Freitag, 14. August 2020
Jeder Augenblick ist ein Tempel (2. Teil)
Erschienen
in: EIAB Magazin, Europäisches Institut für Angewandten Buddhismus, Waldbröl, August 2019
Text und Fotos: Margrit Irgang
Dieser
Text wurde in der Vor-Corona-Zeit geschrieben, aber wenn ich die
abstrusen Behauptungen der Verschwörungstheoretiker, Rechten und
sonstigen Egozentriker aller Seiten höre und die Bilder der
Demonstrationen in Berlin und Stuttgart anschaue, erscheint mir der Text
sehr aktuell.
Wahrnehmung findet statt in einem weit offenen
Herzensraum, in den ich mein Gegenüber einlade, damit es sich
vertrauensvoll zeigen kann mit all seinen Bedürfnissen. Aber kaum ist es
eingetreten, ist es schon kein Gegenüber mehr. Wir beide sind in eine neue
Beziehung eingetreten, eine ziemlich nahe, und jetzt kann ich mich nicht mehr
heraushalten aus der Sache und sie nach Belieben beenden. Auf einmal geht mich
alles an, was den oder die andere angeht. Das kann sehr glücklich machen und
manchmal sehr wehtun. Auch diese Gefühle und viele andere, von deren Existenz
ich bisher keine Ahnung hatte, nehme ich jetzt in aller Klarheit wahr. Und was
für düstere Gedanken wandern da eigentlich in meinem Kopf herum?
So ist das mit der Wahrnehmung: Sie reißt alle von uns
künstlich aufgerichteten Grenzzäune ein und stellt uns in eine offene Weite.
Diese Weite hatte ich eigentlich gar nicht gesucht, sie verunsichert mich.
Irgendwie passen meine mir liebgewordenen Meinungen nicht mehr zur Situation,
meine Überzeugungen zerbröseln in Windeseile, alles in allem fühle ich mich,
ehrlich gesagt, ziemlich unsicher. In diesem Moment begegnen wir hoffentlich
einem Menschen oder einem Buch, die uns versichern, dass wir uns im wichtigsten
aller Zustände befinden, dem Zustand des Nicht-Wissens. Jetzt, genau jetzt,
kann das ganz Neue eintreten. Es kann eintreten, weil wir in unserer Praxis
gelernt haben, innezuhalten und genau wahrzunehmen, was in uns und um uns herum
geschieht.Wenn ich keine Trennung mehr erfahre zwischen „mir“ und „dem anderen“
- sei es ein Mensch, ein Tier oder die gefährdete Natur -, weiß ich auf einmal
ohne Zweifel, was zu tun ist.
Zu sehen wie Gandhi, Martin Luther King,
Thich Nhat Hanh oder heute vielleicht Greta Thunberg bedeutet, unmittelbar zu
handeln. Und Handeln heißt: Antwort mit dem eigenen Leben geben. Das muss
nichts Großartiges sein und findet bei den meisten von uns sicher nicht auf
weltpolitischer Bühne statt. Vielleicht teilen wir Suppe aus im
Obdachlosenheim, pflanzen einen Baum oder halten einfach schweigend die Hand
des Menschen, der das gerade braucht. Wir wissen, was zu tun ist, wenn wir der
Weisheit unserer inneren Stille lauschen, die uns mit der Ganzheit, dem großen
Intersein verbindet.
Ich bin in dem Alter, in dem man ab und an, vorerst noch
spielerisch, darüber nachdenkt, wie der Moment des Übergangs in das andere Sein
sich wohl anfühlen wird. Ich hoffe, mich wird eine nie erfahrene große Stille
aufnehmen. Meine innere Stille ist vorerst noch klein, aber sie spricht seit
vielen Jahren zu mir und sagt mir leise, was ich tun und was besser lassen
soll. In letzter Zeit ist sie etwas bedrückt. Sie findet Aktionen wie „Fridays
for Future“ sehr wichtig, befürchtet aber, dass die Menschen in Gefahr sind,
ihren inneren Frieden zu verlieren. Sie sehe, sagt meine Stille, viel Wut,
Erschöpfung und Depression bei Aktivisten, aber wenig Freude. Die Welt brauche
jedoch glückliche Menschen so nötig wie reine Luft.
Vor fast dreißig Jahren sah ich den Erntemond über Plum
Village aufgehen in einer Stunde der Stille und des Friedens. Die Welt in jenem
Moment war rund und vollständig, nichts fehlte ihr. Nichts fehlte mir. Heute
weiß ich, wie ich diese Stille auch inmitten des äußeren Lärms jederzeit
berühren kann. Dann ist die Welt für einen Moment wieder und noch immer voll
Schönheit und unbegreiflicher Größe. Eine Welt, die glücklich macht.
1 Kommentar:
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Liebe Margrit,
AntwortenLöschenSie haben eine so schöne Sprache! Sie beschreiben genau was ich fühle. Nur ich kann es nicht so schön ausdrücken, nur fühlen. Danke!