Die Inseln Werd im frühen Morgennebel: Gemälde alter Meister. Es ist eisig kalt. Auf der alten Holzbrücke, die vom Festland auf die einzig bewohnte Insel führt, gehe ich durch ein Spalier von verschlafen blinzelnden Möwen, die erst mal abwarten, ob die Frau, die da naht, wirklich an ihnen vorbeigehen will. Sie will, und Möwe um Möwe erhebt sich lustlos in die Luft, als müsste sie das Programm "auffliegende Möwen beim Nahen von Menschen" erfüllen, nur um sich sofort einen Meter hinter meinem Rücken wieder auf dem Geländer niederzulassen.
Es sind franziskanische Möwen, also geliebte Tiere, und sie fühlen sich hier eindeutig zu Hause, im Schweizerischen Eschenz, genau an der Stelle, wo der Bodensee zum Rhein wird. Im Jahr 759 starb auf der Insel der aus politischen Gründen abgesetzte Abt St. Otmar von St. Gallen. Mönche bauten eine Wallfahrtskirche, und seit 1957 leben in dem kleinen Haus neben der Kapelle Franziskanermönche. Dem heiligen Franziskus, diesem großen Freund der Tiere, hätte es hier gefallen. Ich bin an diesem frühen Herbstmorgen allein mit den Möwen, den Schwänen, Blässhühnern und der Klosterkatze. Es ist inselstill, das Festland nur hundert Meter entfernt, aber weltenweit weg.
Die Kapelle ist von franziskanischer Schlichtheit. Weiß geschlämmte Wände, ein paar schöne Stühle aus hellem Holz. An der Wand hängt ein Gerät, das in pandemischen Zeiten draußen in der Welt ein Desinfektionsmittelspender wäre. Um Irrtümer auszuschließen, weist ein Schild darauf hin, dass hier eine andere Art Schutz zu erhalten ist: "Weihwasserspender".
Es ist warm geworden. Ein junges Paar ist gekommen, macht ein paar Photos mit dem Smartphone und verschwindet nach zehn Minuten. Gibt halt nicht viel zu sehen hier, wenn man Stadtaugen mitbringt. Nur eine sich putzende Katze, das träge ans Ufer schwappende Wasser, weit draußen der Kahn mit dem Angler, und hinter dem Haus gibt es ein Labyrinth, aber das haben sie nicht entdeckt, da hatten sie schon genug gesehen.
Auf dem Parkplatz vor der Holzbrücke ist ein Platz reserviert für "die Inselbrüder". Sie müssen sehr verinselt leben, ich habe keinen gesehen. Aber mir scheint, sie sind meine Brüder im Geiste, mit ihrer Liebe zu Tieren, zur Einfachheit und Stille. Ich lebe ja mit und von Sprache, der großen Kraft, die unseren Geist formen kann zum Guten und Furchtbaren. An diesem Herbsttag habe ich für mich eine neue Bezeichnung gefunden, die mich seitdem innerlich erwärmt.
Ich bin eine Inselschwester.
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