Er steht auf dem großen Platz, umringt von Menschen. Ein Campingstuhl mit buntem Bezug, ein riesiger Aufsteller mit seinem Foto und dem, was er hier anbietet: BLITZHYPNOSE. Kleiner darunter: kostenlos. Auf seinem T-Shirt steht vorsichtshalber "Spaßhypnose"; die Polizei patrouilliert hier gern, und wir haben schließlich Gesetze, die alles, was nur entfernt an das erinnert, was in Arztpraxen gehört, außerhalb von diesen verbieten.
Ein Zuschauer weiß nicht recht, ob er sich zu dem Spaßerlebnis entschließen soll, der Hypnotiseur redet, der Mann zaudert, der Hypnotiseur macht eine entnervte Handbewegung und wendet sich ab, der Mann will nun eher doch, vielleicht ist er in seinen Überlegungen schon zu weit gegangen, hat sich den Spaß schon zu lebhaft ausgemalt, um ihn ohne Bedauern aufgeben zu können, auch hat er sich wohl in den Augen der anderen Zuschauer schon zu weit vorgewagt in Richtung Stuhl, sicher spürt er die drängenden Erwartungen derer, die ihn umgeben, da will er sich vielleicht keine Blöße geben und als Feigling dastehen, also macht er beherzt ein paar Schritte nach vorn, wo auch gleich der Hypnotiseur steht und ihn mit einem Händeschütteln empfängt.
Er schwingt den rechten Arm des Mannes mit seiner Linken wie einen Pumpenschwengel, lebhaft kreisend, sehr herzlich, geradezu überschwänglich, ein fröhliches Begrüßungsritual unter allerbesten Kumpeln, die sich lange nicht gesehen haben, hey, Alter, toll, dich zu sehen, mit der Rechten klopft er ihm auf die Schulter und lässt ihn dabei nicht aus den Augen, überhaupt scheint der Augenkontakt das Entscheidende zu sein. Dabei murmelt er in einer beruhigenden, geradezu einschläfernden Tonlage Sätze, deren Wortlaut nicht zu verstehen ist, die reiner Klang sind, reine Frequenz, auf die nun offenbar der Mann, der bemurmelt wird, eingestimmt ist, und in einer weichen fließenden Bewegung sinkt sein Kopf auf die Schulter des Hypnotiseurs. Er schläft. Mitten auf dem lebhaften Platz an einem sonnigen Herbstnachmittag. An der Schulter eines ihm völlig Unbekannten.
Der flüstert nun in sein linkes Ohr, in so ein Ohr passt viel hinein, es bleibt ja nicht drinnen, sondern fließt wie durch einen Trichter in Geist und Körper und vor allem ins Herz, in das nicht so viel hineinpasst, aber sowas merkt man ja immer erst, wenn es zu spät ist. Der Hypnotiseur tippt nun dem Mann, der immer noch schlafend in Regionen weilt, in denen er hoffentlich den erwarteten Spaß hat, auf das dritte Auge und geleitet ihn in den Stuhl, wischt mit einer Handbewegung seine Assistentin herbei, das Weitere zu übernehmen, und ich denke, die Frau kommt mir bekannt vor. Was unwahrscheinlich ist, denn ich kenne keine Hypnotiseure. Aber dann dreht sie mir den Rücken zu, auf dem T-Shirt steht freundlicherweise - hier geht es absolut korrekt zu - ihr Name, und ich sehe, ich kenne sie sehr wohl. Vor vielen Jahren ist sie eine Zeitlang in die Meditationsgruppe gekommen, die ich damals leitete.
Sie hat also eine Praxis aufgegeben, die von einem Lehrer übermittelt wurde, der gesagt haben soll: "Seid euch selbst ein Licht." Der seine Schüler aufforderte, selbst zu prüfen, selbst zu denken und nichts anzunehmen, das nicht durch eigene Erfahrung als wahr empfunden wird. Ein Lehrer, der sich selbst nicht als Lehrer sah, denn was ist das für ein Lehrer, der dazu ermuntert, nur der eigenen inneren Autorität zu gehorchen. Sie hat diese Freiheit und Klarheit des Geistes - die nicht leicht zu erringen ist und erschreckend sein kann, weil man früher oder später für die erkannte Wahrheit einstehen muss, und das kann einen ziemlich einsam machen -, hat diese Möglichkeit der Befreiung also eingetauscht gegen die Suggestion.
Inzwischen ist der Mann im Campingstuhl erwacht und sieht erfreut aus. Vielleicht hat er ja etwas erlebt, das ihn bereichert hat. Ich kann mir das durchaus vorstellen; Menschen gehen unterschiedliche Wege. Hinter mir rauschen die Fontänen hoch. Es gibt dort so einen Springbrunnen, dessen in den Boden eingelassene Düsen minutenlang harmlos vor sich hinblubbern, um plötzlich und ohne Vorankündigung ihre Wassermassen in den Himmel zu schießen, und wehe, man steht gerade dazwischen. Dann kann man eine wertvolle Wahrheit erfahren: Gerade das, was so harmlos aussieht, so nach Spaß, kann sich blitzschnell ins Gegenteil verkehren.
An die Schulter des Hypnotiseurs sinkt gerade eine junge Frau. In einem Alter, in dem man noch so weich und beeinflussbar ist, so empfänglich für Suggestionen. Ich wende mich ab. Die Menschen gehen unterschiedliche Wege. Die Bedrückung, die ich verspüre, ist ganz allein meine.
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