Quelle: Wikipedia org. |
Worum geht es im Zen? Es geht immer um das Erwachen zu unserem wahren Wesen. Die Übung, die zum Erwachen führt, kann ganz unterschiedlich sein - das stille Sitzen auf dem Kissen, das langsame oder schnelle Gehen in Raum und Natur und/oder die hellwache Präsenz in allem, was getan wird (Letzteres wird heute "Achtsamkeit" genannt). All dies bereitet eine große Erfahrung vor, die nicht unbedingt "schön" sein muss: Sie erschüttert vielmehr das Bild, das wir bisher von uns und der Welt hatten.
Viele Menschen, die keine Vorerfahrung im japanischen Zen haben, glauben, dass die Übung der Achtsamkeit in der Intersein-Schule von Thich Nhât Hanh nur dies sei: Langsames Gehen, Lächeln, Innehalten bei jedem Glockenklang und eine sehr umfassende Ethik. Mit ganzer Leidenschaft praktiziert, kann diese Übung jedoch zum Erkennen unserer wahren Natur führen! Als er Mitte Dreißig war, schrieb Thây, wie wir ihn nennen, ein Tagebuch. In Vietnam hatte er - enttäuscht vom offiziellen Buddhismus, der keine gelebte Erfahrung mehr war - mit Freunden ein Waldkloster gegründet. Dann ging er als Stipendiat an die Princeton University nach New Jersey, und dort hatte er eine Erfahrung, die er als Einblick in seine wahre Natur beschrieb. Solch eine Erfahrung kann man als Anfangsstadium des Erwachens bezeichnen, und natürlich wird sie für jeden Menschen anders aussehen. Die gute Nachricht aber ist, dass jeder Mensch fähig ist, diese Erfahrung zu machen.
Wer noch immer glaubt, "Achtsamkeit" sei ein Selbstzweck, um ein wenig gelassener, langsamer und gesünder zu werden, lese jenes Tagebuch.
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In diesem ersten Teil geht es (stark gekürzt) um die Erfahrung selbst, in meinem nächsten Post auf diesem Blog in ein paar Tagen wird es um die Konsequenz gehen, die Thây daraus gezogen hat.
"Es begann im Oktober. Zunächst schien es nur so zu sein, als zöge eine Wolke vorüber. Nach ein paar Stunden aber hatte ich das Gefühl, als würde sich mein Körper in Rauch auflösen und davontreiben. Ich verwandelte mich in einen kleinen Wolkenfetzen. Bislang hatte ich immer geglaubt, ich sei ein solides, fest gefügtes Wesen. Und plötzlich stellte ich fest, dass es mir an Festigkeit völlig mangelte.Das war keine philosophische Erkenntnis. Noch weniger war es ein Erleuchtungserlebnis. Es war nur ein ganz gewöhnlicher Eindruck. Ich erkannte: Das Wesen, das ich bisher für mein 'Ich' gehalten hatte, war nichts anderes als eine Täuschung. Meine wahre Natur, so wurde mir klar, ist viel unverfälschter, sowohl hässlicher als auch schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können. (...)
Ich erkannte, dass ich leer bin, leer von Idealen, Hoffnungen, Standpunkten oder Loyalitäten. Da gibt es keine Versprechen, die ich einhalten müsste. In diesem Augenblick schwand das Empfinden, eine Entität unter anderen Entitäten zu sein, das heißt, eine von anderen Seinsweisen getrennte und unabhängige Existenz zu haben; es schwand das Gefühl, getrennt zu sein von allem anderen, was ist. Mir war bewusst, dass diese Einsicht ihre Ursache nicht in Enttäuschung, Verzweiflung, Furcht, Begierde oder Unwissenheit hatte. Leicht und leise hatte ein Schleier sich gehoben. Das war alles.
Wenn du mich schlägst, steinigst oder sogar erschießt, wird all das, was gemeinhin als mein 'Ich' angesehen wird, zerfallen. Dann wird sich das, was wirklich ist, offenbaren - so zart wie ein Nebelschleier, so schwer fassbar wie die Leere, und dennoch weder Nebel noch Leere, weder hässlich noch nicht-hässlich, weder schön noch nicht-schön. In dem Augenblick hatte ich das tiefe Gefühl, zurückgekehrt zu sein. Meine Kleider, meine Schuhe, ja das innerste Wesen meiner Existenz waren verschwunden, und ich war so sorgenfrei wie ein Grashüpfer, der sich auf einem Grashalm ausruht. Wie der Grashüpfer, so machte auch ich mir keine Gedanken über das Göttliche."
(Aus: Thich Nhât Hanh "Der Duft von Palmenblättern", Herder Verlag, Freiburg. Das Buch ist vergriffen, aber z.B. über booklooker online noch erhältlich. In English: "Fragrant Palm Leaves", Parallax Press, Berkeley)
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