Das gibt es: eine Weihnachtsgeschichte, die nicht kitschig ist. Zwei Freundinnen betreiben ein Café. Die eine ist alleinerziehende Mutter, die andere, Mutter von zwei Kindern, hat vor Jahren ihren Mann verloren. Jede kann sich auf die andere verlassen. Ich kenne wenige Bücher, die eine Frauenfreundschaft so selbstverständlich und einfach erscheinen lassen. Vor Jahren haben sie ein marodes Haus im Odenwald gekauft, das vorerst unbewohnbar ist. Es braucht ein neues Dach, und innen fehlt es ohnehin an allem. Das Haus ist ihr Traum von gemeinsamen Sommern mit den Kindern in der Natur, aber sie haben kein Geld für die Renovierung. Da taucht kurz vor Weihnachten ein Fremder im Café auf, der im Moment nicht weiß, wo er hingehört oder wohin er gehen will. Der Fremde sieht aus, als sei er es gewohnt, kräftig anzupacken ... Zsuzsa Bánk "Weihnachtshaus", S. Fischer Verlag
Eine starke Geschichte über zwei Außenseiterinnen. Sally, die Abiturientin, ist aus der Psychiatrie davongelaufen; sie hat die Lügen und Kompromisse in der Welt der Erwachsenen satt und stellt sämtliche Regeln in Frage. Sie landet auf dem Hof von Lissi, die anders ist als ihre Eltern und Lehrer. Lissi beurteilt sie nicht, stellt keine Fragen, sondern bindet sie ein in den täglichen Ablauf ihres Hofes. Sally erntet Kartoffeln, hilft bei der Traubenlese und lernt im Obstgarten die alten Sorten schätzen, die Lissi anbaut. Ehrliche körperliche Arbeit, die ihr guttut. Langsam und nicht ohne Schwierigkeiten nähern sich die beiden Frauen einander an; zwei zutiefst Verletzte, die auf der Suche sind nach einem Leben, in dem sie die sein dürfen, die sie sind. Ewald Arenz ist Lehrer, und mit Sally ist ihm eine großartige Protagonistin gelungen: eine Siebzehnjährige voller Widersprüche, Wut, Stärke und Liebe zum Leben. Ewald Arenz "Alte Sorten", Dumont Verlag
Im Pfarrhaus im Banat leben Hannes, der deutsche Pfarrer,
seine Frau Florentine und Sohn Samuel. In Rumänien herrscht Ceausescu. Inmitten
von Verrat, Gewalt und Angst sind diese drei Menschen eine Insel der Ruhe und
Stille. Wie Freund Bene sehr viel später über Samuel sagen wird: „Es war eine
Schweigsamkeit, die aus langer Einsamkeit herrührte, und nur jemand, der mit
dem Alleinsein vertraut war, erkannte sie.“ Iris Wolff findet wunderbare Bilder
für Jahreszeiten und Landschaften; über das Banat sagt sie „diese Landschaft
lässt dich, wie du bist“. In dem Buch „geschieht“ nicht viel, obwohl es
Jahrzehnte einer Familie umfasst. Es ist vielmehr ein Lied über Weite und
Stille, über Einsamkeit und Zärtlichkeit und die Notwendigkeit, Raum zwischen
Menschen und Dinge zu legen, um sie besser sehen zu können. Große
Lese-Empfehlung! Iris Wolff "Die Unschärfe der Welt", Klett Cotta
Einmal steht das Kind Edgar im Flur, späht durch ein Schlüsselloch und beobachtet seinen Vater im Musikzimmer, wie er sich vor einem imaginären Publikum verneigt. Das ist eine Schlüsselszene: Zwischen weit älteren Brüdern und einem kleineren Bruder ist Edgar ein Dazwischen-Kind. Edgar Selge schreibt über seine Kindheit in den 1960er Jahren aus der Perspektive der Gefühlswelt eines einsamen, die anderen gnadenlos genau beobachtenden Kindes. Der Vater ist Gefängnis-Direktor, ein verhinderter Konzert-Pianist, und alle in der Familie spielen ein Instrument. Gelegentlich werden ausgewählte Strafgefangene zu einem Hauskonzert eingeladen, dessen Langeweile sie nur mühsam überstehen. Edgar macht seinen Eltern keine Freude. Er stiehlt Geld, klettert nachts aus dem Fenster, um ins Kino zu gehen, und wird vom Vater systematisch verprügelt. Dieser dennoch geliebte Vater scheut auch nicht vor sexuellen Übergriffen zurück, und der erwachsene Sohn ringt noch immer mit dem Gefühlschaos, das in ihm angerichtet wurde: "Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt." Großartig wird die Atmosphäre der Nachkriegszeit gezeichnet, in der die alten Nazis immer noch das Sagen haben und der anerzogene Hass auf die Juden in beiläufigen Sätzen immer wieder hochkommt: "Wie soll er damit umgehen, dass er mehr gewusst hat, als er zugibt?" Edgar Selge ist einer meiner Lieblings-Schauspieler; ich freue mich, dass er auch richtig gut schreiben kann. Edgar Selge "Hast du uns endlich gefunden", Rowohlt Verlag.
