen den Wabenwänden sitzt jede Perle auf ihrem eigenen kleinen Sessel, in einer Versammlung von zweihundert selbstbewussten Einzelgängern, und wenn du eine Perle löst, bleibt auf ihrem Sitz ein kleiner roter Punkt zurück wie eine Wunde.

Die Banane ist eine zugängliche Frucht. Sie lässt sich ohne Umstände ausziehen, liegt anschmiegsam in der Hand und wölbt sich schamlos jedem Mund entgegen, aber der Granatapfel will nicht gegessen werden. Es ist mir schleierhaft, wie Adam und Eva im Paradies die Schale dieser Frucht knacken konnten, ohne die Perlen zu beschädigen. Vielleicht lag der Sündenfall ja darin, dass Adam mit brachialer Gewalt in die Wunderkammer eingebrochen ist. So wie in den Filmen auf youtube, in denen Köche den Granatapfel mal eben mittendurch hacken und zeigen, dass sie ihr Gewerbe in Blindheit und Taubheit ausüben.

Vielleicht wäre es den Granatapfel-Perlen lieber, in eremitischer Einsamkeit still vor sich hin zu faulen, aber wer einmal diese Köstlichkeit gegessen hat, wird das dem Apfel nie wieder erlauben. Du musst sie einzeln essen, Perle für Perle, und jede wird dir Widerstand leisten. Ihre Haut schützt ziemlich zuverlässig den kostbaren Inhalt, der aus jeweils einem einzigen Tropfen besteht. Aber was ist das für ein Tropfen! Er füllt deinen Mund mit Süden und Wärme, mit einer Sommernacht unter Sternen, und vielleicht siehst du Glühwürmchen taumeln und hörst Zikaden sägen mitten im nebligen deutschen Dezember.

Und da wir nicht mehr im Paradies leben, ist es keine Sünde, einen Granatapfel zu essen. 

Ich wünsche dir, was ein englischer Freund mir einmal wünschte, als er noch nicht gut Deutsch sprach: Ich wünsche dir einen sinnlichen ersten Adventssonntag.

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