Mittwoch, 29. Dezember 2021

Wir dürfen!


Gestern im Supermarkt an der Kühltruhe. Sie ist gefüllt mit Plastikschalen voll Himbeeren aus Marokko, Heidelbeeren aus Gewächshausanbau und drei dreilagigen Stapeln Käsekuchen in der Pappschachtel. 20 Stück, mindestens. Ein Ehepaar im fortgeschrittenen Alter studiert das Haltbarkeitsdatum und ruft den Mitarbeiter herbei, der gerade Orangen einsortiert. Die sind nicht frisch, sagt die Frau. Die laufen am 2. Januar ab. Der Mitarbeiter sagt, die seien heute früh geliefert worden, also seien sie frisch. Aber wir brauchen ihn erst am 1. Januar, sagt die Frau, und wir essen an so einem Kuchen schon eine Woche. Der Mitarbeiter ruft einen Kollegen herbei. Der sagt, das sei ja nur das Mindesthaltbarkeitsdatum, den Käsekuchen könne man auch im neuen Jahr noch essen. Das ist uns zu heikel, sagt die Frau, und ihr Mann nickt und bestätigt: Zu heikel. Na ja, sagt der erste Mitarbeiter, der zurück will zu seinem Orangen-Job, vielleicht könne man ja einen kleinen Nachlass geben, das Ablaufdatum sei schon recht nahe. Das wäre verführerisch, murmelt die Frau, und ihr Mann sagt: Ja, das wäre doch schön. Mitarbeiter Nummer zwei eilt, um den Filialleiter zu holen.

Und ich, die weitergeht durch die Regalreihen, weil ich mich in diesen Zeiten ja nicht länger als nötig möglichen Virenspreadern aussetzen will, bin total glücklich. Ich stelle mir vor, wie sich das Ehepaar jetzt erlaubt, berechtigt von einem unerwarteten Preisnachlass, die ersten ihrer winzigen Stücke vom Festtagskuchen schon am Mittwoch zu verspeisen. Und die nächsten an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag. Die sind so müde wie eigentlich wir alle nach zwei Jahren Pandemie, bei den beiden ist sicher die Luft raus, wie bei vielen von uns, aber jetzt gönnen sie sich etwas, was sie sich noch nie gegönnt haben. Weil sie es dürfen (es kostet nicht viel)!

Euphorisch kaufe ich meine Lieblingsschokolade, die mit den Salzmandeln, und denke, das darf ich jetzt! Ich darf auch auf dem Sofa liegen um 11 Uhr vormittags und vor mich hin träumen, ich darf schon morgens (eigentlich heilige Arbeitszeit) einen Zitronenkuchen backen und in der Arte-Mediathek die Serie über italienische Seen anschauen, am Nachmittag um drei zum Beispiel, bei einem Becher Tee.

Wir dürfen müde sein und keine Lust mehr haben. Wir dürfen den Wohnungsputz verschieben und uns trotzdem Besuch einladen oder im Gegenteil die eingeladenen Besucher wieder ausladen, wir dürfen beschließen, in diesem Jahr keine Nachrichten mehr zu hören/zu lesen/anzuschauen, wir dürfen rumhängen, rumbummeln, chillen und es uns gut gehen lassen, denn wir haben es verdient. 

Ja, das haben wir uns jetzt verdient. 

 

1 Kommentar:

  1. Liebe Margrit, was für ein wunderbarer Menschsein-Erlaubnis- SoSein-Text für alles, was uns (nicht nur jetzt) hilft, innen und außen sanfter zu werden. Danke dafür. Und ein frohes neues Jahr (die italienischen Seen sind mir noch gar nicht begegnet in der Mediathek - das werde ich ändern).

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