Erst mal die Nobelpreisträgerin: Olga Tokarczuk mit einem
leichtfüßigen, klugen und eigenwilligen Roman über die alte Janina
Duzsejko, die auf dem Berg im Winter die verlassenen Sommerhäuser der
Städter betreut. Eine kratzbürstige, aber sehr sympathische Dame, die
den Dichter William Blake verehrt, sich der Astrologie widmet (von der
die Autorin einiges versteht) und Tiere mehr liebt als Menschen.
Tokarczuk findet sehr schöne Bilder für Rehe, Hirsche, Hunde und Füchse.
Dann geschieht ein Mord, und leider dann noch einer. Zwar weiß ich
nicht, ob das nun wirklich nobelpreiswürdig ist, aber ich habe es gern
gelesen. "Gesang der Fledermäuse", aus dem Polnischen von Doreen Daume, Kampa Verlag
Ja,
ich lese auch Krimis. Unter einer Bedingung: Die Bösewichter dürfen auf
keinen Fall siegen. Und es muss eine Hauptfigur geben wie den
kultivierten und unbestechlichen Chief Superinspector Armand Gamache von
Louise Penny, der so altmodisch ist, an das Gute im Menschen zu
glauben. Im Allgemeinen spielen die Romane von Louise Penny im
kanadischen Dörfchen Three Pines, in dem eine hinreißende Truppe
eigenwilliger Protagonisten zu finden ist, auf die ich hier nicht
eingehen kann. Denn ich empfehle heute den 8. Fall von Gamache "Unter dem Ahorn",
und der spielt im Kloster bei den schweigenden Mönchen, die
gregorianische Choräle wie die Engel singen können, aber der Prior
musste vielleicht genau deshalb sein Leben lassen. Die Mönche haben mit
einer CD Ruhm geerntet und ihre Beschaulichkeit verloren, und jetzt
steht die Frage im Raum: Sollen sie eine zweite CD aufnehmen, in die
Welt hinaus gehen und dafür ihr Schweigegelübde brechen? Der kluge, nachdenkliche Armand Gamache ist der richtige Gesprächspartner für
den Abt und die Mönche. Im Grunde
ist dies kein Krimi, sondern ein philosophischer Roman über Musik, das Schweigen, das Seelenheil und die Frage, was wirklich zählt. "Unter dem Ahorn", aus dem kanadischen Englisch von Sepp Leeb, Kampa Verlag
Das Buch "Abendflüge" von Helen Macdonald habe ich bereits empfohlen. Wer meine Rezension im SWR hören will: hier (klick)
Ich würde mich freuen, wenn ihr hier in den Kommentaren schreibt, was ihr vielleicht von meinen Vorschlägen gelesen habt und wie es euch gefallen hat. Und auch, welche Buchtipps ihr weitergeben möchtet. Eröffnen wir doch ein kleines Büchergespräch.