Samstag, 27. Juni 2015

"Wunderbare Unvollkommenheit"

Foto: Verlag Herder

"Yehudi Menuhin sagte einmal: 'Leben heißt Geige spielen zu lernen, während man ein Konzert gibt.'

Warum üben Sie Zen? Glauben Sie, eines Tages perfekt zu sein, erleuchtet, ein 'guter Mensch' (was immer Sie sich darunter vorstellen)? Was machen Sie mit Ihrem Leben in der Zwischenzeit? Wie gehen Sie um mit all der Unvollkommenheit, die Sie trotz Ihres Bemühens immer noch an sich bemerken? Verdrängen Sie Ihre Wut, ignorieren Sie Ihren Neid, verstecken Sie Ihre Habgier, Ihre Unsicherheit, Ihre tausend Ängste?

Wenn wir Zen üben, bekommt unser sorgfältig gehütetes Selbstbild Risse, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es eines Tages ganz zusammenbrechen wird. Wir stellen fest, dass wir nicht der dynamische, erfolgreiche, beliebte Typ sind, der in unserer Gesellschaft so gut ankommt. Wir sind nicht die Mischung aus Karrierefrau, liebevoller Mutter, guter Hausfrau und leidenschaftlicher Geliebter, die uns in einer Fernsehserie so imponiert. Das zuzugeben ist uns peinlich, und wir tun alles, um die Peinlichkeit zu überdecken. Wir ziehen in eine andere Gegend, verwenden viel Sorgfalt auf unsere Garderobe, treten einem Club bei und melden unsere Kinder in einer besseren Schule an.

Wenn wir Glück haben, geht uns eines Tages die schlichte Tatsache auf, dass es keinen Ort auf dieser Welt gibt, an dem wir uns verstecken können, und dass Verstecken auch nicht notwendig ist. Denn den anderen Menschen geht es ganz genauso wie uns. Wir alle lernen Geige spielen und führen währenddessen miteinander ein Konzert auf, das so schräg, schön und grauenhaft ist, dass wir, hätten wir wahrhaft offene Ohren, abwechselnd schaudern, jubeln und lachen müssten. Und jeder, wirklich jeder, hört, wenn wir danebengreifen.

Rauft sich ein Geiger die Haare, wenn ihm das passiert? Wirft er den Bogen in die Ecke, brüllt er sein Publikum an, bricht er das Konzert ab? Nein, er spielt einfach weiter. Der Augenblick unseres Fehlgriffs ist nur ein Augenblick, vergangen auf Nimmerwiedersehen. In diesem Augenblick aber gelingt uns ein wunderschöner Ton, der alle aufhorchen lässt."

(Aus: Margrit Irgang "Wunderbare Unvollkommenheit. Das Zen-Buch der Lebenskunst". Herder Verlag, ISBN 978-3-451-06740-2)
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